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Tagebuch August 2023

1. August 2023


Entartet und deformiert, so könnte man den Finkenberg im Stadtteil Küdinghoven bezeichnen. Entartet und deformiert, weil bis in die 1950er Jahre Basaltabbau betrieben wurde. So wurde aus dem Finkenberg, einem der letzten Ausläufer des Siebengebirges, eine flache Kuppe. 30 Höhenmeter wurden abgetragen, als Basalt gefördert, und das Gestein wurde im Straßen- und Wegebau verwendet. Es war ein Schicksal als Steinbruch, das der abgetragene Berg mit manchen anderen Steinbrüchen im Siebengebirge teilte. Abgetragen sind mit diesem Werdegang die idyllischen Perspektiven, die der rheinische Landschaftsmaler Andreas Achenbach 1834 in einem Ölgemälde verewigte: ein einzigartiger Ausblick von dem Berggipfel, in der Ferne floß der Rhein, die Gipfel des Siebengebirges als dekorative Kulisse im Hintergrund. Rheinromantik in seiner verspielten Gestaltungsform, eingerahmt von Wäldern und dem breiten Strom des Rheins. Entartet und deformiert, fungierte der Finkenberg nach dem Ende des Basaltabbaus als Müllkippe. In den Löchern von zwei Steinbrüchen sammelte sich Wasser, es bildeten sich Seen. Die Müllkippe wurde wieder verfüllt, und auf dem Plateau wurde eine Grünanlage mit einer Wiese, Waldstücken und Spazierwegen angelegt, ein grüner Flecken mitten in der Stadt, eingezwängt von einem Industriegebiet und der vielbefahrenen Königswinterer Straße. Die Skulptur „Akkord I“ beschreibt den Werdegang des Finkenbergs: einst idyllische Landschaftsszenerie, dann entartet und deformiert, später Naherholungsgebiet, aber nicht mehr so schön und vollkommen wie vor dem Basaltabbau. Die Schönheit, wie sie Andreas Achenbach gemalt hat, kann jedenfalls nicht mehr zurück kehren. Sie läßt sich nur noch andeuten im Umfeld einer Wohn- und Industriebebauung, wo diese Parkanlage als grüne Insel überdauert hat.

2. August 2023


Wie solche Straßenlaternen die Hilflosigkeit der Stadtverwaltung aufzeigen. Momentan wird alles von oben nach unten gedreht, alles wird seziert und auseinander genommen. Es herrscht hektische Betriebsamkeit, alle Kostenpositionen werden angepackt und durch leuchtet, wo auch nur ein Cent eingespart werden kann. Denn die Stadt hat kein Geld mehr, sie ist quasi Pleite und unterliegt einem Haushaltssicherungskonzept, wonach in zehn Jahren ein ausgeglichener Haushalt erwirtschaftet werden soll. Die Ausgaben sind in die Höhe geschossen, ohne dass es ein Mensch bemerkt hat. Die kernragen lauten nun: Welche Ausgaben sind notwendig und auf welche Ausgaben kann man verzichten ? Diese Frage ist nicht so leicht zu beantworten, denn bei so ungefähr allem, was die Stadtverwaltung leistet, gibt es einen gesetzlichen Auftrag, diese Leistungen erbringen zu müssen. So Personalausweise, Führungszeugnisse, Meldebescheinigungen, aber auch Schulen, Kindergärten, Wohngeld, Sozialhilfe und so weiter. Da kann man nicht einmal so einfach den Rotstift ansetzen. An diesen Leistungen hängt wiederum Personal. Wenn ich etwa an die Berge von Papier denke, die bei einem Wohngeldantrag zusammen kommen, bin ich skeptisch, ob sich jemand dahinter klemmt, all dieses Papier zu digitalisieren, um die Prozesse zu verschlanken und damit Personal einzusparen. Das läuft darauf hinaus, dass die Vorgehensweisen, Kosten einzusparen, denjenigen in meiner anfänglichen Berufszeit bei der damaligen Deutschen Bundespost ähneln: die großen Kostenbrocken sind beim Sparen tabu, gespart wird vielmehr beim Kleinkram. Dies sind solche Straßenlaternen, die die Hilflosigkeit der Stadtverwaltung aufzeigen. Um Strom zu sparen, tappt man von 23 Uhr nachts bis 5 Uhr morgens im Dunkeln. Zappenduster ist es um diese Uhrzeit, die Straßenlaternen werden einfach ausgeschaltet. Ich bin zwar keine Nachteule, dass ich um diese Uhrzeit aus der Kneipe komme und mühselig das Schlüsselloch ertasten muss. Aber für Frauen oder andere ängstliche Personen dürfte dieser Zustand untragbar sein. In unserer Stadt sind die Lichter ausgegangen. Die desaströsen Finanzen dürften die Verantwortlichen wach gerüttelt haben, dass es so nicht weiter gehen kann.


