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Tagebuch Oktober 2022

1. Oktober 2022


Nachdem ich meine Vorräte an Wein von der Mosel seit dem späten Frühjahr ausgetrunken hatte, machten wir am Wochenende endlich einen Ausflug an die Mosel, um uns mit Wein wieder einzudecken. Den Weinkauf tätigten wir in einem Weingut in Alken, das wir vor zwei Jahren zufällig ausfindig gemacht hatten. Dort kauften wir mehrere Kisten Rotling, Riesling aus den Schieferterrassen, Pinot Blanc und einen lieblichen Auslese-Riesling, deren Qualität die gängigen Supermarktweine bei weitem überragte. Es war bereits um die Mittagszeit, als wir das Weingut, den Kofferraum unseres Autos voller Kisten Wein, verließen. Bei strömendem Regen beschlossen wir, die Mosel entlang in Richtung Cochem zu fahren, um entweder in Cochem oder auf der Wegstrecke dorthin etwas zu essen. Obschon die Scheibenwischer viel Regenwasser zu bewältigen hatten, hinderte uns dies nicht, die Schönheiten der Landschaft mit dem gemächlichen, Ruhe ausstrahlenden Fluss und den Felswänden, die zum Teil wie eine Wand vor uns standen, zu genießen. Rund zehn Kilometer vor Cochem besann ich mich darauf, dass ich den Ort Karden – der zur Bindestrich-Gemeinde Treis-Karden gehörte – in positiver Erinnerung hatte. Im romanischen Baustil besaß Karden eine der ältesten Kirchen im Moseltal, seiner Zeit war ich wenige Minuten zu spät gewesen, um die Kirche zu besichtigen. Um die Mittagszeit fuhren wir nun in den Ortskern hinein, gleichzeitig hofften wir, in dem Winzerort ein hübsches Restaurant zum Mittagessen zu finden, und nebenbei die Kirche besichtigen zu können. Auf dem Brunnen des Dorfplatzes begegnete uns alsbald der Heilige Kastor mit seiner Statue. Ihm sollten wir später zweimal wieder begegnen, das erste Mal im Restaurant „Am Stiftstor“, das im Stil einer Weinstube eingerichtet war und wo es uns ausgezeichnet schmecken sollte. Dort stand eine Holzfigur des Heiligen Kastor im Rücken unseres Esstisches. Das zweite Mal begegnete uns der Heilige Kastor bei der Kirchenbesichtigung, was gar nichts außergewöhnliches war, denn Kastor war der Kirchenheilige. Um das Jahr 400 hatte Kastor als Priester das Christentum im Moseltal verbreitet, um 800 war er heilig gesprochen worden, ein Teil seiner Reliquien werden in einem vergoldeten Schrein in Koblenz aufbewahrt, ein anderer Teil stand im Chor in Karden in einem vergoldeten Schrein aus Tannenholz. Der Heilige Kastor war also etwas besonderes, nicht nur in diesem Abschnitt der Mosel. Als wir unter die Bahnunterführung abbogen, um nach Cochem weiter zu fahren, fiel uns noch ein erstaunlicher Bau auf, der älter war als wir vermuteten. Es war ein romanisches Wohnhaus, wovon Fensteröffnungen auf die Zeit vor 1000 datiert werden konnten. Teile des Mauerwerks stammten aus dem 13. Jahrhundert, und das Gebäude diente auch heutzutage als Wohnhaus.

2. Oktober 2022


Mit dem verregneten Tag am Wochenende hatten wir gehofft, dass uns allzu große Touristenströme in Cochem erspart bleiben würden. Doch dem war nicht ganz so. Auf dem Parkplatz am Moselufer hatten Busse ihre Tagestouristen ausgeladen, und am Beginn der Fußgängerzone stellte sich die gelb gestrichene Bimmelbahn in den Weg, die auch Mosel-Wein-Express hieß und Touristen quer durch Cochem kutschierte. Die Fußgängerzone war voll, aber nicht rappelvoll, der Regen hatte aufgehört zu plätschern, und die Geschäfte hatten allesamt geöffnet. Den Rand der Fußgängerzone säumten Restaurants mit akzeptablen Preisen, es folgten nett aussehende Cafés, dazwischen der eine oder andere Weinkeller. Cochem machte also mit den Örtlichkeiten einen durchaus einladenden Eindruck. Wir passierten den Marktplatz mit dem Rathaus aus dem 18. Jahrhundert, ein hübscher, von Cafés eingerahmter Platz. Ein Stück dahinter schloss sich der Weg zur Burg hinauf an. Wir stiegen den steilen Anstieg über den Teerweg hinauf, vorbei an Weinbergen zur sogenannten Reichsburg, die älter ausschaute als sie in Wirklichkeit war. Erbaut um 1100, war sie zwar in ihren Ursprüngen eine mittelalterliche Burg, im pfälzischen Erbfolgekrieg war sie aber 1689 gesprengt und komplett zerstört worden. Im 19. Jahrhundert war es dann der Berliner Kaufmann Louis Frédéric Jacques Ravené, der die Burg kaufte und wieder aufbaute. Als wir oben an den Außenmauern der Burg angekommen waren, genossen wir den phänomenalen Ausblick auf den Mosellauf und die Innenstadt von Cochem, die sich zart an die Mosel schmiegte. Der Ausblick hatte den Anstieg gelohnt, hinter dem Burghof paarte sich das nachempfundene Mittelalter mit den Touristenscharen, denen wir nicht folgten zum Innenhof der Burg, sondern wir machten denselben Rückweg ins Tal hinab. In der Innenstadt von Cochem wollte ich noch einen Kaffee trinken, doch ich konnte die übrigen Mitfahrer nicht überzeugen. Anscheinend war ihnen nicht danach zumute, das Stück Moseltal noch etwas weiter auszukosten. Wer konnte vorhersagen, wann wir das nächste Mal in solch einem idyllischen Fleckchen Erde landen würden ? So machten wir uns wieder auf den Rückweg nach Hause, indem wir die Bundesstraße von Cochem zurück in Richtung Koblenz fuhren.

3. Oktober 2022


Mit zwei Bewohnern der Dreier-WG war ich unterwegs zum Schokoladenmuseum in Köln. Leider finden viel zu selten Aktivitäten statt, was die drei Bewohner zusammen unternehmen können. Drei Bewohner mit Handicap bewohnen das umgebaute Haus des verstorbenen Schwiegervaters, zwei Bewohner sind seit Jahresbeginn letzten Jahres dort eingezogen, und der dritte Bewohner hat seit April diesen Jahres seinen Vormieter abgelöst. Einmal im Monat wird gekegelt, einmal im Monat treffen sich die drei Bewohner mit einer größeren Gruppe im Pfarrheim des Nachbarortes, die Initiative dazu geht von mehreren älteren Frauen der Pfarrgemeinde aus. Darüber hinaus läuft wenig bis gar nichts, insbesondere hätten wir von den Betreuern der drei WG-Bewohner erwartet, dass sie die eine oder andere Aktivität ergriffen hätten. So hatte ich mich kurzerhand selbst mit den beiden Bewohnern in die Straßenbahnlinie 7 gesetzt, ich war mit ihnen zur Haltestelle Heumarkt gefahren und ein Stück zum Schokoladenmuseum zu Fuß gelaufen. Ich schätze das Schokoladenmuseum wegen der anschaulichen Darstellungen, wie aus den Kakaofrüchten, die in den Tropengebieten in Lateinamerika, Afrika und Asien an Kakaobäumen wachsen, Schokolade hergestellt wird. Zu sehen war dort, aus welchen Rezepturen Schokolade zusammengemischt wird und aus welchen Produktionsschritten die Herstellung besteht. Zu sehen war dort ebenso eine Produktionsstraße mit fertigen Schokoladenstücken, die man probieren konnte. Bestaunen konnte man den Erfindergeist, wie alte, wuchtige Maschinen um die 1900er-Jahrhundertwende die Anfänge der industriellen Schokoladenherstellung eingeleitet hatten. Obschon Kakaobohnen bereits seit dem 16. Jahrhundert über die spanischen Kolonialreiche importiert wurden, sollte es bis um 1870 dauern, dass Vollmilchschokolade, wie man sie heute kennt, unter der Zugabe von Milchpulver und jede Menge Zucker hergestellt wurde. Genau dies erzählte das Schokoladenmuseum, dass Schokolade als anfängliches Luxusgut für besser Betuchte mit der Massenproduktion erschwinglich wurde. Nachdem uns das Museum so viel interessantes über die Schokolade erzählt hatte, setzten wir uns in das Café mit dem phänomenalen Ausblick über den Rhein. Die markante Silhouette mit der Altstadt und dem Dom kuschelte sich unter dem blauen Himmel, Spaziergänger bummelten auf der Rheinpromenade unter den Kranhäusern, während der Rhein majestätisch vor sich dahin floß. Bei Kaffee und Kuchen genossen wir dieses Rheinpanorama.

