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Tagebuch Januar 2024

1. Januar 2024


Würde das neue Jahr ein Krisenjahr werden ? Um die Mittagszeit war unsere schwangere Tochter aufgestanden, sie hatte an dem Esstisch in unserem Wohnzimmer Platz genommen. Und irgend wie war sie in sich zusammen gesackt, wortlos, verzweifelt, traurig. Meine Frau brauchte eine längere Zeit, um heraus zu finden, wo der Schuh drückte. Wieso wir ihr Kinderzimmer nicht renovieren würden. Bereits vor fünf Jahren hatte sie geäußert, dass sie gerne eine neue Tapete hätte. Das nächste Objekt sei nun das Gästezimmer, während ihr Zimmer uninteressant sei. Meine Frau versuchte ihr zu erklären, dass ich kein geschickter Handwerker sei, und sie selbst müsse sich mit ihren Renovierungswünschen genauso hinten anstellen. Das schien unsere Tochter so halbwegs zu verstehen, ihre Traurigkeit blieb aber. Pessimismus hatte bereits vorher, gegen 11 Uhr, überwogen, als ich meiner Mama ein frohes neues Jahr gewünscht hatte. Kurz nach Mitternacht war mir dies nicht gelungen, was gewöhnlich mein erster Telefonanruf im neuen Jahr gewesen war. Sie war müde und hatte bereits im Bett gelegen, nun beschrieb sie ihren Zustand so, dass sie völlig daneben sei. Ihre Schwester (meine Tante) war gerade bei ihr, um ihr ein frohes neues Jahr zu wünschen. Darüber hinaus war ihr schwindlig, und sie habe Angst, erneut zu stürzen. Sie wolle nur noch schlafen und habe keinen Appetit mehr. Ihre Sätze waren unzusammenhängend, sie wiederholte sich und wusste nicht mehr, was sie vorher gesagt hatte. Es war wohl unvermeidbar, dass ihre Gebrechlichkeit kurz vor ihrem 88. Geburtstag immer mehr zunahm. Den Neujahrstag verbrachten wir mit nichts besonderem, und wir waren bei unserem Versuch erfolglos, zwei Lampen, die die Form einer Wolke hatten, an die Wand im Kinderzimmer zu kleben. Das Montageband, das wir bei toom besorgt hatten, klebte zunächst, doch später lösten sich die Lampenschirme und fielen von der Wand herunter. Einen Lampenschirm befestigte meine Frau danach mit UHU-Alleskleber, bis heute hielt die Lampe zumindest an der Wand. Beim Abendessen hatte ich schließlich eine Situation, die mich warnte, dass das Jahr 2024 ein Krisenjahr werden könnte. Wir hatten uns durch gerungen, neue Möbel für das Gästezimmer zu kaufen und dieses neu tapezieren zu wollen. Nach einer passenden Rauhfasertapete hatten wir bei toom bereits geschaut. Für die Renovierung drängte die Zeit, und um die Mittagszeit, als Begrüßung des neuen Jahres, hatten wir bereits die Diskussion mit unserer Tochter gehabt, wieso die Renovierung des Gästezimmers Vorrang habe vor ihrem Zimmer. Mangels vorhandener Fertigkeiten, brauchte ich aber die Hilfe unseres Sohnes beim Tapezieren. Als ich beim Abendessen um seine Mithilfe bat, äußerte er, dass er „raus sei“. Ähnlich hatte er sich bereits vor Weihnachten geäußert, dass er die Notwendigkeit nicht sah, neue Möbel für das Gästezimmer anzuschaffen. Er betrachtete dies als Geldverschwendung und verweigerte nun seine Mithilfe. In diesem Dilemma sprang dann noch meine Frau mit ihren Standpunkten hin und her. Ursprünglich hatten wir beim Kauf der Möbel im Möbelhaus in Erwägung gezogen, nicht zu tapezieren und das Gästezimmer so zu belassen. Im Verlauf des Dezembers wechselte meine Frau ihre Sichtweise, an einigen Stellen sehe die Tapete nicht mehr so hübsch aus, so dass wir neu tapezieren sollten. Zwischen Weihnachten und Neujahr begann meine Frau mich zu drängen, als ich im Baumarkt war, wieso ich keine neue Tapete mitgebracht hätte. Nun, bei meiner Bitte um Mithilfe an unseren Sohn, äußerte sie, ob wir tapezieren würden oder nicht, hinge von mir ab, weil es meine Idee gewesen sei. In der Familienrunde des Abendessens erdete ich das Thema so, dass ich die Notwendigkeit des Tapezierens noch einmal prüfen wollte. So sicher der Nachwuchs unserer Tochter sein würde, so ungewiss waren die Vorgehensweisen im Gästezimmer. Da war noch vieles zu klären …



2. Januar 2024


Parallelität der Ereignisse in der Bäckerei und in der Apotheke. Auf den Weg ins Büro, als ich morgens in der Bäckerei mein Röggelchen und einen Kaffee mit der EC-Karte bezahlen wollte, streikte das Kartenlesegerät. Karte abgelaufen, diese Fehlermeldung spuckte das Gerät aus. Als ich auf die EC-Karte schaute, stellte ich fest, dass die Fehlermeldung ihre Berechtigung hatte, die EC-Karte war nämlich tatsächlich abgelaufen. Fest und unverrückbar war das Gültigkeitsjahr 2023 eingraviert. Was tun ? Glücklicherweise hatten wir ein zweites Girokonto bei einer weiteren Bank, so dass ich mit dieser EC-Karte bezahlen konnte. Mein Gedächtnis schwand allerdings, ob ich denn eine neue EC-Karte der ersteren Bank erhalten hatte. Als ich vom Büro nach Hause zurückkehrte, brachte der Poststapel in der äußersten Ecke der Küchenanrichte Licht in die Ansammlung diverser Karten. Unter noch nicht eingereichten Arztrechnungen, Schreiben von Banken zu allgemeinen Geschäftsbedingungen und so weiter befand sich genau diese EC-Karte. Die Versorgung mit Bargeld war somit sicher gestellt. Bis Frau und Tochter eintrafen, sollte es noch eine Weile dauern. Sie waren in die Stadt gefahren und gingen einer Beschäftigung nach, die zukünftig in eine Regelmäßigkeit übergehen würde. Sie hatten nach Anziehsachen für das noch nicht geborene Baby geschaut, insbesondere nach leichteren Anziehsachen, da warme Winterbekleidung ausreichend vorhanden war. Diverse weitere Accessoires wie Spiegel, Zahnputzbecher zum Ankleben auf die Badezimmerwand oder eine schicke Handtasche hatten die Damen bei der Einkaufstour gleich mitgenommen. Beim Gespräch mit meiner Frau fiel mir ein, dass ich mit dem Schwager gesprochen hatte. Meiner Frau teilte ich mit, dass er sein e-Rezept für Augentropfen in der Apotheke abholen könne, wobei er seine Krankenkassenversicherungskarte mitnehmen müsse, diese Daten würden über ein Lesegerät bei einem e-Rezept eingelesen. Dazu entgegnete meine Frau, dies habe sie längst erledigt, allerdings habe sie dabei ein ähnliches Erlebnis gehabt wie ich mit der EC-Karte. Für Medikamente hatte der Schwager nämlich einen Befreiungsausweis, dass er von Zuzahlungen befreit war. Diesen Befreiungsausweis legte er zusätzlich zu seiner Krankenkassenkarte vor. Und als meine Frau das Medikament für den Schwager in der Apotheke abholen wollte, war die Gültigkeit des Befreiungsausweises abgelaufen. Der Befreiungsausweis für 2014 lag zu Hause noch in einem Poststapel. So musste denn meine Frau nach Hause zurückkehren, sie suchte und fand den Befreiungsausweis und erhielt danach die Augentropfen in der Apotheke, ohne zuzahlen zu müssen. Parallelität der Ereignisse. Die Versorgung unserer Familie ist nun sichergestellt, bei mir sind es fehlende Zahlungsmöglichkeiten, beim Schwager sind es Medikamente.



 3. Januar 2024


Etwas ernüchtert registrierte ich die gestiegenen Kaffeepreise in Cafés. Vorgestern in der Mittagspause im Eiscafé war ich bestürzt darüber, dass der Preis für eine Tasse Kaffee die Schallgrenze von drei Euro überschritten hatte. Nun erneut dasselbe bestürzende Erlebnis. Im alten Jahr hatte in diesem Café ein Kaffee 2,90 Euro gekostet, nun waren es satte 3,90 Euro, vorgestern waren es im Eiscafé 3,40 Euro gewesen. Im alten Jahr gab das Café Extrablatt den Spitzenreiter in der Innenstadt mit 3,10 Euro ab. Dieser Spitzenpreis war nun beim weitem überschritten. Die Ursache dafür war in der gestiegenen Mehrwertsteuer zu suchen, der auf 19% angehobene Mehrwertsteuersatz schien so etwas wie den Anstieg von 2,90 Euro auf 3,90 Euro auszumachen. Als Verbraucher werden wir an anderen weiteren Stellen zur Kasse gebeten: Tanken wird wegen der gestiegenen CO2-Besteuerung teurer, durch die wegfallende Strompreisbremse steigen die Stromrechnungen. Klar ist, dass die Verantwortlichen sich etwas einfallen lassen müssen, um ihre Finanzen in Ordnung zu bringen. Und klar ist, dass es jemanden geben muss, der diese Beträge zusammen kratzt, wobei dieser anonyme Jemand gerne der Verbraucher ist. Ein wenig schimpfe ich in diesem Zusammenhang auf die Proteste der Bauern. Dort ruderte die Regierung nämlich zurück – zumindest zum Teil. Die Besteuerung von Agrardiesel wurde auf der Zeitschiene in die Länge gestreckt: sie müssen nicht sofort zahlen, aber später. Der Dissens liegt darin, dass die Gastronomen ihre Mehrwertsteuer erhöhen müssen, während die Verantwortlichen bei den Bauern einlenken, weil sie protestieren. Derweil schimpfe ich über den Preis von 3,90 Euro für eine Tasse Kaffee und ich schimpfe über die Bauern, dass sie ihre Dickköpfe durchsetzen konnten.