3. August 2023


Morgen stand ein großer Tag an, ein großer Tag mit einer großen Feier, denn der Freund unserer Tochter wurde 18 Jahre alt. Aus Brandenburg reiste er an, und er feierte bei seiner Mutter zwei Nachbarorte weiter. Wochen vorher hatte sich unsere Tochter bereits das Geschenk für ihren Angebeteten ins Haus liefern lassen: der Bote von Amazon hatte ein Paket mit Hanteln zugestellt. Der bald 18-jährige war etwas zart gebaut, und mit den Hanteln wollte er seinem Körper etwas mehr Manneskräfte verleihen. Es waren mehrere Hanteln mit mehreren Kilogramm, was das Paket dementsprechend schwer werden ließ. Auch der Paketbote von Amazon dürfte dies gut gespürt haben. Immer noch etwas belastet vom Herzinfarkt, war das Hochheben für mich keine triviale Übung. Ich musste meine Kräfte sammeln, und neben meinem Herzen wurde auch mein Rücken beim Hochheben ordentlich strapaziert. Das Paket nur wenige Meter durch das Wohnzimmer zu tragen, war eine ähnliche Strapaze. Heute kam nun der Tag, der bevorstehende Geburtstag des Freundes unserer Tochter, an dem es als Geschenk eingepackt werden sollte und an den Ort des Geburtstags mit dem Auto transportiert werden sollte. Bereits das Einpacken in Geschenkpapier umfasste eine gewisse Prozedur. Das Geschenkpapier musste nämlich rundum um das Paket verpackt werden, wozu das Schwergewicht von Boden zu heben war und von der Unterseite einzupacken war. Dies gelang, indem die beiden Frauen das Papier elegant unter das hochgehobene schwergewichtige Teil schoben. Dort konnte in der Ursprungsposition stehen bleiben, und nach dem Einpacken verzierten die beiden Damen es mit Bändern und Schleifchen. Der Geburtstag konnte nun gefeiert werden, und bis heute habe ich es leider vergessen, unsere Tochter zu befragen, ob sich ihr Freund auch darüber gefreut hatte.

4. August 2023


Heute stelle ich fest, dass sich der Fluss der Gedanken auf eine natürliche Art einstellt. Ich war im Büro, hatte ein gewisses Pensum abgearbeitet, vieles war aber noch offen, was sich zur nächsten Rücksprache mit dem Chef am Montag auch nicht ändern würde. Eine Straßenbahnfahrt und der Gang durch die Buchhandlung am Marktplatz reichten aus, um den Gedankenfluss zu ermöglichen. Inspirationen und Anstöße kamen aus der direkten Umgebung, das Herumblättern in den Büchern trieb die Gedanken an. Der Begriff „Flow“ wird gerne im Zusammenhang mit natürlichen Abläufen verwendet. Man ist tätig, betätigt sich mit körperlicher oder geistiger Arbeit, Schritte aktiven Tuns setzen aufeinander auf. Dieses aktive Tun muss nicht deckungsgleich mit Arbeit sein, da der Antrieb von innen kommt, es liegt eine persönliche Betroffenheit vor, man ist motiviert. In einem „Flow“ könnte man Büroarbeit abarbeiten, Arbeiten zu Hause oder beispielsweise Hobbies, was man gerne so macht. Leider kommt solch ein „Flow“ nicht ganz so oft vor, weil die Arbeit entfremdet ist – im Sinne von Marx -, sie ist von oben angeordnet, man ärgert sich nur herum oder man steckt in einem Hamsterrad des ständigen Abarbeitens – wie zu Hause bei der Gartenarbeit. Bei vielen Tätigkeiten zu Hause fehlt dieser „Flow“, bei der Büroarbeit kriege ich diesen hingegen hin, weil sich die Momente freien „Flows“ wie bei einer Straßenbahnfahrt oder beim Gang durch die Buchhandlung kombinieren lassen. Ganz abwesend darf die Arbeit nicht sein, denn ansonsten würde die Zielrichtung fehlen. Man würde sich nur noch verzetteln. Das Tun wäre nicht mehr produktiv, Ergebnisse würden nicht mehr zustande kommen. Arbeit und Nichtstun sind die Gegenpole, aus deren Kombination entsteht der „Flow“.