4. Oktober 2022


Gestern hatten wir ein relatives Gemengelage, wie der Schwager zur Logopädie kommt und was mit ihm überhaupt los ist. Als ich vom Büro aus nach Hause kam, war meine Frau weg mit unserer Tochter zum Einkaufen in Bonn. Ich war also alleine mit unserem Sohn, ich schaute in der ZDF-Mediathek ein, zwei Precht-Sendungen und ließ die Dinge auf uns zukommen, was mit dem Abendessen los war. Bis mich eine SMS meiner Frau erreichte, sie hätte ihren Bruder telefonisch nicht erreichen können. Meine Frau muss am nächsten Tag arbeiten, ich wollte ins Büro, ihr Bruder hatte einen Tag frei und musste zur Logopädie im Nachbarort. Dabei sollte unsere Tochter ihn im Bus begleiten, damit er den Weg dorthin findet. Sonst hatten wir ihn mit dem Auto dorthin gefahren. Also fuhr ich an der Bushaltestelle vorbei und dann zum Schwager, zwischendurch klärte ich mit meiner Frau, welchen Bus er zu welcher Uhrzeit nehmen sollte und dass unsere Tochter zu Fuß zum Haus der Dreier-WG gehen würde, um ihn dort abzuholen. Schließlich bat mich meine Frau nachzufassen, wieso er telefonisch nicht erreichbar war. Wisse er nicht, antwortete er mir, das Telefon sei jedenfalls funktionsfähig. Dass er mit seiner Nicht-Erreichbarkeit den Tagesablauf erheblich durcheinander gebracht hatte, wurde mit erst bewusst, als meine Frau mit unserer Tochter zurück kehrte. Ihr Bruder hatte einen Tag Urlaub und sie wollte mit ihm und unserer Tochter in der Stadt nach Anziehsachen geschaut haben. Dazu hatte ihr Bruder anscheinend keine Lust, anstatt dessen verbrachte er lieber den ganzen Tag vor dem Fernseher. Meine Frau hatte mehrfach gewartet, weil sie ihn nicht erreichte, bis sie schließlich alleine mit unserer Tochter losgefahren war. Ziemlich spät, es war fast zehn Uhr, erreichte sie ihn doch noch telefonisch, und war dementsprechend sauer. Irgend wann beendete der Schwager mitten im Telefonat das Gespräch und legte auf.

5. Oktober 2022


Nach dem überaus trockenen Sommer zeigen sich nun doch einige Lichtblicke in unserem Garten. Die Stangenbohnen zeigen sich unbeeindruckt, selbst die Phase der intensiven Trockenheit haben sie gut überstanden. Auf den Beeten, wo die Stangenbohnen gemeinsam mit Broccoli wachsen, hatten wir Rasenschnitt des Nachbarn ausgeworfen, und in diesem Rasenschnitt hatte sich eine Kuhle heraus gebildet, nachdem wir regelmäßig jeden Abend jede Menge Wasser hinein gegossen hatten. Dadurch konnte sich das Wasser gut sammeln und zu den Wurzeln der Saatpflanzen vordringen. Nachdem die Trockenheit vorbei war, reiften die Stangenbohnen gut heran. Nun sind die üppig gewachsen, und die an den Bambusstangen hoch rankenden Pflanzen müssen wir gut sichten, damit wir keine Bohne übersehen. Die Ernte ist so gut wie nie zuvor in den vergangenen Jahren. Jedes Wochenende pflücken wir die Stangenbohnen an den Herbstwochenenden, gleich mehrere Siebe füllen sich damit, ebenso unser Gefrierschrank, und in den nächsten Monaten wir können uns auf jede Menge Bohnengemüse freuen.

6. Oktober 2022


So etwas gehört zum Alltag mittlerweile zwangsläufig dazu: Ruhepausen, Ruhezeiten, Auszeiten. Die Lebensqualität bemisst sich danach, inwieweit Phasen der Arbeit durch Phasen der Ruhe unterbrochen werden. Sehr bewusst schiebe ich solche Phasen ein, um aus dem alleinigen Status der Produktivität heraus zu kommen. Produktivität muss auch sein, um die Bedürfnisse des Arbeitgebers oder auch die Bedürfnisse von Familie, Haus, Garten zu Hause zu erledigen. Am Arbeitsplatz, in der Mittagspause, sind die Möglichkeiten vielleicht noch etwas vielfältiger, solche Ruhezeiten zu gestalten. Sind diese Möglichkeiten im Ort dann doch stark begrenzt, so bin – wenn der Arbeitsanfall es hergegeben hat – gerne mit der Straßenbahn nach Godesberg gefahren. Einige Fixpunkte habe ich gerne aufgesucht – wie etwa den Stadtpark, den Buchladen in der Fußgängerzone, das Café gegenüber dem Stadttheater oder den chinesischen Imbiss, der sich – wie der Zufall es wollte - nach unserem Kater Jumbo benannt hat. Zeitweise habe ich diesen Imbiss einmal in der Woche aufgesucht, und wenn ich Zeit hatte, bin ich zusätzlich durch die Fußgängerzone in den Buchladen hinein gegangen. Das Gericht mit der Nummer 55 hat sich zuletzt herauskristallisiert, das ist knusprige Hühnerbrust mit Ananas und süß-saurer Soße. Das schmeckt hervorragend und bringt meine Gehirnzellen wieder auf Touren. Ich genieße den Geschmack, ich koste die Zeit aus, ich ziehe den Stecker der Produktivität und bewege mich jenseits der Produktivität in Muße und lasse meine Gedanken schweifen.

7. Oktober 2022


Ein gewisser Hype um die Kirmes in unserem Ort ließ sich nicht leugnen, ein Hype, den vor allem der Schwager betrieb, nachdem er sich dann doch beruhigt hatte. Meine Frau hatte mit ihm herum geschimpft, weil er sie hatte hängen lassen sowie unsere Tochter. Danach war er nur noch bockig gewesen, das für die WG gekochte Essen des Mitbewohners hatte er abgelehnt, den Betreuer hatte er sitzen lassen, die abendliche Verabreichung der Augentropfen hatte er abgelehnt. Nun, auf der Kirmes, war er wieder umgänglicher. Täglich hatte er uns von der Kirmes erzählt, der ich selbst eher ablehnend gegenüber stand, weil sie nur aus Freßbuden, Bierbuden und wenigen Fahrgeschäften bestand. Im Laufe der Jahre war sie immer mehr zusammen geschrumpft, aber in diesem Jahr fand sie in den Nach-Corona-Zeiten wenigstens wieder statt. Nun, am Freitag Abend, gingen wir mit dem Schwager gemeinsam über die Kirmes. Wie in Vor-Corona-Zeiten, standen gewisse Mengen von Besuchern an den Bierbuden, die grellen Beleuchtungen der Fahrgeschäfte und der Kirmesbuden suchte ich zu ignorieren. Auf dem Marktplatz durfte ich einem gewissen Tiefpunkt der Kirmes zuhören: auf einer Bühne sangen und tanzten die Funky Marys, eine Karnevalsgruppe, die ich eigentlich ausgezeichnet fand. Aber die Lautsprecheranlage war dermaßen miserabel eingestellt, dass die Bässe die melodischen Stimmen übertönten, so dass der melodische Gesang nur noch dumpf einschlug. Danach drehten wir die Runde bis zum Parkplatz vor dem Netto-Supermarkt, wo der Autoscooter und die Raupe nebst diversen Bier-Buden aufgebaut waren. Durch das sehr rege Gedrängele konnte man nicht hindurch kommen, weil Fahnenschwenker des Junggesellenvereins ihre Künste zum besten gaben. Dort drehten wir zurück, der Schwager und ich aßen eine Krakauer, danach verspeiste meine Frau eine Portion Champignons. Unseren Durst löschten wir nicht an einer der zahlreichen Bier-Buden, sondern wir suchten das Restaurant „Zur alten Post“ auf und hockten uns in den Nebenraum mit der Theke. Dort besprachen wir ein wichtiges Ereignis, den Geburtstag des Schwagers. Er wollte eben in dem Restaurant seine Freunde zum Kegeln einladen und dort essen. Wir besprachen, wen er genau einladen wollte und machten mit der Inhaberin das Datum fest, den Tag seines Geburtstags. So hatten wir einen harmonischen Ausklang unseres Kirmesbesuches, der mit zwei großen Portionen Fritten endete, weil die Krakauer und die Champignons unseren Hunger nur zeitweise stillen konnten.