  4. Januar 2024


Der Vergleich mit dem Untergang Roms scheint weit hergeholt, als die Goten im Jahr 410 Rom eroberten und plünderten. Die Fundamente eines damaligen Weltreiches waren erschüttert worden, das Undenkbare war möglich geworden, dass einstige Macht und Größe enden könnte. Womöglich ist der Vergleich mit dem Kaufhof-Konzern schief, aber im Kreis der Warenhauskonzerne war Kaufhof stets ein Gigant. Die Geschichte unserer eigenen Familie verbinden wir maßgeblich mit dem Kaufhof: die Spielwarenabteilung vor Weihnachten, vom Prinzip her bekam man dort alles, Bekleidung haben wir häufig dort gekauft, Haushaltswaren, Töpfe, Geschirr, Hefte, Schreibwaren, es gab nichts, was es dort nicht gab. Ein Gang durch den Kaufhof, die Wege waren von Stockwerk zu Stockwerk kurz, und man konnte sich die Wege in vielerlei Spezialgeschäfte sparen. Nun hat der Kaufhof zum dritten Mal innerhalb kurzer Zeit Insolvenz angemeldet. Insolvenz als Schreckensgespenst. Karstadt ist geschlossen worden, Kaufhof ist geblieben, und nun könnte ein Szenario kommen, das ich bereits in Krefeld erblickt habe. Der Kaufhof schließt, Ausverkauf in den Schaufenstern, die ganze Krefelder Innenstadt ist in einen Abwärtssog geraten. Der Konsument will nicht mehr. Zu hohe Parkgebühren und Verkehrshindernisse in Form von Fahrradstraßen halten ihn davon ab, mit dem Auto in die Innenstadt zu fahren. Wegen der Inflation hat er kein Geld mehr in der Tasche, außerdem sind Online satte Rabatte zu erzielen, wozu ihm die Ware kostenlos ins Haus geliefert wird. Der Verbraucher braucht eine Institution wie den Kaufhof nicht mehr. Kaufhof war ein Schwergewicht und eine Macht, die stückweise zerbröselt ist. Über den Verkauf und die Rückvermietung der Karstadt-Warenhäuser hatte ich bereits damals gestutzt. Erst ging Karstadt vor die Hunde, droht nun der Kaufhof-Filiale dasselbe Schicksal wie in Krefeld ? Momentan reden alle nur noch davon, dass drei Monate lang nach der Insolvenz die Gehälter der Mitarbeiter über die Arbeitsagentur gesichert sind. Eine Wut kocht in mir hoch, dass der Staat in der Gestalt seiner Steuerzahler 680 Millionen Euro in den maroden Warenhauskonzern geschossen hat, Geld, das der Staat wohl nie mehr wieder bekommen wird. Die Konzernlenker werde sich da wohl rauswinden, während die Mitarbeiter in eine sehr ungewisse Zukunft schauen.



5. Januar 2024


Sonnenuntergang über dem Rhein bei Hochwasser. Anderswo im Norden unserer Republik hat sich das Hochwasser zu einer Katastrophe ausgeweitet, Wohngebiete sind dort in den Fluten abgesoffen und die Menschen gelangen nur noch mit Booten zu ihren Wohnhäusern. Währenddessen haben wir es bei uns am Rhein mit der moderaten Variante des Hochwassers zu tun, und man kann dieser Ausprägungsform ganz viel Schönheit abgewinnen. Der Pegel ist ausreichend entfernt von Rekordhöhen, bald soll er wieder sinken, die Schifffahrt wird nicht eingestellt werden müssen, gleichwohl hat sich der Rheinarm im Naturschutzgebiet in eine Seenplatte verwandelt. So kann man entspannt das Naturschauspiel genießen. An dieser Stelle, wo die Fähre ihren Betrieb eingestellt hat, hat der Rhein die Wiesen überschwemmt allerhand Treibholz abgelagert. Der Spielplatz steht unter Wasser, Baumstämme widerstehen der Seenlandschaft. Die Sonnenscheibe, die bald hinter dem Horizont verschwinden wird, gibt der Gesamtkomposition eine romantische Stimmung. Eine Stimmung, die man gerne konservieren möchte. Man verspürt den Wunsch, die Sonne fest tackern zu wollen, um die Schönheit des Augenblicks fest zu halten und für alle Ewigkeit fort zu schreiben.



6. Januar 2024


Schwerer Unfall im Nachbarort mit einem Todesopfer. Am Tag vor Silvester verlor ein Mann die Kontrolle über seinen BMW, er geriet auf die Gegenfahrbahn und fuhr dort in die Bushaltestelle an dieser Stelle, wo ein 14-jähriger Junge auf den Bus wartete. Der Mann überfuhr den 14-jährigen Jungen, der auf der Stelle getötet wurde. Eine spätere Blutprobe war dahingehend negativ, dass der Mann weder Alkohol getrunken hatte noch Drogen zu sich genommen hatte. Es ist daher rätselhaft, wieso er auf die Gegenfahrbahn gefahren war, womöglich war er durch sein Handy abgelenkt worden. So tragisch der Tod des Jungen war, daraufhin wurden heftige Diskussionen zu der Verkehrssituation auf der viel befahrenen Straße geführt. So wie auf der Hauptstraße in unserem Ort, befahren viel zu viele Fahrzeuge diese Straße. Konzepte, den Autoverkehr einzudämmen, gibt es nicht. So wurde als Allheilmittel eine Tempo 30-Zone in die Diskussion gebracht, was aber eher verworfen wurde. Selbst wenn der PKW mit Tempo 30 in die Bushaltestelle gefahren wäre, hätte dieses Tempo ebenso den Tod des 14-jährigen bewirken können. Sich gegen den Autoverkehr zur Wehr zu setzen, stellt eine Herausforderung dar. Bei so viel Tempo 30-Zonen, die mittlerweile eingerichtet wurden, habe ich festgestellt, dass der Unterschied zum Bus bei der Fahrzeit nicht mehr groß ist. Ein Vorbild, das Autofahren unattraktiver zu machen könnte die Stadt Bonn sein: mehr Fahrradstraßen, häufigere Busverbindungen, Wegfall von Parkplätzen, Einführung oder Erhöhung von Parkgebühren. In unserer Stadt ist von solchen Aktivitäten nichts zu sehen.   



7. Januar 2024


In der 1. Kalenderwoche im neuen Jahr ist nach dem Weihnachtsurlaub der Alltag wieder gekehrt. Die WG-Bewohner haben ihre Arbeit in der Behindertenwerkstatt wieder aufgenommen, für mich selbst hat der Büroalltag wieder begonnen, meine Frau musste bereits an den Tagen zwischen Weihnachten und Neujahr wieder arbeiten. Unter meinen Arbeitskollegen wohnt einer am Westrand des Harzes, eine andere Kollegin wohnt in der Nähe von Bremen. Beide sind hochwassergeschädigt insofern, dass im Wohnort des einen Kollegen zwei Nebenflüsse der Aller zusammenfließen, wo es in der Woche vor Weihnachten Überschwemmungen gegeben hat. Glücklicherweise lag das Wohnhaus des Kollegen hoch genug, um von den Überschwemmungen verschont zu werden. Den Wohnort der anderen Kollegin bei Bremen hat es voll erwischt, es war nämlich der Ort Lilienthal, worüber in den Massenmedien grußspurig berichtet wurde wegen der massiven Überschwemmungen sogar der Bundeskanzler hatte sich in dem Ort ein Bild vom Ausmaß der Überschwemmungen verschafft. Auch hier lag das Wohnhaus der Arbeitskollegin glücklicherweise hoch genug, um nicht überschwemmt zu werden. Es fiel aber häufig der Strom aus, zudem wurde die Gasversorgung abgeschaltet, so dass ihre Familie frieren musste. Zeitweise war für sie die Arbeit im Home Office nicht möglich. In der 1. Kalenderwoche wurde im Krankenhaus versucht, die Herzrhythmusstörungen des Gartenmarktinhabers, wo meine Frau in der Postagentur arbeitet, zu stabilisieren. Seine Frau sollte ihn im Gartenmarkt vertreten, und die Beschäftigten der Postagentur hatten sich wegen einer längeren Aufenthaltsdauer im Krankenhaus auf erhebliche Mehrarbeitszeiten eingestellt. Der Aufenthalt im Krankenhaus dauerte dann doch kürzer, so gerade eine Woche, der Gartenmarktinhaber wird nun mit Medikamenten gegen die Herzrhythmusstörungen behandelt. So arbeitet meine Frau ab der 2. Kalenderwoche wieder in ihrem normalen Dienstplan. Zu Jahresbeginn hat meine Frau einigen Papierkram für ihren Bruder mit der Krankenkasse zu erledigen. So duscht das Rote Kreuz einmal wöchentlich ihren Bruder, was über die Verhinderungspflege abgerechnet wird. Für das neue Kalenderjahr ist der Antrag für die Verhinderungspflege neu zu stellen, dazu hatte das Rote Kreuz ein vorausgefülltes und noch zu unterschreibendes Formular mitgebracht. Einen weiteren bürokratischen Aufwand gibt es in der Behindertenwerkstatt. Der Schwager bekommt dort Augentropfen verabreicht. Nachdem diese aufgebraucht worden waren, hatte der Schwager neue Augentropfen in die Werkstatt mitgenommen. Diese haben aber nicht genau dieselbe Bezeichnung wie die bisherigen Augentropfen. Zu dieser Bezeichnung passt die Verordnung mit der anderen Bezeichnung nicht mehr. Sie muss daher entweder die anderen Augentropfen oder eine andere Verordnung besorgen.  


8. Januar 2024


Zu Hause hatten wir gestern zum soundsovielten Mal die Diskussion, wieso ich nicht früher aufstehen würde. Wir hatten beabsichtigt, zum 88. Geburtstag meiner Mama zu fahren. Die 88 Jahre waren ein sehr stolzes Alter, wenngleich meine Mama immer gebrechlicher wurde, insbesondere ihre Mobilität nahm immer stärker ab. Am Tag zuvor hatten wir im Blumengeschäft beim REWE-Einkaufszentrum einen Blumenstrauß gekauft, der bereits am Folgetag blasser und blasser wurde. Und nun, bevor wir losfahren wollten, hatte meine Frau ein strammes Programm, was sie alles erledigen wollte. Sonntag sei der einzige Tag, an dem wir mit dem Gästezimmer voran kommen könnten. Dort aufräumen, Badezimmer sauber machen, Küche putzen und so weiter. Ein wenig davon arbeiteten wir ab, bevor wir fuhren, das meiste nicht, was den Unmut meiner Frau erregte. Als wir am sehr späten Nachmittag ankamen, war mein Bruder im Gegensatz zu Weihnachten anwesend. Er berichtete sogleich über ihren Zustand. Nach dem Sturz hatte sie etliche blaue Flecken in der Bauchgegend, die sehr schmerzten. Obschon sie abends eine Schmerztablette nahm, schlief sie unruhig, dabei waren gelegentliche Schreigeräusche während des Schlafs zu hören. Zuletzt war der Hausarzt seinem routinemäßigen Hausbesuch vorbei gekommen, bei dem mein Bruder anwesend war und Fragen stellte. Knochenbrüche seien keine vorhanden, Prellungen und Quetschungen dürften arg schmerzen, in ihrem Lebensalter dürfte der Heilungsprozess langsam verlaufen. Eine Zeitlang nach dem Sturz lag sie nur im Bett, nun konnte sie sich mit Rollator wieder im Haus fortbewegen, aus dem Haus hatte sie sich noch nicht heraus getraut. Als wir das Haus verließen, war ich nicht in der Lage, sie aus der Sitzposition im Stuhl in eine stehende Position hoch zu helfen. Zur Entlastung wollte mein Bruder versuchen, sie einmal wöchentlich in die Tagespflege abzugeben, so ganz war die Mama noch nicht damit einverstanden. So häufig er zu Hause sein wollte, ließ es sich nicht vermeiden, dass er unterwegs war, wenn er etwa seinem Nebenjob nachging. Er fühlte sich somit immer mehr eingeschränkt. Wir redeten auch über andere Dinge. Über die Schwangerschaft unserer Tochter, über Rockkonzerte oder über die Infrastruktur im Dorf, dass es noch einen Metzger gab, somit das Dorf unserem Ort weit voraus war. Kuchen gab es auch, danach hatte der Schwager gefragt, der diesmal mitgekommen war, während der Sohn und die schwangere Tochter zu Hause geblieben waren. Nach etwa anderthalb Stunden Aufenthalt fuhren wir nach Hause zurück, wo unser Sohn uns mit einer gekochten Gehacktessoße erwartete.