5. August 2023


Wie ich die Erinnerungen an einen anderen Ort in Form eines Fotos nach Hause übertrage. Man kann noch so genau hinschauen, wie man will, auf Geschwindigkeitsbeschränkungen, irgendwas an einem unübersichtlichen Ort übersieht man doch. Diesmal war es die Rückfahrt von unseren Freunden in Saarbrücken, kurz vor der Grenze vom Saarland nach Rheinland-Pfalz. Im Autobahndreieck Nonnweiler mündet die Autobahn A62 in die Autobahn A1, auf einer langgezogenen, beinahe geradlinigen Linkskurve darf man nur 70 Stundenkilometer fahren. Genau dies hatte ich erst dann gesehen, als es bereits zu spät war. Zuvor war ich die komplette Linkskurve schneller als 70 Stundenkilometer gefahren, zumal die Kurve nicht besonders scharf war. Dass ich geblitzt wurde, hatte ich nirgendwo gesehen, es war aber so. Anstatt der erlaubten 70 war ich mit 87 Stundenkilometern durch die Kurve geflitzt. Ein schönes Foto, auf dem ich mich sofort wieder erkannte, schickte mir das Landesverwaltungsamt in St. Ingbert zu. Mit einem Anhörungsbogen, was ich auch Online erledigen konnte. Ich legte erst einmal die Post beiseite, denn von unseren Besuchen bei unserer Tochter in Freiburg war ich ähnliches gewohnt. Irgendwie tat ich mich in Freiburg schwer, die 30er-Zonen zu erkennen, denn dort war ich mit an die 50 Stundenkilometer geblitzt worden. So erledigte ich denn mehrere Wochen später meine Online-Anhörung und ich wartete der Dinge ab, wie viel Euro ich letztlich zu zahlen haben würde.