8. Oktober 2022


Meine Frau hielt unserer Tochter das Prinzip vor, an dem ich mich selbst jahrzehntelang vorbei gemogelt hatte: wenn man aus dem Haus geht, muss alles erledigt sein. Konkret ging es um das Thema, dass unsere Tochter in der nächsten Woche ihr erstes Vorstellungsgespräch für einen Ausbildungsplatz haben sollte. Dieses Vorstellungsgespräch sollte auf dem Gelände der Uni-Klinik statt finden, und wir wollten mit ihr zur Uni-Klinik fahren, um auf dem riesig großen Gelände das richtige Gebäude zu finden. Wie so oft, hatten wir sonntags morgens lange gefrühstückt, unsere Tochter hatte lange geschlafen und wir lagen schlecht in der Zeit. Als unsere Tochter kurz vor Mittag startklar war, kam genau dieses Argument, dass alles erledigt sein muss, wenn man aus dem Haus geht. Dieses Prinzip hatte ich in der Vergangenheit ganz bewusst ignoriert, und diese gegensätzlichen Haltungen von meiner Frau und mir erklärten gewisse Dissonanzen, wenn etwa in der Vergangenheit Kurzurlaube ins Legoland, Tagesausflüge oder Einkaufstouren in die Niederlande geplant waren. Die Wäscheberge stapelten sich, die Unterstützung fehlte im Haushalt. Spätestens, seitdem viel zu viel Hausrat aus dem Haus des verstorbenen Schwiegervaters bei uns herum stand, war an Aufräumen nicht mehr zu denken. Es waren all meine Rennradtouren gewesen, mit denen ich dieses Prinzip unterlaufen hatte, all meine Home-Office-Tage, an denen ich irgendwo in der Weltgeschichte unterwegs gewesen war, von Duisburg bis Aachen, von Koblenz bis Krefeld, und auch all diese EZA-Tage. Der Wink meiner Frau sollte auch in die Richtung unserer Tochter gehen, mitzuhelfen und meine Frau nicht alleine zu lassen beim Waschen, Bügeln und so weiter. Schließlich fuhr ich mit ihr alleine zum Gelände der Uni-Klinik auf dem Venusberg, so einiges mussten wir suchen, um das Gebäude zu finden, wo das Vorstellungsgespräch statt finden sollte, von dem einen Ende mussten wir zum anderen Ende fahren. Um die Sucherei am Tag des Vorstellungsgespräches zu ersparen, war dies nicht unwichtig.


9. Oktober 2022


Vier Tage lang, von Freitag bis Montag, sollte die Kirmes dauern, und nach dem Freitag hatte es sich am Sonntag so ergeben, dass Freunde mit uns über die Kirmes gehen wollten, dabei wollten wir den Schwager mitnehmen. Ihre Mutter und ihren Sohn hatten die Freunde mitgebracht, und der Gang über die Kirmes gestaltete sich ähnlich übersichtlich wie noch vor zwei Tagen. Die Strecke hatten wir einigermaßen schnell absolviert, bis wir überlegten, irgendwo etwas zu trinken. Ähnlich wie vor zwei Tagen, entschieden wir uns für ein Restaurant und gegen eine der zahllosen Bier-Buden, wobei wir diesmal das Restaurant am Marktplatz auswählten. Einladend offen stand die Eingangstüre, im Inneren saßen Menschen an wenigen Tischen, und wir wählten den großen Tisch aus, auf den wir direkt zuliefen. Bei mir durfte es alkoholisch sein, schließlich waren wir zu Fuß unterwegs, ich trank ein Weizenbier, der Schwager genauso, unser Freund trank ein Radeberger Pils, wobei er anmerkte, dass die Brauerei wohl zuletzt Pleite gegangen sei, wovon ich nichts wusste. Danach süppelte ich einen Weißwein, und allmählich regten sich Hunger-Gefühle am späten Nachmittag, wobei die Kellnerin uns längst die Speisekarte gebracht hatte, wohl wissend, dass wir sie früher oder später benötigen würden. Mein eigener Hunger war gegen 17 Uhr noch nicht so sehr ausgeprägt, so dass ich mich mit einer Zwiebelsuppe begnügte, bei den meisten musste es aber ein ganz normales Hauptgericht sein: die anderen aßen Hacksteak, Cordon Bleu oder Jägerschnitzel, zwei von uns aßen den gebackenen Camembert. Draußen hämmerte die Musik, die Bierbuden hatten sich gefüllt, und drinnen waren wir relativ abgeschottet von den Menschenmengen und dem Drang, dass sich alles einer grellen Feierlaune hingeben musste. Drinnen palaverten wir über dies und das, insbesondere reflektierten wir die anstehenden Theater- und Comedy-Vorstellungen, die wir gemeinsam besuchen wollten. Es war ein fröhlicher Nachmittag, den wir nach einigen Weinen, Bieren, Weizenbieren und auch antialkoholischen Getränken ausklingen ließen. Die Kirmes hatten wir auf unsere eigene Art und Weise genossen, ohne allzu sehr an dem Kirmestreiben beteiligt gewesen zu sein.

10. Oktober 2022


Meine Frau meinte, es sei ein Vormittag mit x gewesen. Die Augentropfen des Schwagers waren zur Neige gegangen, und da der Augenarzt des Schwagers in Urlaub war, mussten wir zu einem Augenarzt nach Troisdorf fahren. Allerdings waren wir viel zu spät und viel zu langsam am Vormittag gewesen. Meine Frau musste noch zum Haus der Dreier-WG, um die Krankenkassenkarte des Schwagers zu holen, unsere Tochter sollte noch zur Stadtverwaltung, um ihren Personalausweis abzuholen. Viel zu spät unterwegs, brachten wir unsere Tochter zur Stadtverwaltung im Nachbarort, da waren es fast 20 Minuten für 12, und bis 12 Uhr mussten wir in der Augenarztpraxis in Troisdorf das Rezept für die Augentropfen abgeholt haben. Wir fuhren noch in Richtung Troisdorf, der Uhrzeiger näherte sich im Auto aber immer mehr der Deadline von 12 Uhr, ab wann die Augenarztpraxis unwiderruflich geschlossen sein würde und erst nachmittags wieder geöffnet sein würde. Also kehrten wir um kurz vor dem Ziel zurück, um den Frust, vor einer verschlossenen Türe zu stehen, nicht ertragen zu müssen. Als wir nach Hause zurück gekehrt waren, erfuhren wir von unserer Tochter, dass sie einen Termin hätte vereinbaren müssen, so dass ihre Bemühungen ebenso erfolglos waren. Nix hatten wir erreicht und nix hatten wir geschafft. Nach unserem erfolglosen Vormittag mit x versuchten wir es nachmittags in der Augenarztpraxis in der Troisdorfer Fußgängerzone, wo wir diesmal das Rezept für die Augentropfen ausgehändigt bekamen. Für eine Stunde hatte ich den Parkschein gelöst, und die eine Stunde gestalteten wir etwas gemütlicher. Wir bummelten in der gleichzeitig großen und übersichtlichen Fußgängerzone. Klein und übersichtlich war der Modeladen, wo sich meine Frau zwei Oberteile kaufte und von zwei Damen bedient wurde, die etwas älter waren als wir. Weil noch etwas Zeit verblieb, setzten wir uns auf dem Rückweg zu unserem Auto in ein Eiscafé nach draußen und tranken einen Kaffee. Die herbstliche Restwärme war angenehm, die wärmende Sonne schien durch dichter werdende Schleierwolken hindurch. Auf dem Rückweg nach Hause warfen wir noch Einladungen ein zum Geburtstag des Schwagers, den er Anfang November feiern wollte.


11. Oktober 2022


Auf eine ausreichend großzügige Dimensionierung der Zeit hatten wir geachtet, frühzeitig waren wir losgefahren, frühzeitig hatten wir unsere Tochter aus ihrem Bett heraus geholt und wir hatten aufgepasst, dass sie frühzeitig startklar war. Schließlich wartete ein Ereignis mit extra hoher Wichtigkeit auf sie: sie hatte ihr erstes Vorstellungsgespräch. So wie wir mit unserem Auto losfuhren, standen uns fünfzig Minuten Zeit zur Verfügung, um unser Ziel auf dem Gelände der Universitätsklinik zu erreichen. Dabei hatten wir drei Tage vorher die genauen Örtlichkeiten auf dem Gelände uns angeschaut, um unser Ziel, das Gebäude A 09, ohne weitere Verzögerungen zu erreichen. So lagen wir ohne Staus gut in der Zeit. Um 9.30 Uhr sollte das Vorstellungsgespräch statt finden, um 9.15 Uhr waren wir vor Ort gegenüber dem Gebäude A 09 angekommen. Die Nervosität unserer Tochter war nicht von der Hand zu weisen, während der Autofahrt tröpfelten immer wieder Fragen heraus. Welche Art von Fragen man selber stellen sollte, ob und wie man die Hand schütteln sollte, wie man auf die Frage antworten solle, wie man sich fühle, wie viel früher sie sein dürfe und so weiter. Ich konnte wenig hindurch schauen und erahnen, was genau auf unsere Tochter zukommen würde. Ich drückte ihr ganz feste die Daumen, nahm sie beim Verlassen unseres Autos ganz fest in den Arm und wünschte ihr alles Gute. Bei ihrem allerersten Vorstellungsgespräch rechnete ich weniger damit, dass sie Erfolg haben würde. Bei unserem Sohn war es letztlich die Übung gewesen, nach einer Reihe von Vorstellungsgesprächen und Eignungstests den Dreh heraus gefunden zu haben. Nach mehr als zehn solcher Vorstellungsgespräche hatte er schließlich einen Ausbildungsplatz gefunden.