9. Januar 2024


Wenn sich denn doch in Zeiten des Klimawandels der Winter in seinen ursprünglichen Ausprägungen zeigte, dann bemerkte man die Phänomene um so nachdrücklicher. Mit mehreren Minusgraden war es knackig kalt geworden, und die Kälte ließ einen die Glieder gefrieren. Diese Phänomene des Winters zeigten sich auch in einer ganz banalen Architektur, wie etwa an den sogenannten Kreuzbauten, in denen einstige Ministerien beherbergt waren. Diese Kreuzbauten umfassen Bürogebäude, die an die zehn Stockwerke in Form eines Kreuzes in die Höhe gewachsen sind. Die Sonne, die soeben aufgegangen war, verweilte noch hinter dem Siebengebirge, das morgendliche Licht war noch schummrig, der Vordergrund erschien mit seinen Brachflächen düster. Nachdrücklich waren die Rauchsäulen, die aus den Schornsteinen der Kreuzbauten quollen. Ihr Farbspektrum zerlegte sich zwischen den ersten Sonnenstrahlen, die hinter dem Siebengebirge leise aufgegangen waren. Ein loderndes Rot bestimmte die erste Rauchsäule, als wäre diese von Feuer beseelt. Die zweite Rauchsäule erstrahlte in einem stechenden Weiß, wobei die kurze Rauchsäule rasch in dem blauen Himmel erstarb. Die beiden Rauchsäulen elektrisierten, sie setzten Zeichen in einer noch düsteren Grundstimmung. Bald würde sich diese düstere Grundstimmung aufhellen, wenn das Tageslicht Oberhand gewinnen würde. Die Rauchsäulen würden ihre Intensität verlieren, und ganz gewöhnlicher Rauch würde in einem ganz gewöhnlichen Tag untergehen, der allerdings bitterkalt sein würde.



10. Januar 2024


Wie sich die Sonne gegen die Eisfläche spiegelte, da kam der Fotograf in mir hoch. Spaziergang in der Mittagspause zum japanischen Garten. In Handschuhe, Schal und dicker Winterjacke eingepackt, befreite der Spaziergang beim Einatmen der frostkalten Luft. Nach mehreren Wochen von zweistelligen Temperaturen, erleben wir in Zeiten des Klimawandels in diesen Tagen einen arttypischen Winter mit dauerfrostigen Temperaturen, in dem die Gartenanlage des japanischen Gartens in sich erstarrt war. Die Natur stand in der Rheinaue still, die Gehölze waren kahl, die Sonne schien durch kahle Baumkronen hindurch. Entsprechend der Jahreszeit stand die Sonne schräg, im hinteren Teil der Gartenanlage lugte sie zögernd zwischen fetten Baumstämmen hervor, im vorderen Teil kamen die Sonnenstrahlen bis zur Eisfläche des Teiches voran. Um die Einzigartigkeit der Winterstimmung festzuhalten, kam der Fotograf in mir hoch. So gut das Eis mit dem Auge zu erkennen war, um so schwerer tat sich Handykamera. Das Eis war noch dünn, und die Eisstücke fügten sich wie ein Flickenteppich zusammen. Um diese Struktur zu fotografieren, dazu hätte man sich sozusagen auf die Eisfläche legen müssen. Ein Mann, der sich locker am Uferrand bewegte, auf Steinen hin- und hersprang, sich bückte und mit seiner Handykamera wenige Handbreiten auf die Eisfläche zukam, ging das Risiko ein. Nichts schlimmes passierte, meine eigenen Fotos mit dem Gesamtbild des Teiches, der verschwommenen Eisfläche und dem Streifen der sich spiegelnden Sonne reichen mir aus. Totale Winterstimmung in der Mittagspause.  



11. Januar 2024


In Facebook herrscht maximaler Ärger, Wut, Aufruhr, Entrüstung. Die Stadt hat die Grundsteuerbescheide an die Hauseigentümer versandt. „Eine Unverschämtheit, uns Bürger so zu melken. Aber die nächste Wahl kommt bestimmt.“ … „Einfach das Rathaus besetzen.“ … „Es ist eine Absolute Frechheit was man mit dem Armen Steuerzahler macht. Das müssen sich Arme Rentner und Rentnerinnen vom Munde absparen.“ … so sind viele Kommentare formuliert, die alle in dieselbe Richtung gehen. Die Grundsteuer hat sich erhöht (und nicht verringert), was den Unmut von Hausbesitzern und Grundstückseigentümern erregt. Auch wir gehören zu denjenigen, die mehr zahlen müssen, bei uns sind es 70 Euro mehr pro Quartal. Was kann man dagegen machen ? Vermutlich nicht viel, da eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichtes umgesetzt worden ist. Glaubt man den Facebook-Kommentaren, wird sich die Stadt mit Bergen von Einsprüchen und Widersprüchen herumschlagen müssen. Anscheinend ist wohl im Fernsehen darüber berichtet worden, dass Bescheide in Rheinland-Pfalz rechtswidrig waren. Es bleibt womöglich zu prüfen, auf welcher Ebene der Umverteilungsmechanismus greift, den das Bundesverfassungsgericht gefordert hat. Geklagt worden war, weil die Bewertung von Immobilien aus dem Jahr 1964 an die aktuellen Immobilienpreise angepasst werden sollte. Grundbesitzer von Immobilien in Stadtlagen müssten demnach mehr zahlen, ländliche Lagen würden entlastet. Dieser Abgleich wird sich wahrscheinlich nur auf Bundesebene herstellen lassen. Viel Wind um nichts bei der Grundsteuer ? Mit dem Urteil sollte Gerechtigkeit geschaffen werden. Nun protestieren diejenigen, die mehr zahlen müssen, gegen diese Gerechtigkeit. Steuern und Lasten gerecht zu verteilen, daran haben sich Generationen von Ökonomen und Politikern die Zähne ausgebissen. Die Kommunen sind durch dieses Urteil in eine Unmöglichkeit hinein manövriert worden, wo erst ganz viele Gerichtsentscheidungen den Weg weisen können.


12. Januar 2024


Suchte ich in dieser Figur vor dem Sieglarer Krankenhaus Trost ? Die Mama war gestorben. Während ich zum Bäcker gefahren war, war ein Anruf meines Bruders auf meinem Handy eingegangen. Als ich ihn zurück rief, überbrachte er mir die Todesnachricht. In der Nacht zu Mittwoch bekam sie keine Luft mehr, so dass mein Bruder den Notarzt rief. Sie hatte eine Infektion, die mit Infusionen im Krankenhaus stabilisiert werden sollte. Kurz zuvor war mein Bruder im Krankenhaus gewesen, als sie noch gelebt hatte, zu Hause sowie per Handy dann die Todesnachricht. Platt, sprachlos und ohne Fähigkeit zum Handeln ist man ja nach einer solchen Nachricht. Als ich meiner Frau dies mitgeteilt hatte, hielt ich einen normalen Tagesablauf für das sinnvollste, um sich entlang zu hangeln. Drei Besprechungen ab Mittag standen an, vormittags wollte ich beim Frauenarzt, der im Krankenhaus Sieglar seine Praxis hatte, ein Rezept für unsere Tochter abholen. Der Weg in das Vorzimmer der gynäkologischen Praxis war kurz, ohne Wartezeit erhielt ich das Rezept, vor dem Haupteingang krallte sich mein Blick an dieser Bronzefigur fest, die merkwürdig schlacksig modelliert war. Geradezu flehend breitete die Figur ihre Arme aus, ein Flehen, das sich mit meiner Unbeholfenheit nach der Todesnachricht zu verbinden schien. Die Figur schien Fragen nach dem Warum zu stellen, nach dem Sinn des Lebens oder nach den letzten Dingen. Dabei achtete ich nicht einmal darauf, ob die Figur einen Heiligen darstellte oder einen Gönner oder Sponsor des Krankenhauses. Die Figur signalisierte mir: das Rezept hast du erhalten, übergebe es an deine Tochter, gehe deinen Tagesgang weiter, arbeite deine Themen ab und wende dich irgendwann denjenigen Themen zu, die im Zusammenhang mit dem Tod der Mama abzuarbeiten sind. So spulte ich ab der Mittagszeit die drei Telefonkonferenzen ab, nach der letzten Telefonkonferenz erreichte ich telefonisch meinen Bruder. Ganz im Gegensatz zum morgendlichen Telefonat wirkte er nun locker, fast entspannt und gefasst. Wegen ihm bräuchte ich am Wochenende nicht vorbei zu schauen. Was wir zu bereden hätten, könnten wir telefonisch erledigen. Er hatte Kontakt mit dem Beerdigungsinstitut aufgenommen, welches dasselbe war wie bei der Beerdigung des Vaters. Nächsten Montag hätten wir um zehn Uhr einen Termin mit dem Beerdigungsunternehmen, wo er mich gerne dabei hätte. In welcher Kirche mit welchem Pastor, das würde das Beerdigungsunternehmen ausregeln. Eine Tante hatte mein Bruder über den Tod informiert, wir hatten diverse Cousinen und Cousins informiert, von denen wir die Handynummern hatten. Abends wollte ich über Festnetz einem übrig bleibenden Cousin Bescheid sagen. Wir überlegten, wer aus der Nachbarschaft und aus dem Freundeskreis meiner Mama zur Beerdigung einzuladen war, uns fielen aber nur wenige Personen ein. Des weiteren überlegten wir, was wir selbst zu erledigen hatten, worum sich das Beerdigungsinstitut nicht kümmern würde. Auch dazu fiel uns erst einmal nichts ein. Nach etwa zwanzig Minuten Telefonat hatten wir uns all das gesagt, was wir uns sagen wollten. Ohne Gewissensbisse zu haben, konnte ich mich am Wochenende den dringenden Themen zu Hause zuwenden, am Montag würde ich mich dann auf den Weg machen zum Elternhaus.



13. Januar 2024


Wie am Vortag, suchte ich am Tag nach der Todesnachricht Halt in einem normalen Tagesablauf. Vormittags begab ich mich zum Baumarkt, um einen passenden Bohrer für die Bohrmaschine zu kaufen. Unsere Tochter wollte drei Makramee-Blumenampeln an der Decke aufgehängt haben. Die passenden Haken hatte ich bereits besorgt, der passende Bohrer für die Bohrmaschine war mir allerdings abhanden gekommen. Ich besaß zwar eine Vielzahl von Bohrern, die meisten waren Holzbohrer, ich besaß aber nur wenige Steinbohrer, die entweder zu groß oder zu klein waren. Nachdem meine Frau ihre Arbeit beendet hatte, erledigten wir unsere gewöhnlichen Wocheneinkäufe. Nachdem ich donnerstags die Getränke komplett eingekauft hatte, waren die verbleibenden Einkäufe an diesen Tag nicht ganz so üppig. Zusätzlich schauten wir diesmal nach Schuhen, wovon einige reduzierte Exemplare angeboten wurden. Als Schuhe besaß ich lediglich ein weißes Paar Sneakers, das ansehnlich aussah und welches ich regelmäßig trug. Ein zweites vorzeigbares Paar wäre somit nicht schlecht gewesen. Schuhe konnte man  in dem Einkaufskomplex bei Deichmann kaufen, und so stöberte ich in den Regalreihen von Schuhen herum. Das Schuhangebot war dort etwas verkehrt gestrickt. Schuhe, die meinem Geschmack entsprachen, waren nicht reduziert, und umgekehrt: reduzierte Schuhe sahen nicht besonders ansehnlich aus. Die Schnittmenge, was mir gefiel und im Preis reduziert war, war nicht allzu groß. Schließlich fand ich dennoch ein dunkelblaues Paar mit weißer Sohle, chic und sportlich sahen die Sneakers aus. So konnte ein Erfolgserlebnis beim Schuhkauf den traurigen Hintergrund überdecken. Für einen Vor- und einen Nachmittag war es mir gelungen, dieses traurige Ereignis zu verdrängen.