12. Oktober 2022


Wer nach den Ausprägungen des Wortes „Luftschloss“ sucht, der wird im Stadtteil Röttgen fündig werden. Dorthin hatte ich einen Abstecher gemacht, nachdem ich unsere Tochter zu ihrem Vorstellungsgespräch auf dem Gelände der Universitätsklinik Bonn gebracht hatte. Der Kölner Kurfürst Clemens August hatte bereits drei Prachtschlösser gebaut, in Brühl, im Bonner Zentrum und in Poppelsdorf. Ein weiteres Prachtschloss, das Schloss Herzogsfreude“ sollte sich mit einem „point de vue“ über eine gerade Schneise von Poppelsdorf über die Hänge des Kottenforstes von Ippendorf nach Röttgen erstrecken. Mitten in den Wäldern des Kottenforstes gelegen, sollten sich die Herzöge und der Hofstaat des Kurfürsten im Schlossneubau des Schlosses Herzogsfreude der Freizeitbeschäftigung der Jagd widmen. Schaut man auf das Jagdschloss Falkenlust in Brühl, war die Tätigkeit der Jagd nicht neu bei Fürsten und Herrschern, welche die Jagd als Zweckbestimmung des Menschen zur Nahrungsmittelbeschaffung in der Tierwelt formulierten. So wie man sich heutzutage wenig Gedanken macht über die Massentierhaltung, so betrachtete man die Jagd als vollkommen legitim. Und wie perfekt wäre das Jagdvergnügen, wenn dieses von einem repräsentativen Bau eines Schlosses umgeben wäre ? Doch so weit sollte es nicht kommen. Heutzutage ist an diesem Ort in Röttgen nur ein Luftschloss zu sehen. Die Straßennamen „Schlossplatz“, „Kurfürstenplatz“ und „Herzogsfreudenweg“ erinnern an die groß gewagten Pläne, an der Meckenheimer Allee steht eine Kapelle, die dem Schutzpatron der Jäger, dem Heiligen Hubertus, geweiht worden war. Und dann ist da noch dieses Modell an der Rückseite von ein paar Geschäften. Es zeigt, wie das Schloss Herzogsfreude hätte aussehen sollen, wovon das Hauptgebäude fertig gebaut worden war. Doch dann starb der Kölner Kurfürst Clemens August im Jahr 1761, und mit seinem Tod erlosch das Interesse seines Hofstaates an dem halb fertig gebauten Schloss im Kottenforst. Jahrzehnte lang wurde an der Baustelle nicht mehr weiter gebaut, bis die Wirren der Geschichte die Franzosen herbei riefen. 1794 vereinnahmten sie das Rheinland, 1804 versteigerten sie „les restes du château de Roetgen“, das waren Baumaterialien, die vom Schloss Herzogsfreude standen. Verwendung fanden diese Baumaterialien für den Ausbau der Festung Wesel, bis im Endeffekt nichts mehr übrig blieb von den Gebäudeteilen des halb fertig gebauten Schlosses. Wer die Schlösser des Kurfürsten Clemens August bestaunen will, der braucht in der Köln-Bonner Bucht nicht allzu weit zu fahren.

13. Oktober 2022


Mittags bis zum frühen Nachmittag Bummel durch Siegburg, vom späten Nachmittag bis in den späten Abend Steuern. Ich hatte Urlaub und meine Frau hatte arbeitsfrei, so dass wir beim Straßenverkehrsamt unsere neuen Führerscheine abholten. Zur Abholung hatten wir ein Schreiben des Straßenverkehrsamtes erhalten, ohne dass wir dafür einen Termin vereinbaren mussten. Dementsprechend dauerte die Abholung wenige Minuten, und danach schaute meine Frau in der Siegburger Fußgängerzone nach Schuhen, dabei tätigte sie den Kauf bei Tamaris. Sie schaute ebenso nach Anziehsachen, allerdings ohne etwas zu kaufen. Wir schlenderten durch die komplette Holzgasse bis zum Ende der Fußgängerzone, schauten in die Geschäfte zur linken und zur rechten Straßenseite hinein. Als Fixpunkt hatte ich eine Frittenbude kurz vor dem Marktplatz ausgemacht, die die Fritten so wie in Belgien aus frischen Kartoffeln zubereiteten. Wir befanden, dass Siegburg wegen der guten Auswahl an Modeläden gut zum Bummeln geeignet war, den Kaufhof und C&A hatten wir nicht einmal aufgesucht. Die Frittenbude mit den Fritten aus frischen Kartoffeln wertete die Gastronomie auf, der großzügige Marktplatz war ein immenser Ruehpol, und an der einen und anderen Ecke hatten historische Gebäude, davon war das älteste 1228 erbaut, die Zeiten von Zerstörung und Abriss überdauert. Siegburg hatte überdies ein Museum, die Servatiuskirche war in romanischem Baustil erbaut, Teile der Stadtmauer hatten sich erhalten – kurzum: die Zeugnisse auf der Vergangenheit reichten ziemlich weit zurück. Vom späten Nachmittag bis zum späten Abend erledigten wir dann in einem Rutsch unsere Steuern – inklusive der Anlage V für Vermietung und Verpachtung – was ich mittlerweile mehrere Monate vor mir hergeschoben hatte. Lange Zeit hatte ich den Bescheid der Festsetzungsstelle gesucht, den meine Frau abgeheftet hatte, dort war die Höhe der Abschreibungen für die Folgejahre festgesetzt worden. Dank der guten Ordnung meiner Frau und dank des Online-Bankings konnten wir alles zusammenstellen, was für die Anlage V benötigten. Handwerkerrechnungen, Mieteinnahmen, Nebenkosten, Abschläge zu den Nebenkosten, Kautionen, Erhaltungsaufwendungen, Zinsen. Ich war so vertieft in all die Belege und Unterlagen, dass ich nicht bemerkte, wie schnell die Zeit verstrich. Es war bereits weit nach neun Uhr abends, als wir feststellten, dass wir noch nichts zu Abend gegessen hatten.

14. Oktober 2022


Das Wetter passte so ganz und gar nicht zu den äußeren Bedingungen, die ich vorfand. Da ich mich gerne regelmäßig von der belebenden Atmosphäre von Cafés inspirieren ließ, gab es im Nachbarort ein ziemlich wichtiges Ereignis. Das Café Alexandra, das fein aufgemacht sehr gut meinem Café-Geschmack entsprach, hatte die Besitzerin gewechselt. Wie ich aus Gesprächen heraus gehört hatte, war die Tochter der Café-Besitzerin schwer erkrankt, so dass ihr die Zeit fehlte zur Fortführung des Cafés. Sie hatte eine neue Betreiberin des Cafés ausfindig gemacht, die das Café übernommen hatte. Dabei entsprach der Name des Cafés so ganz und gar nicht den äußeren Bedingungen, als ich mich in den Linienbus setzte und zwei Haltestellen später genau vor dem Eingang des Cafés ausstieg. Regentropfen fielen zögerlich vom Himmel, graue Wolken hingen tief und das bunte Laub auf den Bäumen vervollständigte die herbstlich-trübe Aufmachung. Der Gegensatz war krass, dass sich das Café bei den grauen äußeren Bedingungen „Sonnenschein“ nannte. Grüne und weiße und gelbe Luftballons signalisierten vor den Fensterflächen die Neueröffnung. Durch die Fenster hindurch spähend, war ich überrascht, dass das Café Sonnenschein reichlich voll besetzt war, an einem langen Tisch saßen quer durch das Café eine große Gesellschaft älterer Menschen. Was den Anlaß ihres Beisammenseins verband, das konnte ich nicht erahnen. Zufrieden stellte ich fest, dass sich das Innere des Cafés wenig verändert hatte. Der Thekenbereich war etwas umgestaltet worden. Drei Sichttafeln, die reichlich groß geraten waren, listeten das umfangreichere Speisen- und Getränkeangebot auf. An der ganzen Bestuhlung und Möblierung hatte sich indes nichts verändert. Das dunkle Furnier der Holztische signalisierte eine Bodenständigkeit, die cremeweiße Farbe der Stuhlpolster und der Bodenfliesen spiegeltn einen wohlwollenden Kontrast wider. In der wohlwollenden Atmosphäre trank ich einen Kaffee und aß ein Stück Himbeerkuchen dabei. Dabei hatte ich ein weiteres ungeahntes Erfolgserlebnis: der WLAN-Zugang funktionierte, und künftig würde ich das Café Sonnenschein womöglich als ausgelagerte Arbeitsstätte für meine Home-Office-Tätigkeit nutzen können.

15. Oktober 2022


Wir freuen uns auf einen Herbst der Comedy, des Kabaretts und des Theaters, weil wir insgesamt vier Veranstaltungen besuchen werden. Zu Wilfried Schmickler, Jürgen Becker und zum Contra Kreis Theater hatte ich in unserem Freundeskreis gefragt, wer mitkommen wollte. Zu Christoph Brüske hatte meine Frau die Initiative ergriffen. Zu viert werden wir am 31. Oktober bei Wilfried Schmickler dabei sein, zu fünft am 12. November bei Jürgen Becker. Mit sechs Personen werden wir uns am 4. Dezember ein Theaterstück mit Hugo Egon Balder und Jochen Busse anschauen, und am 11. Dezember hat meine Frau zehn Karten für Christoph Brüske organisiert, wofür wir sogar elf Interessenten haben. Weitere Aufführungen mit Konrad Beikircher oder Ralf Schmitz hätten auf dem Programm stehen können, doch zum einen müssen wir all die Karten bezahlen und zum anderen müssen wir auch den Terminkalender dafür frei haben. So freuen wir uns auf diese vier Aufführungen. Und wir hoffen, dass Corona nicht wieder sein Unwesen treiben wird und uns womöglich all die Freude vermasseln wird.

16. Oktober 2022


Reichlich viel Fachsimpelei beim Besuch der Mama. Ziemlich lange, seit den Sommerferien hatte ich dort nicht mehr vorbei geschaut, und nun war es, zum Ende der Herbstferien, wieder so weit, dass Zeit übrig blieb für einen solchen Besuch. In solch einem hohen Alter von 86 Jahren weiß man nie genau, wann es so weit ist, dass sich das Ende der Lebenszeit nähert. Trotz vieler Gebrechen und einer zunehmenden Verwirrtheit hatte die Mama tapfer durchgehalten, und genau einen solchen Eindruck eines unbändigen Lebenswillens, sich nicht unter kriegen zu lassen, machte sie auf uns. Dabei mochte es mein Bruder nicht einfach haben, wie er sich mit Pflegediensten, Krankenkasse und Ärzten herum schlagen musste. Doch diese Abhängigkeiten von Pflegediensten, Krankenkasse und Ärzten kannten wir ebenso vom Schwager, wo all die Klärungsbedarfe, Telefonate und bürokratischen Fallstricke kein Ende nahmen. Die Fachsimpelei ergab sich am Rande, nachdem die beiden ganz lange über all den Zeitaufwand für Pflege und Betreuung erzählt hatten, der so ungefähr einen Vollzeitjob umfasste. Die beiden fachsimpelten über die Post, dass mein Bruder nichts an seinem Arbeitgeber vermisste, bevor er in den engagierten Ruhestand gegangen war, während meine Frau nun aktiv hinter dem Postschalter stand. Die beiden dozierten über Fachbegriffe, die mir nicht unbedingt etwas sagten, zum Beispiel, dass ein Aufkleber für Einschreiben mit Rückschein weggefallen war, oder über die ZZV. Diese war das Kürzel für „Zahlungsanweisung zur Verrechnung“, womit mein Bruder ein größeres Ausmaß an Ärger verband. Mit diesen Zahlungsanweisungen bekam man Bargeld am Postschalter ausgezahlt, was die Arbeitsagenturen gerne nutzten zur Auszahlung des Arbeitslosengeldes. In Mönchengladbach-Rheydt, wo mein Bruder gearbeitet hatte, wurde zu Monatsbeginn, wenn die Arbeitslosengelder angewiesen wurden, der Postschalter geradezu belagert von Arbeitslosen. Viele Ausländer waren darunter, aber nicht nur bei ihnen, waren die Ausweise oft fehlerhaft. Sie waren abgelaufen, manchmal waren sie unleserlich oder auch unkenntlich, so dass die Auszahlung abgelehnt wurde. Dies führte zu massivem Ärger und teilweise zu tumultartigen Szenen. Heutzutage grinste mein Bruder über die Auszahlungsform der ZZV, in seiner aktiven Dienstzeit dürfte er an solchen Tagen mit einem mehr oder weniger starken Grummeln an seinen Arbeitsplatz gegangen sein.

17. Oktober 2022


Gestern, am frühen Abend, ereilte mich dieses unerwartete Gefühl, dass mir alles zu viel war. Noch am Tag zuvor, nach einer Woche Urlaub, hatte ich das entgegen gesetzte Gefühl, ein paar angenehme Dinge gemacht zu haben, die Arbeit links liegen gelassen zu haben, an einigen Tagen ausgeschlafen zu haben und mich gut erholt zu haben. Und nun ereilten mich Kopfschmerzen, ich bekam den Kopf nicht frei, und während des Kochens hatte meine Frau angerufen, ich solle sie nicht einplanen, weil sie mit dem Schwager ein Bier zur Beruhigung trinken müsse. Es hatte Ärger in der Werkstatt gegeben, nachdem er im Bus einer Mitfahrerin seinen Rucksack ins Gesicht geschleudert hätte. Diesen Ärger wollte sie mit ihm bei einem oder mehreren Gläsern Bier aus der Welt geräumt haben. Diesen unangenehmen Begleiterscheinungen schien sich mein Bio-Rhythmus anzupassen. Immer früher wurde es dunkel, bei künstlichem Licht hantierte ich in der Küche herum, und nach dem Abendessen mit den Kindern zappte ich in der 3SAT-Mediathek herum. Ich entdeckte in der Mediathek die Sendung „Sternstunde der Philosophie“ mit einem Interview mit Ronja von Rönne, die mich auf ARTE mit ihren Folgen der „Streetphilosophy“ fasziniert hatte. Mit all ihrem jugendlichen Schwung – sie war Mitte zwanzig – durch streifte sie Begriffswelten der Philosophie, sie war auf der Straße unterwegs und führte zahlreiche Interviews mit Freunden, Gleichgesinnten und gewissen Lebenskünstlern. Von ihrer Art zu leben konnte man vieles lernen. Im Interview mit der Moderatorin Barbara Leisch erzählte sie über ihr letztes Buch und ganz viel über Depression. Genau darum ging es in ihrem Roman, der autobiografische Züge trug, weil sie selbst unter Depressionen litt. Über mir lastete mehr die Schwere des Alltags als Depressionen, ich hatte Probleme mich zu konzentrieren. Noch in diesen Tagen hatte ich die Monate September und Oktober als diejenigen Monate gepriesen, die ohne die sommerliche Hitze erträglich waren und noch von einer abendlichen Helligkeit geprägt waren. An diesem Abend war die herbstliche Leichtigkeit dahin, ohne dass ich eine Erklärung dafür parat hatte und ohne dass irgend welche Ereignisse bei mir quer geschossen waren.

18. Oktober 2022


Mich selbst wieder herunter fahren und den Stecker zu ziehen, das gelang diesmal mit einer Tagesvisite in Koblenz. Während der Zugfahrt hatte es noch geregnet, und die Stühle und Tische im Außenbereich des Café Extrablatt waren noch nass. Die Temperaturen waren erträglich, so dass ich den Blick auf den Platz hinter dem Café bevorzugte. Ich räumte mein Tagebuch auf, da einige Tage dabei waren, wozu ich nichts geschrieben hatte. Ein wenig musste ich mir aus den Fingern saugen, zu manchen Einträgen hatte ich die Inhalte im Kopf, aber noch nichts zusammen geschrieben. Weitere Inhalte hatte ich in separaten Dateien abgespeichert, aber noch nicht in die Tage integriert. Koblenz ist so eine Stadt, bei der es bei jedem Spaziergang Neues zu entdecken gibt. Mit den Sehenswürdigkeiten wie der Rheinpromenade, den Kirchen oder den Plätzen hatte ich einige Fixpunkte, aber all die Örtlichkeiten sind übervoll mit Details. Und um diese Zeit, Mitte Oktober, sind die Touristenströme weitgehend abgeebbt, man findet Ruhe und Beschaulichkeit diesseits und jenseits von Rhein und Mosel. Als ich im Biergarten am Deutschen Eck das Buch über die 111 Orte, die man in Koblenz gesehen haben muss, auspackte, wurde mir klar, wie wenig ich von der Innenstadt wirklich gesehen hatte. Die Autoren hatten eine Struktur quer durch die Stadtgeschichte entwickelt, die Objekte zeigte und deren Geschichten erzählte. Ich hatte mich bei meinen Spaziergängen anders entlang gehangelt, an den Uferpromenaden von Rhein und Mosel, an den ältesten Besiedlungen rund um die Kirche St. Kastor, im Inneren der Kastorkirche und den anderen Kirchen oder auch rund um das Kaiser-Wilhelm-Denkmal mit dem Biergarten am Deutschen Eck. Diese Orte wollte ich nun hier und im nachhinein zu Hause aufarbeiten. Gerade um die Herbstzeit hatte ich Koblenz als wiederkehrenden Ort ausgewählt. In diesem Jahr sollte es Mitte Oktober sein.