14. Januar 2024


In der 3. Kalenderwoche hatte sich meine Frau abends mehr oder weniger hinter dem Laptop verbarrikadiert. Sie musste nämlich 1x jährlich den sogenannten Kompetenztest absolvieren. Dazu musste sie 600 Fragen aus den Bereichen Briefdienst, Paketdienst und Postbank richtig beantworten – am kniffligsten waren die Fragen zum Thema Postbank. Es waren rotierende Fragen: wurde eine Frage nicht richtig beantwortet, war ein neuer Fragenblock zu beantworten und so weiter. Alte, falsch beantwortete Fragen wurden nicht wieder gestellt. Mehr als eine Woche benötigte meine Frau, um das Quantum von 600 Fragen abzuarbeiten. Im Bereich Postbank waren die Fragen am kniffligsten, da ihre Kenntnisse nur gering waren. Dies hing wiederum damit zusammen, dass sich die Dienstleistungen der Postbank in einer Postagentur fast nur noch auf Ein- und Auszahlungen bis zu 1.500 Euro beschränkten. Für weitere Dienstleistungen konnten nur an größeren Standorten durchgeführt werden – wegen des stark eingeschränkten Angebotes hatten bereits einige Kunden ihr Postbank-Konto gekündigt. Am Arbeitsplatz beklagte meine Frau, dass Briefmarken in einer größeren Stückzahl von Bögen verschwunden waren. Sie hatte eine komplette Neulieferung in eine bestimmte Schublade gelegt – wenige Tage später waren all diese Briefmarken von diesem Ablageplatz verschwunden. Kurz bevor wir am Samstag unsere Wocheneinkäufe erledigen wollten, erhielt meine Frau einen Anruf, dass der Bruder den einen WG-Bewohner besuchen wollte, er sei aber nicht im Haus. Daraufhin gab ihm meine Frau die Telefonnummer seiner Freundin, wo er verweilte. Der Bruder, der aus Köln kam, besuchte seinen Bruder so gut wie nie, was auch daran lag, dass er kein funktionierendes Telefon besaß. Die beiden trafen sich schließlich bei seiner Freundin, wo er ihm ein neues Handy übergab, wozu er einen Mobilfunkvertrag abgeschlossen hatte. So hofften wir, dass die beiden zukünftig häufiger Kontakt miteinander haben würden und sich häufiger treffen würden.


15. Januar 2024


Ein Besuch im Café brachte etwas Ruhe inmitten all der Aufgewühltheit. Mein Bruder und ich, wir hatten heute den Termin im Beerdigungsinstitut, wo wir all die Formalien zur Beerdigung besprachen. Festlegung des Beerdigungstermins, Sarg aussuchen, Text der Traueranzeige entwerfen und viele weitere unangenehme Dinge, die den Tod betrafen. Nun brach diese Zeitspanne an zwischen Tod und Beerdigung, wo die Anspannung stieg und sich all die Trauer nicht lösen würde. Das Krankenhaus hatte meinen Bruder angerufen, dass ihr Zustand kritisch sie, danach war er bei ihr vorbei gefahren, wo er sie noch lebend an Beatmungsgeräten vorgefunden hatte. Vielleicht eine Stunde später, als er sich auf dem Gang des Krankenhauses befand, teilte man ihm den Tod mit. All denjenigen, denen er den Tod mitteilte, musste er diese Story erzählen, was ihn emotional fertig machte. Mir hatte er indes auf meine Mailbos gesprochen, vielleicht eine Stunde später hatte ich ihn zurück gerufen, da war sie bereits tot. Unter dieser Anspannung stand die Anwesenheit bei meinem Bruder. Bereits im Vorfeld hatten wir die Diskussion, ob wir einen Begräbniskaffee haben wollten oder nicht – mein Bruder nein wegen der angespannten Situation, ich auf jeden Fall ja. Das Gespräch beim Beerdigungsunternehmen verlief in einem sachlichen Kontext mit einem geplanten Begräbniskaffee, zu Hause kam dann die Wendung beim Telefonat mit meiner Tante. Sie selbst wolle keinen Begräbniskaffee, ihre Tochter nicht, ihr Bruder mit seinen Töchtern ebenso nicht, was die Stimmung kippte. Ich nannte die Cousine, die aus Bayern anreisen wollte, sie wollte ich im Anschluss nicht wegschicken. Ich regte an, exklusiv diejenigen Personen wegen eines geselligen Beisammenseins nach der Beerdigung zu befragen. Meine Tante forderte eine Einstimmigkeit mit meinem Bruder, dass er sich entweder mir oder ich ihm anzupassen habe. Außerdem erwähnte sie, dass wir nach der Beerdigung des Vaters den Begräbniskaffee zu Hause gemacht hätten, wo sie beinahe die einzige gewesen sei. Sehr ausführlich beschrieb sie die Leiden meiner Mutter, dabei war sie oftmals den Tränen nahe. Dieses Telefonat wühlte die Stimmung nachhaltig wieder auf, so dass mein Bruder bei bestimmten Erzählpassagen wieder den Tränen nahe war. Mit einer solch krankhaften Einstellung kann ich meine Tante vom Prinzip her nicht. Mein Bruder und ich brauchten eine Zeitlang, um in den normalen Gesprächsmodus wieder zurück zu finden.  Aber die Wortlosigkeit blieb, und ich bestellte noch einen Kranz in dem Blumenladen an der Hauptstraße. Was zu erledigen war, waren einige Herumtelefoniererei und die Absage an das Sportlerheim, das den Begräbniskaffee ausrichten sollte. In einem Café in Erkelenz, vor der Heimfahrt mit der Bahn nach Hause, suchte ich schließlich all meine Aufgewühltheit herunter zu fahren. Ich aß einen Apfelpfannkuchen und trank einen Kaffee in diesem durchaus gemütlichen Ort am Marktplatz von Erkelenz zwischen alten Fotografien von Erkelenz, Holztischen und einem terrakottafarbenen Fliesenboden mit den in sich, nach rechts, versetzten Karrees.



16. Januar 2024


Da ich auf dienstliche Themen nur eingeschränkt ansprechbar war, ließ ich mich von der Hausärztin krank schreiben. Spätestens zu diesem Zeitpunkt relativierte sich der Begräbniskaffee. Am Abend zuvor hatte eine Cousine und einen Vetter väterlicherseits angerufen, die beim Begräbniskaffee dabei sein wollten. Sie sagten zu, und dieser Kreis der mit mir Trauernden reichte mir zu meiner seelischen Unterstützung. Ich diskutierte dieses Thema mit meiner Hausärztin, und sie meinte, dies sei relativ einfach: wer kommen wolle, der käme, und wer nicht kommen wolle, der kehre nach Hause zurück. Was blieb, war eine Anspannung, die sich bis zur Beerdigung steigern würde und danach – auch mit dem Begräbniskaffee – wieder lösen würde. Nach diesem letzten Weg würde eine Lücke klaffen, die ich selbst wahrscheinlich weniger intensiv wahrnehmen würde im Vergleich zu meinem Bruder, der täglich mit dieser Leere im Elternhaus zu tun haben würde. Nachmittags befassten wir uns mit profaneren Dingen, indem wir uns an die Misere aller angesammelten Anziehsachen heran machten. Anziehsachen waren ja ein Auswuchs unserer westlichen, nicht nachhaltigen Lebensweise, ständig neue Mode zu tragen, die für relativ kurze Zeit getragen wurde und dann nicht mehr benötigt wurde. Bei der Herstellung von Textilien wurden Wasser und andere Rohstoffe in großen Mengen verbraucht, daher unser Ansinnen, getragene Bekleidung der Wiederverwertung zukommen zu lassen, oder noch besser, dass gut erhaltene Bekleidung für wenig Geld von potenziellen Käufern wieder erworben werden konnte. Für solche Wiederverkäufe hatte die SPD im Nachbarort einen Kleiderladen eine solche Bekleidung abgeben konnte. Sie wurde dann in Kommission genommen und beim Wiederverkauf erhielt man den Erlös. Ein feine Sache, die Nachhaltigkeit durch solche Verkaufsstrukturen zu fördern, doch es gab Einschränkungen. Die Bekleidung musste nicht nur gut erhalten sein, es wurde zudem nur eine Maximalzahl von zehn Kleidungsstücken angenommen. Und es wurden auch nur bestimmte Arten von Textilien angenommen. So hatte meine Frau einen dicken Wintermantel mitgenommen, Wintermäntel wurden wegen der Größe und wegen des Gewichtes aber generell nicht weiter verkauft. Danach fuhren wir mit unserer Tochter nach IKEA, wo wir vor allem Lochwände kauften. Lochwände, die individuell mit Haken zum Aufhängen oder Vorrichtungen zum Verstauen bestückt werden konnten. Zwei Schuhschränke kauften wir zum Verstauen weitere Gegenstände, die keine Schuhe sein sollten, sowie ein CD-Regal für den Schwager. Wir brachten einiges an Arbeit mit nach Hause zurück, was wir in den nächsten Tagen und Wochen abarbeiten wollten.