19. Oktober 2022


In Koblenz war die Festung Ehrenbreitstein so eine gewisse Blase, die ich mir nicht angeschaut hatte, weil mich zum einen der hohe Preis abgeschreckt hatte, mit der Seilbahn über den Rhein zu fahren, und zum anderen, dass auf der linksrheinischen Seite die Vielzahl an historischen Bauten und Details so groß war, dass die Zeit für die Festung gefehlt hatte. Zweimal hatten wir dennoch die Festung kennen gelernt, das war bei der Bundesgartenschau 2011 und in den Jahren, als unsere großen Kinder noch klein waren, als Freunde uns die Festung gezeigt hatten. Zweifellos war sie imposant, sie war groß und weitläufig wie kaum eine andere Festung, die dem Festungsbau der Preußen zuzuordnen war. Dann waren dort noch Teile des Mittelrhein-Museums untergebracht, welche ich dann wohl aus allen Epochen bis zur Römerzeit verpasst hatte. Aber selbst von der Rheinpromenade aus ließ sich die oben über dem Rhein thronende Festung gut anschauen, sie beeindruckte aus dieser Perspektive mit ihrer Länge über den steil ansteigenden Hängen. Das wirkliche Ausmaß der Festung war aber hier unten vom Rhein aus nicht zu erahnen, oben auf der Festung konnte man sich regelrecht verlaufen. Das Gewirr von Gängen in den Kasematten war unübersichtlich, parkähnlich war das Wegenetz angelegt, die Festungsmauern reichten weit in den beginnenden Westerwald hinein. Von alledem konnte aus dieser Perspektive vom anderen Rheinufer nichts erahnen.

20. Oktober 2022


Vollkommen unbekannt war mir, dass ein bedeutender Philosoph des Mittelalters lange Zeit in Koblenz gewirkt hatte. Nikolaus von Kues, geboren 1401 in Bernkastel-Kues an der Mosel, war seit 1427 Dekan des Stiftes St. Florin in Koblenz. Lange Zeit lebte, predigte und schrieb er in Koblenz. Mit 15 Jahren hatte er in Heidelberg ein Studium Generale absolviert, danach hatte er in Padua den Doktor des Kirchenrechts erlangt. Später, nach seiner Koblenzer Zeit, ernannte man ihn zum Kardinal und Bischof von Brixen in Südtirol. Im Dienste mächtiger Kirchenmänner reiste er quer durch Europa, dabei hatte er sich in schwierigen Zeiten mit der Dekadenz, dem Machtmissbrauch, Kriegen und Zweifeln an der Papstkirche auseinander zu setzen. Widersprüche rissen auf zwischen dem christlichen Dogma und der Wirklichkeit. Dieses christliche Dogma war unantastbar, es durfte nicht angezweifelt werden, während die Erkenntnisse in eine andere Richtung gingen. So fasste Nikolaus von Kues seine Lehre vom Unwissen ab und ließ die Widersprüche, die sich auftaten, einfach stehen. In diesem Sinne war seine Lehre nicht einmal rückständig, da wir selbst heute bei jeder neuen technischen Neuerung auf Dinge stoßen, die wir wiederum nicht wissen. Niemand wird seine eigenen Wissenslücken schließen können, und in gewissem Sinne erreichen wir lediglich den Zustand eines Halbwissens, weil wir unseren ganzen Kosmos nie durch dringen können. Bezogen auf Gott, unterscheidet sich der Mensch durch Verstand und Vernunft. Der Verstand erkennt Widersprüche, die Vernunft soll diese in Einklang bringen. Gott ist aber ein in sich geschlossenes Ganzes, und weil es nicht gelingt, die Widersprüche in Einklang zu bringen, soll die Welt als ein Zusammenspiel von Gegensätzen betrachtet werden, die sich nicht logisch beseitigen lassen. Dabei steht Gott so weit über allem, dass wir Menschen nichts verbindliches aussagen können, Nikolaus von Kues nannte dies das Prinzip vom ausgeschlossenen Widerspruch. Er formulierte die Lehre der negativen Theologie, dass man in Gott alles erkennen kann und gleichzeitig sein Gegenteil. Weil es keinen Widerspruch geben darf und weil der Mensch ständig forscht und hinterfragt, ist der Verstand ohnmächtig in einer wissenden Unwissenheit, oder eine „docta ignorantia“ auf Lateinisch. Dem Menschen bleibt nichts anderes übrig, als sich den Zustand des Halbwissens einzugestehen. Die Dogmen der Kirche sind unantastbar – so wie es die Kirche über mehrere Jahrhunderte gelehrt hat.

21. Oktober 2022


Es war ein umwerfendes Ereignis, und dies in negativem Sinne. Rein per Zufall bekam meine Frau von dem Ereignis mit, als sie für ihren Bruder einen Tag Urlaub in der Behindertenwerkstatt beantragen wollte. Wegen des Vorfalls würde sich der soziale Dienst bei ihr melden, meinte die Chefin ihres Bruders. Was für ein Vorfall ? Sie wusste von gar nichts, so dass man sie erst aufklären musste. Ihr Bruder hätte im Zubringerbus zur Werkstatt einer Mitfahrerin seinen Rucksack ins Gesicht geschlagen, was er bereits zugegeben hätte. Als er von der Werkstatt zurück kehrte, war er innerlich aufgelöst, so dass er mit seiner Schwester ein Beruhigungsbier trinken musste und etwas essen musste. Beide rekonstruierten das Geschehen: er trug seinen Rucksack stets auf dem Rücken und nahm in im Bus nicht ab, also trug er ihn auch im Sitzen. So wie der Abstand der Sitzplätze war, konnte er seine Mitfahrerin allenfalls beim Umdrehen versehentlich im Gesicht berührt haben. Aber kein Stoß ins Gesicht, erst Recht kein absichtlicher, und genau dies war in der Werkstatt aufgebauscht worden. Verhörmethoden wie bei der Stasi mussten abgelaufen sein, indem man zu viert auf ihn eingeredet hatte, bis ihm kaum eine andere Wahl geblieben war als den Vorfall zuzugeben. Es war dann eher die überreizte Reaktion der Mitfahrerin, wobei die Busbegleiterin, die an anderer Stelle vorschnell mit ihrem Urteil gegenüber anderen Personen zu Werke gegangen war, eine weitere ominöse Rolle spielte. Danach liefen zwischen dem sozialen Dienst und meiner Frau einige Telefonate ab, um den Sachverhalt zu klären und richtig zu stellen. Irgend eine Art von Entschuldigung hat es aber in einem Zeitraum von einer Woche danach nicht gegeben.


22. Oktober 2022


Heute hatten wir erste Berührungspunkte mit dem Weihnachtsfest. September und Oktober sind ja gewöhnlich Monate der Ruhe, nach dem hitzigen und aufgeheizten Sommermonaten. Weihnachten liegt noch in weiter Ferne, die Tage sind noch ziemlich lange hell vor der Umstellung der Sommerzeit Ende Oktober, wenn die Dunkelheit zunehmend bedrückend wirkt. Lebkuchen und Christstollen sind bereits ab Ende August im Supermarkt zu haben, doch all die Weihnachts-Süßigkeiten habe ich wenig beachtet. Das Weihnachtsfest habe ich weg gedrückt, es schwebt noch nicht wie eine Obsession in meinem Kopf, dass die Zeitschiene bis zum Weihnachtsfest die Erledigungen des Alltags bestimmt. So haben wir dennoch bei unseren heutigen Wocheneinkäufen über die Weihnachtsgeschenke an unsere Kinder gesprochen. Ich wusste nicht einmal, was wir unseren Kindern zum letzten Weihnachtsfest geschenkt hatten. Das Gespräch über die Weihnachtsgeschenke ebbte ab und wendete sich in eine andere Richtung. Dann, vor der Supermarktkasse bei REWE, beim Betrachten der Weihnachtskalender, drehte sich das Gespräch in die Richtung des Weihnachtsfestes zurück. Was für Weihnachtskalender sollten wir unseren Kindern schenken ? Das Angebot an einfallsreichen Kalendern war groß, so zum Beispiel mit Haribo mit Ritter Sport Schokolade oder Schokolade von Lindt. Wir waren sogar so weit, dass wir Kalender aussuchen wollten. Doch dann entschied sich meine Frau wieder zurück. Eine Bestellung über das Internet sei günstiger, und momentan müsse man mit jedem Cent rechnen. So beendeten wir ohne Weihnachtskalender unseren Wocheneinkauf, schließlich hatten wir Ende Oktober noch etwas Zeit bis Weihnachten.

23. Oktober 2022


An diesem Tag sollte ich wie gerädert sein nach einem vollkommen unnützen Anruf um 7.20 Uhr. Um 10 Uhr sollte der Schwager abgeholt werden in seinen Urlaub, den er mit einer Gruppe im Spessart verbringen sollte. Damit alles seine Gänge nehmen sollte, hatte meine Frau ihrem Bruder den Wecker um 7 Uhr gestellt. Später, gegen 9 Uhr, wollte sie vorbei geschaut haben, ob denn alle Sachen im Koffer vollständig seien und ob nichts vergessen worden sei. Prompt klingelte um 7.20 Uhr das Telefon. Es war der Schwager, der voller Erwartungsdrang aufgestanden war, er wartete in der Küche, der Kaffee war durch gelaufen und es fehlten noch die Brötchen zu seinem Frühstück. Dieser Anruf traf mich mitten im Tiefschlaf, denn ich war erst gegen 1.30 Uhr ins Bett gegangen, nachdem ich noch eine Reihe von Musikstücken auf Youtube angehört hatte und mein Glas Rotwein leer getrunken hatte. Nach dem Anruf war ich wie gerädert und holte dem Schwager seine Brötchen. Einiges später, gegen 9 Uhr, machte sich meine Frau auf den Weg zu ihrem Bruder. Noch einiges später, es war fast 11 Uhr, rief meine Frau mich an. Es sei noch kein Reisedienst aufgekreuzt, ob ich denn auf dem Zettel auf dem Bügelbrett nachschauen könne. Ich teilte ihr die Rufnummer des Reiseleiters mit, dessen telefonische Rückantwort uns alle verblüffte. In der Reiseinformation habe sich ein Druckfehler eingeschlichen, ihr Bruder werde nicht gegen 10 Uhr, sondern gegen 15 Uhr abgeholt. Wir beide waren sprachlos, und mein Zustand, wie sehr ich gerädert war, verschlimmerte sich angesichts des Umstandes, dass der Anruf, der mich um 7.20 Uhr geweckt hatte, noch unnützer war. Der Tag hätte also gemütlich seinen Gang nehmen können, ich hätte in aller Ausgiebigkeit ausschlafen können, in Ruhe hätten wir zusammen sitzen und gemeinsam frühstücken können. Nun war alles wie abgebrochen und unorganisiert, um den Rest des Tages auf die Reihe zu kriegen. Nachmittags waren wir mit Freunden verabredet, um ihnen bei den Steuern zu helfen. Mittag- und Abendessen mussten wir noch zubereiten. Da meine Frau vor 15 Uhr beim Schwager sein wollte, konnte sie nicht mit zu unseren Freunden. Der ganze Tag war vermasselt, weil die Uhrzeit von 7.20 Uhr viel zu früh war zum Aufstehen. Ich war fortan wie gerädert und mit mir war nicht viel anzufangen.


24. Oktober 2022


Die unnütze Warterei auf den Reiseveranstalter, nachdem dieser uns über seinen Druckfehler aufgeklärt hatte, beendeten wir damit, dass wir das Grab der verstorbenen Schwiegereltern herrichteten. Die Grabpflege hat sich zu einer Art von Gewohnheit entwickelt, zweimal im Jahr, davon einmal im Frühjahr und einmal im Oktober kurz vor dem 1. November. Im Frühjahr bepflanzen wir das Grab mit Stiefmütterchen und dergleichen neu und im Oktober entfernen wir alles, was verwelkt ist. Teilweise haben wir im Oktober auch einen Gartenmarkt aufgesucht, wir haben Erika, andere Gewächse und ein Gesteckt gekauft und damit das Grab hergerichet. In diesem Jahr hat meine Frau ein Gesteck im Gartenmarkt in unserem Ort gekauft. Was in der vergangenen Jahren zu einer größer angelegten Aktion wurde, war diesmal vom Arbeitsaufwand her überschaubar. Was verwelkt war, haben wir entfernt, ebenso die herab gerieselten Blätter, dann haben wir auf der linken Seite des Grabes das Gesteck platziert. Der Zeitaufwand lag bei kaum einer halben Stunde, so dass wir wenigstens einen Teil der verlorenen Zeit sinnvoll genutzt haben.

25. Oktober 2022


Die Wanderung war bombastisch, sie führte durch ganz viele Weinberge, sie erfüllte die Erwartungen vollends und sie erinnerte mich – wenngleich ziemlich entfernt – an den Rotweinwanderweg an der Ahr. Das, was man entfernt auf der Autofahrt auf der Bundesstraße B42 zwischen Hammerstein und Leutesdorf erspähen konnte, entpuppte sich beim Durchwandern als eine sehr schöne Weinlandschaft, die sich über den Rheinsteig erwandern ließ. Das Panorama war fulminant, der Fluss war diesmal nicht klein wie die Ahr, sondern groß wie der Rhein. Die Weinberge waren ein ständiger Begleiter, zumindest bis zum Hammerstein, auf der Wegstrecke dorthin abgelöst durch eine Streuobstwiese und ein paar Waldstücke. Es war manches so wie an der Ahr, so die Beschilderungen der Weingüter zwischen den Rebstöcken, und das ausgreifende Weingut in der Rheinebene, von wo aus die Domäne bewirtschaftet wurde. Einstweilen stießen die Bahnlinie und die Bundesstraße durch den Talkessel, während ein Stück dahinter Schiffe auf dem Rhein daher tuckerten. An der Ahr trank man Spätburgunder, hier trank man Riesling, und kaum jemand dürfte diese Weinlandschaft zwischen Koblenz und Bonn kennen, und doch war ich nicht alleine an diesem Herbsttag auf dem Rheinsteig unterwegs, denn ich begegnete einer Reihe von Wanderern. Hammerstein, der nächste Ort, knüpfte nahtlos an den Weinbau an: Weinstuben und Weingüter reihten sich an der Dorfstraße aneinander.

26. Oktober 2022


Die Wanderung hatte ich in Leutesdorf begonnen, einem Weinort am Rhein, den wohl kaum jemand kennt. Die Rheinpromenade war hübsch, nett und beschaulich, auf der Rheinpromenade lag ein altes Zollgebäude, denn zeitweilig für weniger als ein Jahrhundert war dem Städtchen Leutesdorf das Zollrecht eingeräumt worden. Wesentlich größere Bedeutung, was die Erhebung des Zolls betraf, hatten aber die Städte Andernach und Linz gehabt. Sehr steil auf die Hänge des Westerwaldes führte der Wanderweg hinauf, der alsbald in den Rheinsteig überging. Bei der Bewältigung des Anstiegs schenkte ich besondere Aufmerksamkeit der Andernacher Pforte: das Städtchen Andernach war auf der anderen Rheinseite klar erkennbar, die Häuseransammlung lag hinter einem vorspringenden Felsen, das vom Brückenbauwerk der vierspurigen Bundesstraße B9 belagert wurde. Von der Höhe aus konnte man die Verengung der Andernacher Pforte erkennen. Beidseitig, von der linken und der rechten Rheinseite, umklammerten Felsen das Rheintal. In der einen Richtung, das war Bonn, rückten Felsen immer wieder an das Rheintal, in der anderen Richtung, das waren Neuwied und Koblenz, öffnete sich ein größerer Talkessel, von wo aus zögernd die Berge der Eifel und des Westerwaldes anstiegen. Über die Andernacher Pforte kursierten Theorien von Geologen. Als der Vulkan von Maria Laach vor rund 11.000 Jahren ausgebrochen war, floß das Magma in die Richtung des Rheins. An dieser kürzesten Stelle floß das Magma in den Rhein hinein, so dass sich dieser staute. Über diesen künstlichen Staudamm floß der Rhein hinweg und löste diesen im Laufe der Jahrhunderte wieder auf. Übrig blieb die Andernacher Pforte mit ihren Hebungen der Mittelgebirgslandschaften, wo sich die Hänge des Westerwaldes und der Eifel genau gegenüber stehen. In anderen Weinbauregionen ist Vulkangestein ein idealer Nährboden für die Weinreben. So auch hier, denn der Rheinsteig führte auf den Berghängen hinter Leutesdorf durch große Flächen von Weinanbau.