17. Januar 2024


Für diesen Tag hatte der Wetterbericht ein Schneechaos vorher gesagt, was mir Respekt einflößte. Mein Schwager und ich hatten nämlich einen Termin zur Fußpflege um die Mittagszeit, genau um 12.00 Uhr. Unter normalen Bedingungen war die Autofahrt kein Problem, sie dauerte ein bißchen mehr als zwanzig Minuten. Bei dem aktuellen Wetterbericht war aber mit massiven Verkehrsbehinderungen durch Schneeglätte zu rechnen, das war höchst ungewöhnlich in Zeiten der Klimaerwärmung für uns Flachlandbewohner. So hatte ich mir alternativ eine Verbindung mit öffentlichen Verkehrsmitteln heraus gesucht, die dementsprechend länger dauerte. Über den Bonner Hauptbahnhof war sie dementsprechend umständlich. Als wir zu Hause in den Bus einstiegen, war von Schnee noch keine Spur, nicht einmal einzelne Schneeflocken hatten sich unter dem grauen Himmel verirrt. Bei der Fahrt mit Bus und Straßenbahn hatte ich soviel Puffer einkalkuliert, dass wir mehr als eine halbe Stunde zu früh am Zielort ankamen. Diesen Zeitpuffer nutzten wir, um dort einen Kaffee zu trinken, der Schwager aß zusätzlich ein Stück Kuchen. Als er vom Ortskern mit dem Rollator zur Fußpflege schritt, spürte er den Schneefall, der langsam und leicht flockig eingesetzt hatte. Die Schneekristalle bedeckten den Erdboden und blieben liegen, da die Temperatur knapp unter null Grad betrug. Der Schwager musste aufpassen, dass er mit dem Rollator auf dem glitschigen Untergrund nicht ins Rutschen geriet. Während der Fußpflege konnten wir durch das Fenster beobachten, dass der Schneefall mäßig war. Die liegen gebliebene Schneeschicht sah dünn aus. Sie reichte aber aus, dass der Schwager auf dem Rückweg zur Straßenbahnhaltestelle Vorsicht walten lassen musste, wenn er den Rollator nach vorne schob. Obschon die Schneeflocken zögerten zu fallen, sah der Dorfplatz höchst winterlich aus. Der Weihnachtsbaum stand noch, der Platz war weiß in weiß gehüllt, die Kälte ließ die umstehenden Hausfassaden erstarren. Die Straßenbahn kam prompt, so dass wir uns in der Kälte keinen abfrieren mussten. Auf der Rückfahrt mit dem Bus wurde das Schneetreiben dann dichter. Über den Fahrspuren der Landstraße bildete sich eine geschlossene Schneedecke, über die der Busfahrer so daher bretterte, als gäbe es keinen Schnee. So kam es zu keinerlei Verzögerungen auf der Rückfahrt nach Hause. Ich begleitete den Schwager von der Bushaltestelle nach Hause, wo die Schneeschicht inzwischen so angewachsen war, dass mir eine Fahrt auf dem Fahrrad zu gefährlich erschien. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite schob eine Frau ebenso ihr Fahrrad, die mir sagte, sie würde mich kennen. Ich erkannte diese Frau hingegen ganz und gar nicht, die sich ausgab als eine Bäckereiverkäuferin. Erst als ich durch Schal und Mütze, worin sie dick eingemummelt war, ihr Gesicht erahnte, konnte ich sie der Bäckerei neben dem Netto-Supermarkt zuordnen. Wir beide waren vorsichtig mit unseren Fahrrädern und talpsten durch den Schnee, dessen Höhe mit der Zeit wuchs und wuchs.



18. Januar 2024


Nach den intensiven Schneefällen vom gestrigen Tag, die bis in die halbe Nacht angedauert hatten, kostete es Mühe, sich fortzubewegen. Unser größtes Problem war, dass wir am Montag bei IKEA diverse Lochwände gekauft hatten, wovon wir im Kinderzimmer eine an der Wand aufhängen wollten. Um Dübel in der Wand befestigen zu können, benötigten wir dazu eine Bohrmaschine. Diese befand sich allerdings im Haus der Dreier-WG. Am Vortag hatte ich es unterlassen, diese zu uns zu nehmen, nachdem ich den Schwager bei dichtem Schneetreiben von der Fußpflege nach Hause gebracht hatte, anschließend hatte ich das Fahrrad zu uns nach Hause geschoben. Meine Frau hatte mir vorgeschlagen, gemeinsam mit mir wenige Erledigungen mit dem Auto durchzuführen, sie würde fahren, weil sie einer Autofahrt durch den Schnee angenehme Seiten abgewinnen konnte. Ich scheute es hingegen, unser draußen stehendes Auto frei zu kratzen, dies erschwerte ein dickerer Eispanzer auf den Scheiben. So besorgte ich als erstes zwei Laugenbrezeln für unsere Tochter zum Frühstück in der Bäckerei im Supermarkt, die fußläufig erreichbar war. Mühsam tappsten meine Füße durch die Schneeschicht, die vielleicht an die dreißig Zentimeter dick war, an manchen Stellen war der Schnee auch geräumt. Zu Hause gingen wir diejenigen Dinge durch, die zu erledigen waren. Sah man vom Kochen, Waschen oder Saubermachen der Katzentoilette ab, kamen wir früher oder später zu dem Punkt, die beiden Lochwände im Kinderzimmer sowie im Zimmer unserer Tochter aufzuhängen. Um die Bohrmaschine kamen wir also nicht umhin. So musste ich mich denn an die mühselige Prozedur heran machen, unser Auto von dem Eispanzer zu befreien. Dabei froren meine Hände sich einen ab, im Schatten unseres Hauses haftete das Eis beinhart auf den Scheiben unseres Autos. Alleine um die Schneemassen vom Dach des Autos wegzuschaffen, ließ meine Hände gefrieren. Steif und gefroren, mussten sich meine Glieder in der Wärme des Wohnzimmers erst einmal von der Kälte erholen. Meine Frau kreidete mir an, dass sie gerne mit mir gemeinsam gefrühstückt hätte, während ich alleine los gezogen war und durch strenge Minusgrade gekämpft hatte. Am frühen Nachmittag war es dann soweit, dass ich die Bohrmaschine aus dem Haus der Dreier-WG holte, noch etwas später kam sie beim Anbringen der Lochwände zum Einsatz. Ebenso kam sie zum Einsatz, um die beiden Kunststoffteile von Schuhschränken unterhalb der Lochwände in der Wand fest zu dübeln. Nicht nur Schuhe, sondern auch anderer Kleinkram für den Nachwuchs unserer Tochter sollte dort untergebracht werden. Das intensive Winterwetter, das wir in vergangenen Wintern vermisst hatten, zwang uns zur Langsamkeit. Und das war auch gut so.  



19. Januar 2024


Der Anblick des Sarges und das Aufsetzen auf die Grabstätte, das einem den eigentlichen Schock versetzte. Später, ohne dass wir es mit beobachtet hatten, das Absenken des Sarges in das Grab. Wir begleiteten die mit ihren 88 Jahren verstorbenen Mama auf ihrer letzten Reise in das Jenseits, wo der christliche Glaube die Vision predigte, dass nach dem Tod das Leben in einer höheren Sphäre weiter gehen würde. Fortan würde die Mama der Gemeinschaft aller Verstorbenen angehören. Diese Schockmomente ließen wir alle über uns ergehen, und die Lücke dieses zu Ende gegangenen Lebens schmerzte. Tag für Tag war die Anspannung vor der Beerdigung gestiegen. Ein unbestimmtes Kribbeln steckte in mir. Ich war nervös, als müsste ich in einem vollbesetzten Theater auf der Bühne stehen. Ich kam  mir vor, als habe ein Hammer auf meinen Kopf eingeschlagen und mein Denkvermögen lahm gelegt. Die Gedanken zerlegten sich in Bruchstücke, die nicht mehr zueinander fanden. Ständig musste ich überlegen, was ich soeben gemacht hatte und was ich eigentlich machen wollte. Wie eine unüberwindbare Wand lag der Termin der Beerdigung vor mir, und ich sehnte mich danach, dass diese Momente möglichst schnell vorbei sein sollten. Sie sollten der Vergangenheit angehören, um danach zu einer wie auch gearteten Normalität überzugehen. Sehr rechtzeitig fuhren wir los und wir kamen auch sehr rechtzeitig an. Um 14 Uhr war die Beerdigung und kurz nach halb zwei hatten wir unser Auto auf dem Parkplatz neben dem Kinderkarten geparkt. Noch am Vorabend war in einer SMS der Dissens zu meinem Bruder hochgekocht, dass ich einen Begräbniskaffee organisiert hatte, den mein Bruder eigentlich nicht haben wollte. Als ich ihm die zwölf Personen mit Namen benannte, schien er dies zu akzeptieren. Nach meiner Antwort-SMS war es still, und ausgemacht hatte ich mit ihm, dass ich einen exklusiven kleinen Teilnehmerkreis einladen wollte. Dieser Konflikt lastete unsinnigerweise auf der Beerdigung. Draußen war es bitterkalt, und ich begrüßte vor dem Seiteneingang der Kirche einen Vetter mit seinem behinderten Sohn, den ich sehr lange nicht mehr gesehen hatte, außerdem meine 85-jährige Tante, die gerade aus einem Taxi ausstieg und in ihren Rollstuhl einstieg. Da wir uns einen abfroren, gingen wir unmittelbar in die Kirche auf die vordersten Plätze, so dass wir die Ankunft der übrigen Verwandtschaft sowie der anderen Trauernden nicht mitbekamen, in der Kirche saßen sie danach mehr oder weniger weit hinter uns. Mein Bruder trudelte erst ziemlich spät in der vordersten Sitzbank ein, vielleicht fünf Minuten vor Beginn der Messe. Begleitet wurde er von seiner Tochter, 16 Jahre alt, mit ihren kastanienbraunen Haaren. Seine in Trennung lebende Frau hatte sich nicht in die Kirche getraut, er hatte sie aber auch nicht über den Tod ihrer Schwiegermutter informiert. Als Wortgottesdienst war die Messe knapp und kurz gehalten, dabei war der Pastor sehr sympathisch. Es war ein Pastor mit einem asiatischen, vielleicht vietnamesischen Aussehen. Seine schwarzen Haare waren glatt nach hinten gekämmt, seine Aussprache hatte einen französischen Akzent. Aufgewachsen war meine Mama in der Nachkriegsgeneration, dessen Biografien sich in unserer Verwandtschaft oftmals ähnelten. Mit einer Ausnahme waren es Zwei-Kind-Familien, in denen die Rollenverteilung traditionell war: die Väter sorgten für das Einkommen, die Mütter blieben nach der Geburt des ersten Kindes zu Hause, im Abstand von wenigen Jahren wurde das zweite Kind geboren. Neben der Kinderbetreuung kümmerten sich die Frauen um Haus und Garten, sie hatten Zeit für Hobbys und Enkelkinder, wenn die Kinder aus dem Haus waren oder andere Hobbys. Manche Mütter waren auch in Vereinen aktiv und nahmen mehr oder weniger rege am Dorfleben teil. In Teilen traf diese Biografie auch auf meine Mutter zu. Der Pastor erzählte in der Messe von der Nachkriegsgeneration, alles sei hart erarbeitet worden. Mit ganz viel Eigenleistung hatte unser Vater das Haus für seine Familie gebaut. Beim Bau des Eigenheims war er höchst kostenbewusst gewesen. Steine für das Mauerwerk waren erst dann beschafft worden, wenn Geld vorhanden war. Details und Informationen hatte der Pastor von meiner Tante erhalten, die er namentlich nannte. Der Pastor erzählte von der einschneidenden Tumoroperation eines Gehirntumors im Jahr 1982, die erfolgreich verlaufen war. Der Tumor kehrte danach nicht wieder, aber ein Sehnerv war geschädigt worden, der das Sehvermögen auf einem Auge nachhaltig beeinträchtigte. Er erwähnte gemeinsame Urlaube mit meinem Vater, wovon einer auf Santorini in Griechenland besonders heraus stach. In ihrer letzten Lebensphase erwähnte er das Elektromobil, das sie intensiv nutzte, damit hielt sie weitläufige Kontakte aufrecht. Der Pastor beschrieb meine Mutter als äußerst willensstarke Frau mit einem enormen Lebenswillen trotz all ihrer Einschränkungen in ihrem hohen Lebensalter. Nach dem Sturz im Dezember sei dieser Lebenswille offensichtlich aufgebraucht gewesen, so dass sie beschloss, vom Leben Abschied zu nehmen. Am Grab zitierte der Pastor den Spruch von Goethe auf der Traueranzeige, den ich auf meinem Smartphone beim Beerdigungsinstitut recherchiert hatte: „Was man tief in seinem Herzen besitzt, kann man durch den Tod nicht verlieren“. Nach Beendigung der Grabeszeremonie schritt der Zug der Trauernden an meinem Bruder und mir vorbei. Die Frau meines Vetters, den ich vor der Kirche gesehen hatte, erkannte ich mit den schneeweiß gefärbten Haaren kaum wieder. Onkel, Tanten, Cousinen und Cousins hielten von Beileidsbekundungen am Grab ab, so wie es in der Traueranzeige auf Geheiß meines Bruders gewünscht wurde. Der Bruder meiner Mutter, der in einem Pflegeheim in der Eifel untergebracht war, war mit seinen Kindern nicht gekommen. Ich freute mich sehr über die Anwesenheit eines einstigen Schützenbruders aus der Schützenbruderschaft, der mir seine Festnetznummer gab. Eine Friseuse aus der Nachbarschaft, die mir früher in ihren Kellerräume auf einem Friseurstuhl die Haare geschnitten hatte, fragte mich, ob ich sie noch kennen würde – ja, die Erinnerung war noch nicht vollends verblasst. Einen anderen stattlichen Herren aus der Nachbarschaft, den ich aus dem Sportverein hätte kennen sollen erkannte ich hingegen nicht. Nachdem sich das Beisammensein der Trauernden am Grab weitgehend aufgelöst hatte, zog die Fraktion derjenigen, die am Begräbniskaffee teilnahmen, zum Sportlerheim weiter. Ich stand dazu, dass ich einen solchen Begräbniskaffee für mein inneres Gleichgewicht brauchte. Aus der Trauergesellschaft ragten eine Tante, 85 Jahre alt, im Rollstuhl sitzend, und mein Onkel, 86 Jahre, auf dem Gehstock sich fortbewegend, heraus. Beim Begräbniskaffee, eine kleine Gesellschaft mit elf Personen, erzählten wir uns dieses und jenes, und gegen 17 Uhr fand das Stelldichein ein Ende.  