27. Oktober 2022


Ganz bewusst hatte ich Hammerstein als Etappe auf der Wanderung gewählt, weil ich Hammerstein auf einem früheren Post auf meinem alten Blog mit William Turner verband. 1817 hatte Turner eine Rheinreise unternommen, indem er in einem Stück die vierzig Kilometer von Remagen nach Koblenz gewandert war. Gemalt hatte er nichts, nur eine Bleistiftskizze der Burgruine Hammerstein hatte er gefertigt. 1840 schließlich wiederholte er seine Rheinreise, auf der er mehr Zeit mitbrachte, um weitere Skizzen und auch Gemälde zu malen. In diesem Jahr, 1840, gelang es ihm, den Felsen des Hammersteins mit all seiner Wucht zu malen. Ein monumentales Gemälde entstand, in wabernden Farben, in intensivem Licht, mit all der Wucht des Felsens und der Unumstößlichkeit der Ruine, die all ihre Erhabenheit zeigte, nachdem sie von 1105 bis 1125 die Reichskleinodien von Krone, Zepter und Reichsapfel aufbewahrt hatte. So wanderte ich auf den Felsen mit der Burgruine Hammerstein zu, die sich mit zunehmendem Verlauf des Wanderwegs versteckte, weil ich dem Weg ins Tal folgte. Ich hätte auch zur Ruine wandern können, doch angesichts der Schleifen über Höhen und Täler erschien mir die Zeit zu knapp, so dass ich den Weg über das Rheintal abkürzte. So nahm ich den Felsen mit all seiner Wucht vom Rheintal aus am intensivsten wahr. Er war so, wie William Turner ihn 1840 gemalt hatte: mit all seinen Urgewalten stürzte der Fels senkrecht hinab, die Farbgebungen der Felspartien wechselten von hellgrau nach schwarz, krass hob sich der Fels von der Schäfchenwolken am Himmel ab, im Rücken des Felsens passte sich das Grau der Kapelle St. Georg dem Farbspektrum an. Dahinter war der Ort Hammerstein wie eingekesselt von den weiter zurück liegenden Felsen des auslaufenden Westerwaldes, und in Sichtweite geriet der nächste Felsen, der senkrecht zum Rhein hinab fiel: das war die Felspartie des Rheinbrohlerley.

28. Oktober 2022


Als ich an dem vermasselten Tag mit dem Anruf um 7.20 Uhr nachmittags bei unseren Freunden die Steuern erledigt hatte, stoppte ich auf dem Rückweg wegen der herbstlichen Farben. Ich wechselte die Richtung an dem Kreisverkehr, der in unseren Ort führte. Statt nach links fuhr ich nach rechts in den Kreisverkehr, wo am Ortsrand ein Hofladen das anbot, was auf den umliegenden Feldern wuchs und gedieh. Die Erntezeit war vorbei, zumindest stand auf den Feldern kaum noch etwas, was man ernten konnte. So erfreute ich mich an all den Blumen, die auf den Feldern zum Selberpflücken standen, oder auch am Wegesrand, was wild blühte vor dem Panorama des Siebengebirges. Die Blumen zum Selberpflücken hatten seit Jahren System, zumindest wurden die Anbauflächen bereit gehalten, ich konnte allerdings so ungefähr nie beobachten, dass Menschen jemals Blumen gepflückt hatten. Hübsch sah das Feld von Blumen allemale aus. Ich atmete die Weite ein, schaute in der Ferne bis zum Siebengebirge und genoss die herbstliche Farbenpracht über den Feldern.

29. Oktober 2022


In diesen Zeiten des Klimawandels ist viel die Rede von Kipppunkten des Klimas, von Unumkehrbarkeiten und von exponentiellen Verläufen. Dass das Klimaziel der Konferenz von Paris – die 1,5 Grad Anstieg bis zum Jahr 2100 – nicht mehr erreichbar ist, das sagen mittlerweile sämtliche Prognosemodelle voraus. So fragt sich eine ganze Menschheit, was danach kommt. Wieviel Klimaerwärmung die Erde aushalten kann, dem ist genauso die Menschheit ausgesetzt. Inzwischen sind es nicht nur die brüllend heißen Sommer, die wir über uns ergehen lassen müssen, sondern auch in den gemäßigteren Monaten wie dem Oktober setzen sich die sommerlichen Temperaturen fort. Wir befinden uns in den letzten Zügen des Oktober, da kann man bei 25 Grad Außentemperaturen im T-Shirt flanieren, draußen sitzen Menschen und essen Eis. Sie lassen sich von der Sonne bescheinen, ein laues Lüftchen weht und es läßt sich gut aushalten. In einem Bereich deutlich oberhalb der 20 Grad-Marke setzt bei mir dann doch Unbehagen ein, weil es nicht mehr jahreszeitgemäß ist. Ich bin es gewohnt, zu diesen Zeiten die Jacke überziehen zu müssen. Im Haus muss man die Heizung aufdrehen, beim Fahrradfahren frieren die Finger oder der Nebel kühlt die Temperaturen herunter. Welches Ausmaß an Klimaerwärmung kann die Erde noch aushalten ? Ein Szenario, dass die Pole anfangen zu schmelzen, will ich mir erst gar nicht ausmalen.

30. Oktober 2022


In diesen Tagen und Wochen reflektierte ich die unterschiedlichen Identitäten: als Blogger, als Facebookposter, als Tagebuchschreiber … Bisweilen lehne ich mich an das 111er-Format an von all denjenigen Büchern, die in 111 Geschichten etwas über Städte, Landschaften, Meisterwerke und so weiter erzählen. Gerne bin ich unterwegs, und bei den Streifzügen unterwegs gibt es so manches über Dinge, die man unterwegs beobachten kann, zu erzählen. In einem durchgängigen Format finde ich die Identität lediglich als Tagebuchschreiber, dessen Themen neben persönlichen Ereignissen all die Beobachtungen unterwegs umfassen oder auch Auszeiten, die ich mir in Cafés oder im chinesischen Imbiss genehmige. Die Weisheiten sind sicherlich schmal und klein, bei den persönlichen Erlebnissen bin ich mir unsicher, wie treffend ich sie beschrieben habe, und bei all den Beobachtungen unterwegs fehlt mir bisweilen der Platz, gerne hätte ich sie umfassender ausgeführt. In Facebook zu posten, davon bin ich mittlerweile – nicht ganz – abgekommen, weil mir Oberflächlichkeiten widersprechen, nichts als schöne Bilder zu posten. So werde ich das Tagebuch vom Prinzip her in der bisherigen Form fortsetzen, die Facebook-Posts werden selten bleiben, und ich hege die Hoffnung, ein längeres Format in meinem Blog herunter schreiben zu können. Etwas Orientierung wird der 111er-Serie geben, philosophische Themen und ein übergeordnetes Konzept werde ich wohl nicht integrieren können. Das Gesamtkonzept, wie es weiter geht, ist offen. In der Vergangenheit ist eine Ausweitung der Blogs an fehlender Zeit gescheitert, so dass ich meine Identität auf den Tagebuchschreiber beschränken musste.


31. Oktober 2022


Zuletzt hatte ich die These aufgestellt, dass ich in meinem tiefsten Inneren ein Belgier bin. So ziemlich unsortiert, manche Strukturen habe ich im Kopf, die Strukturen müssen aber noch zusammengefügt werden, es muss nicht alles perfekt sein, innere Widersprüche sind erlaubt, dasselbe gilt für Fehler, es kommt auf das menschliche Miteinander an, nicht alles läßt sich auf die Mathematik zurück führen. All diese Thesen dürften Belgier besser beherzigen als wir Deutsche, so dass ich früher gerne gegen deutsche Tugenden wie den Fleiß, die Gründlichkeit, die Perfektion oder die Unermüdlichkeit gewettert habe. Im Grunde genommen habe ich nur eines gebraucht, was man in Belgien in Hülle und Fülle vorfinden kann: Cafés und Fritten. So kommt im Belgien mein Gehirn viel schneller auf Touren, die Gedanken sind klarer, inspirierend wirken dabei auch all die großen und wunderschönen Plätze. Da Belgien doch ein ganzes Stück von Deutschland entfernt liegt, liegt die letzte Stippvisite nach Belgien mittlerweile vier Jahre zurück, seiner Zeit hatte ich vier Stunden in Lüttich verbracht. Im Frühjahr packte mich die Sehnsucht, noch einmal nach Antwerpen zu fahren, doch das war sowohl mit der Bahn wie mit dem Auto effektiv zu weit. Als ich die Bahnverbindungen studierte, stellte sich allerdings Brüssel als machbar heraus. Eine Stunde fünfzig Minuten dauerte die Zugfahrt von Köln aus, einmal Umsteigen von Brüssel-Midi nach Brüssel-Centraal, von dort aus war man fußläufig in zehn Minuten im Zentrum. In Brüssel-Midi brauchte ich eine geraume Zeit am Fahrkartenautomaten, der nur Kleingeld und keine Scheine nahm, um die eine Station nach Brüssel-Centraal zurück zu fahren. Der Gang ins Zentrum war zu Fuß gut zu bewältigen, ich machte ein paar Schlenker und suchte die eine und andere Sehenswürdigkeit einzubauen. Alleine auf dem Marktplatz verweilte ich lange Zeit, weil es solche Plätze in solch einer Schönheit einfach nicht gibt. Hierzulande muss man sich behelfen mit kleineren Plätzen, die nirgendwo in solch einer Geschlossenheit verziert und heraus geputzt sind. Die Zeit, die zur Verfügung stand, war im Endeffekt mit dreieinhalb Stunden dann doch viel zu kurz geraten, unter anderem fehlte die Zeit, um Museen zu besichtigen. All diese Winkel und diese Geschlossenheit flämischer Bauarchitektur waren in Lüttich indes nicht vorzufinden, Antwerpen war umgekehrt zu weit, so dass sich die Fahrt in jedem Fall gelohnt hat.


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