20. Januar 2024


Wie die Gegebenheiten es wollten, zeigten sich auf Vortag vor der Beerdigung die ersten Wehen bei unserer Tochter. Da es mit der Geburt unter Umständen auch schnell gehen könnte, dazu stand in unserem Wohnzimmer die Tasche mit den nötigen Anziehsachen bereit, um ins Krankenhaus zu fahren. Unsere Tochter war vorbereitet für die Geburt und hatte alles nötige in dieser Tasche verpackt. Am Tag der Beerdigung hatte unsere Tochter vormittags – die Beerdigung war nachmittags – ohnehin einen Termin beim Frauenarzt, der seine Praxis in den Räumlichkeiten des Krankenhauses hatte. Bei diesem Termin zeichnete das CTG-Wehenmessgerät Wehen auf, diese traten in unregelmäßigen Zyklen auf. Der Muttermund war aber noch geschlossen. Was die Beerdigung betraf, riet die Frauenärztin von der relativ langen Autofahrt und dem emotionalen Aufputscheffekt durch eine Beerdigung ab. Die Situation sei nicht gänzlich auszuschließen, dass sich der Nachwuchs unserer Tochter dann doch zur Geburt entschließen könne. So war ich denn mit dem Sohn und dem Schwager, aber ohne unsere Tochter und ohne meine Frau zur Beerdigung gefahren. Am Tag nach der Beerdigung war die Situation bei unserer Tochter dieselbe: Wehen im Zyklus von ein oder mehreren Minuten, die sie wegatmete, so wie sie es in der Geburtsvorbereitung gelernt hatte. Morgens musste meine Frau arbeiten, nachmittags fuhren die beiden ein weiteres Mal in die Geburtsabteilung des Krankenhauses. Diesmal war es derselbe Fehlalarm wie am Vortag. Wehen ja, aber der Muttermund blieb weiterhin verschlossen, eine Geburt war zunächst nicht in Sicht. Wir warteten also. Meine Frau riet unserer Tochter zu vielen, kleineren Spaziergängen. Mehr als eine spätabendliche Runde durch die Nachbarschaft war bei unserer Tochter aber nicht drin. Bei meiner Frau vor den Geburten unserer drei Kinder waren es gefühlte Tausende von Spaziergängen zum Rhein, in der Nachbarschaft und um das Krankenhaus herum, die wir absolviert hatten, bevor sich dann doch der Muttermund Millimeter für Millimeter geöffnet hatte, in einer gefühlt sehr langen Zeitspanne mit sehr vielen und intensiven Wehen, bis wir uns dann an unserem Nachwuchs erfreuen konnten.



21. Januar 2024


Durch den Tod der Mama und die bevorstehende Entbindung der Tochter überschlugen sich die Ereignisse in der 4. Kalenderwoche geradezu, so dass die weniger spektakulären Ereignisse seltener waren. Dennoch herrschte in der Dreier-WG viel Wirbel um eine Steckdosenleiste. Und zwar hatte uns am Samstag davor ein Anruf ereilt, dass in der Küche der Strom ausgefallen war, als wir gerade mit den Wocheneinkäufen beschäftigt waren. Nachdem wir diese erledigt hatten, fuhren wir in die Dreier-WG zur Erforschung der Ursache des Stromausfalls. Zunächst ließ sich die Sicherung für die Küche im Sicherungskasten nicht zurück drücken, sie sprang prompt wieder heraus. Nachdem wir ein wenig die technischen Geräte durch forscht hatten, wurde wir an einer Steckdosenleiste fündig. Von einer Steckdose führte eine Steckdosenleiste auf die Küchenanrichte, an die Steckdosenleiste war das Stromkabel der Kaffeemaschine angeschlossen. Die 10-teilige Steckdosenleiste – ein teures Stück – stand vollkommen unter Wasser. Das musste die Ursache sein ! Wir entfernten die Steckdosenleiste und trockneten diese gemeinsam mit der Stelle, wo sie gelegen hatte, ab. Die Sicherung ließ sich nun wieder einschalten und überall in der Küche hatten wir wieder Strom. Den Stecker der Kaffeemaschine steckten wir nun in eine andere Steckdose, und auch die Kaffeemaschine funktionierte wieder. Fehlte nur noch die Steckdosenleiste, die wir zeitversetzt ein paar Tage später testeten: durch das Wasser hatte sie etwas abbekommen, so dass sie keinen Strom mehr lieferte. Um die Kaffeemaschine – und die nicht unwichtige Mikrowelle – an ihrer gewohnten Stelle weiter zu betreiben, benötigte die Dreier-WG mithin eine neue Steckdosenleiste. Zwischenzeitlich konnten wir die Freundin des einen WG-Bewohners als Verursacherin identifizieren, sie hatte die Kaffeemaschine zu voll mit Wasser gefüllt, so dass dieses überlief und die Steckdosenleiste unter Wasser setzte. An eine neue Steckdosenleiste heran zu kommen, war eigentlich einfach und dann doch wieder nicht. Unterhalb der Kellertreppe stand nämlich ein ganzer Karton voller Stecker, Verlängerungskabel und Steckdosenleisten. So erinnerten wir uns zumindest, denn mit einem Mal war dieser Umzugskarton wie vom Erdboden verschluckt. Niemand aus der Dreier-WG wusste, was mit dem Karton geschehen war – genauso wie mit den mehr als zwanzig verschwundenen Abtrockenhandtüchern. So hörten wir später Diskussionen zwischen dem einen WG-Bewohner und seiner Freundin. Sie habe kein Geld, und ihr Bruder lehne den Kauf einer Steckdosenleiste ab. Die beiden stritten miteinander, und es wurde laut. Unter der Woche versuchte seine Freundin, uns mehrfach zu Hause auf unserer Festnetznummer anzurufen – wegen ihrer nervigen Stimme und ihres unverständlichen Daherplapperns unterließ ich es aber abzuheben. Einstweilen werden wir das Problem mit der Steckdosenleiste aussitzen, derweil müssen sich die WG-Bewohner anderer Steckdosen bedienen, wenn sie die Kaffeemaschine betätigen wollen oder die Mikrowelle. In der 4. Kalenderwoche hat sich die Nicht-Fortführung des Gartenmarktes ab März 2025 weiter konkretisiert. Der Pachtvertrag läuft bis Ende Februar 2025, zudem ist der Inhaber gesundheitlich angeschlagen, so dass er den Pachtvertrag nicht verlängern will. Dies bedeutet für die Postagentur, dass diese geschlossen werden wird. Für die Mitarbeiterinnen bedeutet dies mit hoher Wahrscheinlichkeit die Arbeitslosigkeit – es sei denn, in irgendeiner noch zu findenden neuen Postagentur können die Mitarbeiterinnen weiter beschäftigt werden. Meine Frau würde gerne eine Erwerbsminderungsrente anstreben, bald wird sie 60 und es fehlt anscheinend an Energie und Chancen, sich in einem solchen Lebensalter beruflich neu zu orientieren. Für mich selbst wäre dann sechs Monate später Schluss, wobei noch auszugestalten wäre, was außerhalb von Haus, Garten und Enkelkinderbetreuung meine Lebensinhalte wären.


22. Januar 2024


Der Tag der Beerdigung war so pickepacke vollgepackt, dass wir vor der Beerdigung unser neues Gästezimmer aufgebaut bekamen. Bereits um 7 Uhr morgens, als ich gerade aus dem Bett heraus gekrochen war, klingelte das Telefon, dass das Möbelhaus um 8 Uhr bei uns sein würde. So kam der Möbelwagen pünktlich mit seinen Monteuren, um Bett und Kleiderschrank aufzubauen. Ordnungsgemäß, weit vor unserem Abfahrtermin zur Beerdigung, verrichteten die Monteure ihr Werk. Kurz nach 9 Uhr stand das neue Gästezimmer und eröffnete uns neue Möglichkeiten, Freunde übernachten zu lassen, wozu wir im Vorfeld kontroverse Diskussionen mit unserem Sohn hatten. Wozu überhaupt ein Gästezimmer ? Schließlich hätten in den letzten zwei bis drei Jahren lediglich einmal Freunde aus dem Saarland bei uns übernachtet. Für solche Häufigkeiten von Übernachtungen lohne sich kein Gästezimmer. Da war noch unsere Tochter aus Freiburg, aber auch ihre Anzahl von Übernachtungen lag vielleicht bei zweimal im Jahr. Nicht mitgerechnet hatte der Sohn unsere Katzen. Auch sie erfreut unser neues Gästezimmer, in dieser Situation ist es der Kater Jumbo, der sich auf der Bettdecke zusammen igelt. Zu anderen Tageszeiten kuschelten sich sogar drei Katzen auf dem neuen Doppelbett, dessen Breite als französisches Bett etwas zusammen geschrumpft ist. Deren Auswahl an kuscheligen Stellen hat sich durch das Gästezimmer erheblich vergrößert. Wenn nicht gerade Freunde bei ihren seltenen Gelegenheiten dort übernachten, erfreuen wir uns an unseren Katzen.



23. Januar 2024


Endlich eine wirkliche Perspektive nach vorne. Unstrittig ist, dass wir eine Perspektive haben werden mit der Geburt des Enkelkindes, auf das wir jeden Tag warten, errechneter Geburtstermin ist der 1. Februar. Egal, wie das Leben des noch nicht geborenen Enkelkindes aussehen wird: es wird uns bereichern, aber außerhalb davon ? Seit fast zwei Jahren befinden wir uns in einem Rhythmus des Arbeitens, Arbeitens, Arbeitens. Wenige Glanzlichter gibt es bei Geburtstagen, bei den Auftritten eines Christoph Brüske oder bei meinen Alleinausflügen, die ich mit niemandem teile. Nun hat meine Frau eine Initiative ergriffen, auf die ich mich sehr freue. Wir planen nämlich zu siebt einen Urlaub und wir haben gestern Abend gebucht: in Mecklenburg-Vorpommern am Ende der Welt, zehn Kilometer von der Ostsee entfernt, irgendwo zwischen Wismar und Rostock. Ein Ferienhaus in einem Bauernhof jenseits der Zivilisation, der nächste 500 Einwohner zählende Ort liegt zwei Kilometer entfernt. Unsere beiden Töchter samt Emil und Freund der anderen Tochter kommen mit, dazu der Schwager, das macht sieben Personen. Da dürfte sich hoffentlich verteilen, dass sich jemand um den kleinen Emil kümmert. Den gemeinsamen Urlaub zu planen, hat eine andere Qualität als Lochwände von IKEA an den Wänden anzubringen, das CD-Regal für den Schwager aufzubauen oder Dinge im Gästezimmer zu verstauen. Lochwand, CD-Regal und Gästezimmer machen Sinn und bereiten auch Freude, aber neue Gegenden zwischen Wismar und Rostock kennenzulernen und gemeinsame vierzehn Tage dort zu verbringen, diese Vorfreude steigert sich um ein Vielfaches. Mir macht es bereits jetzt Spaß, die Innenstädte von Wismar und Rostock im Internet zu studieren, mir einen Film des NDR in Youtube über die Insel Poel anzuschauen oder die Fahrpläne von Schiffstouren durch den Hafen von Wismar. Sich auf etwas zu freuen, das hat in den vergangenen Monaten allzu sehr gefehlt. Wenngleich wir uns bei dem kommenden Urlaub dahingehend einschränken müssen, wie Emils Lebensrhythmus in unsere Unternehmungen integriert werden kann.  



24. Januar 2024


Immer wieder hatte ich Versuche unternommen, mein Denken abzustecken und meinen Tagebucheinträgen eine Richtung zu geben. Beim letzten Versuch einer Denkstruktur hatte ich die Oberthemen Tagebuchchronik, 111 Orte, die Psychologie Simenons, Cafés und „Bad boys running wild“ genannt. Meine Leidenschaften für die Musik (Bad boys running wild von den Scorpions), Cafés, die Romane Simenons, interessante Orte sowie eine Chronologie der Geschehnisse sollten so zum Ausdruck gebracht werden. Die Suche nach Themen und Erzählungen geschieht dabei höchst ungleichmäßig. Andere Städte und Wanderungen liefern auf einen Schlag so viele Ideen, dass ich sie in ihrer Fülle nicht nieder schreiben kann. Im Alltag, wenn nichts gravierendes geschieht, fehlt es hingegen an solchen Inhalten, so dass ich mir diese teilweise an den Haaren herbei ziehen muss. Dabei sollten saubere Beobachtungen und ein Zuhören, was andere erzählen, permanent Themen zum Erzählen liefern können. Oft ist es aber so, dass Nebensächlichkeiten, Randthemen und Unwichtigkeiten im Tagebuch platziert werden, die mich im nachhinein nicht besonders interessieren. Vieles ist auf Fotos fixiert, die ich in Alltagssituationen gemacht habe, wozu dann ein Text gehört. Vielleicht kann bei dieser Suche nach Themen das Buch „Auf eine Currywurst mit Gregor Gysi“ helfen. Dieses Buch bringt einem bei, Fragen zu stellen. Es sind wichtige und unwichtige Themen, welche in das Innere des Befragten – hier Gregor Gysi – hinein gehen. Bisweilen kommt mir das eigene Tagebuch zu oberflächlich vor, es geht daran vorbei, was mein Inneres wirklich antreibt. Wer bin ich ? Wie sehen die Verbindungen zu anderen Menschen aus ? Was geht in meinem Inneren vor ? Was sind die Motivationen, Gefühle, Ängste, Hoffnungen ? Was ist unterdrückt und kommt nicht hervor ?  Sicher wird es Geheimnisse vor einem selbst geben, über die ich nie geschrieben habe. Nachdem ich an die 200 Seiten gelesen habe, ergibt sich bereits ein rundes Bild. Der Autor stellt zum Beispiel Fragen zu den Oberthemen der SED-Vergangenheit, zu Frauen, zur Rhetorik, zu Abenteuern, zu Geld, zu Medien, zu Eltern und Geschwistern und so weiter. Was in meinem eigenen Tagebuch nebensächlich erscheint, wird in diesem Buch mit einem Wesenskern vereint, was sich zu einem Ganzen formt. Aus diesem Buch werde ich lernen, die richtigen Fragen zu stellen, diese führen in bestimmte Themengebiete hinein. In meinem Tagebuch ist es genau umgekehrt. Ich beobachte Dinge, parallel dazu entstehen Fotos, aus diesen Beobachtungen formuliere ich die Tagebucheinträge. Das ganze Vorgehen müsste ich also überdenken. Themen zu Orten, wo ich nie hin gelange, fehlen. Zu den Nebensächlichkeiten im Tagebuch kommen dann noch Lücken, zu denen nie Fragen gestellt wurden. Es wäre schön, wenn mir ein rundes Ganzes gelingen würde so wie in den Gesprächen mit Gregor Gysi.



25. Januar 2024


Ein Aufkleber an einer Bushaltestelle, der einen vom Prinzip her erschrecken läßt. „Free Palastine“ ist in krakeliger Schrift auf die Flagge Palästinas geschrieben, wobei unklar ist, ob die Freiheit Palästinas aus tiefster Überzeugung gefordert wird. Oder aus einer allgemeinen Unmutsmentalität, die man zu meiner eigenen Schulzeit als Null-Bock-Mentalität bezeichnet hätte. Auflehnung hier und da, Aufmüpfigkeit, Rebellion. Gäbe es nicht den Krieg von Israel gegen die Palästinenser im Gazastreifen und gäbe es nicht Demonstrationen in deutschen Städten für die Freiheit der Palästinenser, könnte man die Äußerung auf einem solchen Aufkleber locker sehen. Unser Grundgesetz garantiert eine Meinungsfreiheit, wieso keine Freiheit für die Palästinenser ? Der Aufkleber kann einen erschrecken lassen, da wir Konflikte auf der Welt über die Migration importieren. Kurden demonstrieren, in manchen Städten wurde eine Scharia-Polizei gesichtet, Clans haben ganze Stadtteile im Griff. Parallelgesellschaften wollen sich nicht integrieren, und auf dem Aufkleber will die Flagge des palästinensischen Volkes gehört werden. Palästinenser und Juden werden es hierzulande nicht miteinander können, und der krakelige Schriftzug läßt eine Gewaltbereitschaft vermuten. Es drohen Konflikte über multiethnische Gruppen, denen der Staat womöglich nicht mehr beherrschen kann. Solche Stimmen für ein freies Palästina sind keine Bereicherung für unsere Gesellschaft.



26. Januar 2024


Weitere Fehlalarme, dass die Wehen bei unserer Tochter eingesetzt hatten, nervten. Wenn meine Frau mit unserer Tochter ins Krankenhaus gefahren war und wenn unsere Tochter an den Wehenschreiber angeschlossen wurde, dann waren diese unregelmäßig. Außerdem hatte sich der Muttermund null und gar nichts geöffnet. So harrten wir zu Hause mehr oder weniger frustriert der Dinge aus, die nicht kommen wollten, wobei sich der errechnete Geburtstermin immer mehr näherte. Abends machte meine Frau mehr oder weniger lange Spaziergänge mit unserer Tochter, außerdem unsere Tochter, um die Bewegung zu stimulieren, etliche Male die Treppe rauf und runter. Meine Frau stellte die These auf, dass bei unserer Tochter irgend eine innere Blockade vorhanden sei. Wenige Wehen würde sie zulassen, darüber hinaus hoffe sie auf einen großen Knall. Der Vorgang der Geburt sei an für sich unangenehm, so dass sie nicht wirklich dabei sein wolle. So käme die Verzögerung trotz der Wehen zustande. Beide – Mutter und Kind – hätten vereinbart, die Geburt möglichst weit nach hinten hinaus zu schieben, um erst nach diesem großen Knall wieder dabei sein zu wollen. Da inzwischen drei bis vier Tage nach dem letzten Krankenhausbesuch vergangen waren, fuhren die beiden gestern Abend erneut ins Krankenhaus, um wenigstens auszuschließen, dass der Muttermund sich geöffnet hätte und das Kind dann ganz plötzlich zur Welt kommen würde. Zunächst war das Procedere im Krankenhaus wie gewohnt, also ein Fehlalarm, dass sich nichts getan hatte beim Muttermund. Frau und Tochter befanden sich soeben auf der Rückfahrt, da bekam die Tochter im Auto heftige Krämpfe. Daraufhin kehrten die beiden ins Krankenhaus zurück, wo man sie, da die Wehen diesmal heftig und intensiv waren, dort behielt. So gegen zwei Uhr nachts kehrte meine Frau zurück und wir mussten denn die Dinge abwarten, wie sie sich in den nächsten Stunden und Tagen entwickeln würden.



27. Januar 2024


Auf der Suche nach Orten, wo man innehalten kann. Orte, die etwas besonderes sind, wo die Gedanken fließen und der Geist einen inspiriert. Heinrich Böll hatte solche Orte als „genius loci“ bezeichnet, der ursprünglich in der römischen Mythologie als Schutzgeist verwendet wurde. „Colline inspirée“ hatte der französische Schriftsteller Maurice Barrès einen solchen heiligen Ort auf einem Hügel genannt, der einst von den Kelten aufgeschüttet wurde. Solche inspirierenden Orte sind in unserer direkten Umgebung nicht allzu reich gesät. Die Monotonie von Wohnsiedlungen überwiegt, zu vieles erstickt im Verkehr. Die Felder sind platt, einfallslos und von Agrarfabriken dominiert. So bleibt das breite Band des Rheins, welches die Richtung weist. Ein Fixpunkt der Orientierung, der die beiden Rheinseiten voneinander trennt. Siegmündung, Fähre, Restaurants und Spielplatz liegen hier dicht beieinander. Vor der Fähre versammelt sich das Menschengewimmel, man nutzt die Möglichkeit zur Überquerung des Rheins mit Hilfe der Fähre. An dieser Stelle trennt der breite Strom nicht nur, sondern er vereinigt ebenso. Menschen flanieren die Uferpromenade entlang, es ist immer etwas los. Mit dem Fluss des Stroms und dem Fluss der Menschen fließen auch die Gedanken. Man kann die unterschiedlichen Arten von Schiffen beobachten, Containerschiffe, Schlepper, Massengutfrachter, Ausflugsschiffe und so weiter. Kurz war die Suche nach diesem inspirierenden Ort, ein kurzes Innehalten auf dem Parkplatz, nachdem ich die Bewohner der Dreier-WG vor dem Saal mit der Karnevalsveranstaltung abgesetzt hatte. Gerne hätte ich noch länger diesen inspirierenden Ort eingeatmet, doch ich musste nach Hause zurück, wo noch viel zu viel zu erledigen war.



28. Januar 2024


In der Dreier-WG konnte man dem einen WG-Bewohner, der keine Werkstatt besuchte, nur zögernd eine Zukunftsperspektive bieten. Als er noch die Werkstatt besucht hatte, wo seine beiden WG-Bewohner beschäftigt waren, hatte er in der Küche gearbeitet, wo er mit seinem Teamleiter nicht klar kam. Schließlich war er nur noch krank, er meldete sich aber nicht und ließ sich nicht weiter krank schreiben, so dass man ihm irgend wann kündigte. Seitdem war sein Tagesrhythmus vollkommen aus dem Rhythmus gegangen, nachts war er wach, er schlief bis in die Mittagszeit, und er hatte nie Geld, weil ihm der Werkstattlohn fehlte. Nun, in der 5. Kalenderwoche hatte er ein Gespräch mit einer Werkstatt für psychisch Kranke, wo er in der Küche arbeiten sollte. Nach diesem Gespräch, das sich mehrfach verschoben hatte, konnte man ihm keine genaue Perspektive bieten. Voraussichtlich ab 1. März könne er dort arbeiten, und dies für eine halbe Stelle, also bis mittags. Wir drücken ihm die Daumen, dass es doch mit der Tätigkeit in der Werkstatt klappen sollte, nachdem er bereits im September des Vorjahres erzählt hatte, er könne diese Werkstatt besuchen. In der 5. Kalenderwoche war an einem Tag der Zubringerbus ausgefallen, nachdem diese in einen Unfall hinein geraten war. Der Bus kam einfach nicht, bis der eine WG-Bewohner in Erfahrung brachte, dass später, gegen zahn Uhr, ein anderer Bus kommen würde. In der 5. Kalenderwoche fand eine schöne Veranstaltung für die Behinderten statt, nämlich eine ausschließlich für und mit Behinderten organisierte Karnevalsveranstaltung. Behinderte besetzten den Elferrat, sie führten Tänze auf und es gab reichlich Kuchen, Salate, Würstchen und Frikadellen zu essen. Dem Schwager gelang es sogar, eigenständig einen Nudelsalat zuzubereiten. Seit Ende November war der Schwager mittlerweile ohne Betreuung in seinen Alltagstätigkeiten. In der 5. Kalenderwoche hat sich nun eine Perspektive aufgetan für eine neue Betreuung. Es hat sich eine mögliche Betreuerin gemeldet, die ihr Büro auf dem Hardtberg hat. Mit ihr hat meine Frau einen Termin verabredet, wo sie die notwendigen Unterlagen mitbringen soll. Drücken wir die Daumen, dass die neue Betreuung klappen wird. Schließlich war der Krankenhausaufenthalt unserer Tochter von vorgestern doch ein Fehlalarm. Der Muttermund öffnete sich beständig nicht, so dass sie einen Tag später wieder nach Hause geschickt wurde. Seitdem warten wir erneut, wir warten und warten.


29. Januar 2024


Blick über den Friedhof auf die Grundschule, womit unser noch nicht geborenes Enkelkind in fernerer Zukunft Berührung haben wird. Die Ziegelsteinmauer steht im Vordergrund starr, das abgeschnittene Efeu verdüstert die Brüstung der Mauer. Grau in grau gehalten, sind die Erinnerungen an die Grundschule so blass wie die Kreuze auf dem von der Mauer eingefassten Friedhof. Diese Erinnerungen an die Grundschule, die unsere drei Kinder besucht haben, sind eher negativ gefärbt. Fing man bei der Schulleiterin an, so schläferte die Stimme der Schulleiterin ein. Ihre Reden waren eine Art von Selbstbeweihräucherung, die Schule stand im Mittelpunkt und hatte nur positive Botschaften zu vermitteln. Merkwürdig sprach sie durch die Nase, niemand hörte zu, alle hörten weg bei ihren Reden. In Ihrer Klasse fand sich unsere Tochter nicht zurecht. Sie wurde gemieden und fand keine Klassenkameradinnen, mit denen sie spielen konnte. Weil auch ihre Leistungen nicht stimmten, wiederholte sie ein Schuljahr. Danach fand sie Freundinnen, mit denen die Chemie stimmte. Im vierten Schuljahr hatte sie einen Fahrradunfall, bei dem sie ein Autofahrer erfasst hatte. Sie hatte Prellungen, Quetschung, eine Gehirnerschütterung und wir waren froh, dass nichts schlimmeres passiert war. Sie hatte ein paar andere Fehlstunden, und prompt wurden wir zu genau dieser Schulleiterin bestellt, dass ihre Fehlzeiten zu hoch seien und war wir zur Absenkung ihrer krankheitsbedingten Fehlzeiten unternehmen könnten. Das fanden wir unangemessen – der Fahrradunfall, bei dem sie mitten auf der Kühlerhaube eines BMW gelandet war, hätte ohne Fahrradhelm viel viel schlimmer ausgehen können. Ein anderes sehr unbefriedigendes Thema in der Grundschule war die Lese-Rechtschreibschwäche unseres Sohnes. Gebetsmühlenartig rannten alle Verantwortlichen durch die Gegend und proklamierten „der Lesevorgang muss erst zum Ende des vierten Schuljahres abgeschlossen sein“. Damit redeten sich alle heraus, es geschah keine besondere Förderung unseres Sohnes. Ausgeliefert an seine Lese-Rechtschreibschwäche landete er danach in der Hauptschule, wo er irgendwann ganz gute Leistungen zeigte. Wir fühlten uns regelrecht ignoriert, die Klassenstärke von fast dreißig Schülern wurde über einen Kamm geschert, ein individuelles Eingehen auf unseren Sohn wurde erst gar nicht versucht. „Der Lesevorgang muss erst zum Ende des vierten Schuljahres abgeschlossen sein“, so schob man unseren Sohn auf die lange Bank. Was mich selber in der Grundschule nervte, das war die Weihnachtsfeier zum ersten Advent. Ich habe schreckliche Erinnerungen daran mit eben dieser einschläfernden Rede der Grundschulleiterin. Im Vorfeld gab es stets einen explodierenden Mailverkehr, dass viel zu wenige Helfer sich für die Uhrzeit um 15 Uhr gemeldet hätten und dass noch Helfer gesucht würden. Die Feier an für sich war so etwas von langweilig, dass ich kaum einen kannte, mit dem ich ein Wort hätte wechseln können. Hätte ich indes die Adventsfeier verlassen, wäre mir die Tochter böse gewesen. So stand ich einfach nur herum, es war ein reines Totschlagen der Zeit und ich war froh, wenn alles vorbei war. Die Grundschule hinter der Ziegelsteinmauer – was würde unsere Tochter mit ihrem Sohn dort künftig erwarten ?   



30. Januar 2024


Wie ein Graffiti Tiefenpsychologie betreibt. „Das Leben ist zu kurz, um Angst zu haben“, mit diesem Spruch hat sich der Urheber auf einer Mauer verewigt. Der schwarze Schriftzug hängt hastig und unruhig auf der weißen Mauer, eine Unruhe und Angst, die sich in den tiefenpsychologischen Schichten vieler Menschen wieder finden dürfte. Jeder Mensch dürfte eine größere Anzahl von Ängsten in sich tragen: Kriegsangst, Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, Angst vor Inflation, Bindungsängste, Angst vor dem Verlust des Partners, Zukunftsangst, Angst vor Terroranschlägen, Angst vor Altersarmut und so weiter. Solche Ängste dürften sich im Unbewussten in tiefenpsychologischen Schichten ausbreiten, im Alltag ignoriert man solche Ängste gerne. „Das Leben ist zu kurz, um Angst zu haben“, so ein wenig verfahre ich selbst beim Umgang mit solchen Ängsten. Ich lasse die Ängste ruhen, und ich brauche keinen Psychologen, der all die ganzen Ängste sichtbar macht, so dass ich zuletzt Angst vor der Angst habe. Sich von Ängsten nicht dominieren zu lassen, die Klarheit im Denken behalten, den Alltag zu leben, die schönen Momente des Tages wahrzunehmen, dies drückt im Endeffekt auch dieser Spruch aus „Das Leben ist zu kurz, um Angst zu haben“. Ob sich der Urheber dieses Graffitis so viel dabei gedacht hat ? Im Inneren dürfte seine Persönlichkeit aber wahrscheinlich ähnlich aufgebaut sein wie mein eigenes Inneres.  



31. Januar 2024


2:30 Uhr heute Morgen, 3330 Gramm schwer, 53 Zentimeter groß, das berichtete meine Frau, als sie kurz vor 6 Uhr vom Krankenhaus zurück kehrte. Unsere Tochter hatte es geschafft ! Der kleine Emil war mit diesen Maßen um diese Uhrzeit heute Morgen geboren. Noch am Vortag, gegen 18 Uhr, war ich im Krankenhaus gewesen, als ich meiner Frau das Ladegerät und das Netzkabel für ihr Handy gebracht hatte, da der Akku des Handys leer zu werden drohte. Zu dieser Zeit, gegen 18 Uhr, litt unsere Tochter. Die Wehen kamen so ungefähr im Minutentakt, so heftig, dass sie diese nicht mehr veratmet bekam. Um diese Zeit, gegen 18 Uhr, war der Muttermund mit 2,5 Zentimeter nicht weit genug geöffnet. Am Tag zuvor, abends gegen 20 Uhr, war meine Frau mit unserer Tochter erneut ins Krankenhaus gefahren. Die Wehen waren stärker geworden, und die ganze Nacht über war meine Frau bei unserer Tochter im Krankenhaus geblieben. Morgens war der Muttermund um 2 Zentimeter geöffnet gewesen, später 2,5. Am Vorabend gegen 23 Uhr zeigte mir unser Sohn eine Textnachricht meiner Frau, dass es voran gehe, die Öffnung läge nun bei 4 Zentimeter. Den Rest verschlief ich, während meine Frau die Geburt live im Kreißsaal des Krankenhauses miterlebte. Kurz vor 6 Uhr teilte mir meine Frau die Nachricht über die Geburt mit, danach schlief sie zwei Stunden, um anschließend zu arbeiten. Derweil stand ich um 6 Uhr auf, machte mich auf den Weg ins Büro, wo der Vormittag vollgestopft war mit Terminen. Ab 11.30 Uhr war ich aber von Terminen frei, so dass ich nach Hause fuhr. Nach dem Mittagessen – meine Frau musste nachmittags abermals arbeiten – fuhr ich mit dem Sohn ins Krankenhaus, wo ich das Wunder des neu geborenen Enkelkindes mit Tochter und Sohn teilen konnte. Die Mama war überglücklich, während der kleine Emil neben ihr unter die Bettdecke gekuschelt war und schlief. Zweimal hatte sie ihn gestillt, was gut funktioniert hatte. Dieses kleine Stückchen Mensch mit 3330 Gramm Gewicht und 53 Zentimeter Größe hatte die Augen zugepresst, leise hörte man den Atem und die winzig kleinen Fingerchen griffen ins Leere. Es waren erhabene Momente, wovon unsere Tochter mit der Geburt alles komplett erlebt hatte. Sie konnte mächtig stolz auf sich sein.



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