6. August 2023


In der 31. Kalenderwoche ist der Urlaub zu Ende gegangen und ich habe meine Arbeit wieder aufgenommen. In den Tagebucheinträgen der vergangenen Woche habe ich mich des öfteren mit Ausprägungen und Inhalten von Arbeit zu Hause befasst. Zu Hause sehe ich nur Arbeitspakete, die wegzuarbeiten sind, meist ohne Freude, Sinn und Inhalt. Weil sich Missverständnisse häufen, viele Abläufe sind mir fremd, die Befindlichkeiten sind hoch, und manchmal ist es wohl auch viel zu viel, was abzuarbeiten ist. Bei der Arbeit gibt es hingegen so etwas wie Leitlinien. Die Wertschätzung ist hoch, wir arbeiten im Team, mit wenigen Ausnahmen ist der Umgangston freundlich. So kommt es, dass meine Motivation im Kreis meiner Arbeitskollegen einiges höher ist als zu Hause. Solch ein „Flow“, wie ich ihn Tage zuvor beschrieben habe, kann somit nur in einer Kombination von Büroarbeitsplatz, dem Umfeld der Stadt und den sich dort befindenden Menschen entstehen – und nicht zu Hause, zumal die Umgebung des Wohnortes nicht unbedingt inspiriert. Ein Wohlfühlgefühl – auch in Verbindung mit zu Hause – hat sich in dieser Kalenderwoche wieder eingestellt. In derselben Kalenderwochen ist es unserer Tochter gelungen, ihre Krankenversicherung für ihre Ausbildung ab 1. September zu regeln. Da sie in einem sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsverhältnis stehen wird, kann sie bei mir nicht mehr mitversichert bleiben, sondern sie muss sich selbst in einer gesetzlichen Krankenkasse versichern. Dazu hat sie mit der Techniker-Krankenkasse telefoniert, welche sie versichern wird. Unterlagen und eine Versicherungsbescheinigung wird sie in der folgenden Woche erhalten. Seit etwas längerer Zeit war sie mit Freunden unterwegs, im Siegburger Kino hat sich die Gruppe den Barbie-Kinofilm angeschaut. Mit dem Bus war die Gruppe unterwegs, und mitten in der Nacht, gegen halb 12 war unsere Tochter zurück. Freundlicherweise hatte ein früherer Klassenkamerad sie bis an die Haustüre begleitet. Drei Jungs und unsere Tochter hatten sich den Film angeschaut, wobei wir uns gewundert hatten, dass so viele Jungs sich den Mädchen-lastigen Film angeschaut hatten. Darüber hinaus haben wir ein etwas mulmiges Gefühl, was den Ausbildungsbeginn unserer Tochter in einigen Wochen betrifft. Sie schläft sehr lange, steht kaum vor 11 Uhr auf. Sie liegt viel, bewegt sich wenig und ist kaum an der frischen Luft. Die Umstellung vom derzeitigen Lebensrhythmus auf die Ausbildung wird enorm sein. 40% der Ausbildung wird Berufsschulunterricht umfassen, die restlichen 60% eine praktische Ausbildung am Krankenhaus in Bonn-Beuel. Sie wird pünktlich sein müssen, im Praxisteil wird sie sieben Stunden und ein bißchen mehr pro Tag arbeiten müssen. Dazu kommt die Schwangerschaft. Wir hoffen, dass sie durch hält, dass sie sich engagiert, dass sie einen guten Eindruck hinterläßt und dass eventuelle Fehlzeiten wegen Krankheit das zulässige Maß nicht überschreiten werden. In der Dreier-WG war bei dem einen WG-Bewohner das Bett kaputt. Am Verbindungsstück des Seitenbrettes mit dem Vorderteil waren die Schrauben aus dem Holz gerissen, wozu starke Kräfte gewirkt haben müssen. Der Bewohner konnte sich nur diffus äußern, dass dies geschehen sei, als seine Freundin anwesend war, und dass dies zur nächtlichen Zeit geschehen sei. Dies war das Problem auf, wie denn mit solchen Kosten umzugehen sei, wenn die WG-Bewohner allenfalls die Grundsicherung erhalten und so gerade in der Lage sind, ihren Bedarf an Ernährung und Lebensmitteln zu decken. Springt in solchen Fällen der Staat ein ? Oder wo kommt das Geld her ? Letztlich löste sich dieses Problem ganz einfach. Unser Freund, der sich mit Möbeln auskennt, schaute vorbei  und hatte Holzschrauben dabei, die ein Stück länger waren. Nun war die Verbindung zwischen den beiden Brettern wieder fest und das Bett war repariert. Alle 14 Tage kommt seine Freundin zu Besuch, und an diesem Wochenende war es genau umgekehrt, dass er bei seiner Freundin verweilte. Während seiner Abwesenheit gingen wir am Sonntagmorgen mit dem anderen WG-Bewohner und dem Schwager im Eiscafé frühstücken. Er freute sich riesig, dass wir ihn einluden, da er lediglich von der Grundsicherung leben musste, wovon Freizeitaktivitäten nur in geringem Umfang finanzierbar waren. Er erzählte von seinem baldigen Urlaub in Polen. Verwandte seiner Mutter wohnten in Polen, wo sie bereits häufiger Urlaub gemacht hatten. Seine Vorfreude auf den Urlaub war groß.


7. August 2023


Beim Frühstücken mit unserer Tochter im Eiscafé hatte meine Frau formuliert, was denn wie umzuräumen, umzugestalten und auch zu renovieren sei, damit wir Platz schaffen könnten für den erwarteten Nachwuchs unserer Tochter. Mehr als fünf Monate Zeit hätten wir zwar noch, diese Zeit würde aber viel zu schnell vergehen. Daher sollten wir frühzeitig mit dem Umräumen, Umgestalten und Renovieren beginnen, um keine Zeit zu verlieren, und wir sollten auch nicht herum trödeln. Letzten Samstag fanden wir schließlich den Anfang im Keller. Unser Abstellraum im Keller war ja eine einzige Rumpelkammer für aufgebaute LEGO-Sets, deren Fragmenten, für im Dorftrödel nicht verkauften Hausrat und allen möglichen Krimskrams. Regelmäßig waren Dinge, unsortiert, dazu gestellt worden. Als erstes räumten wir diese Ecke, um Regale aus dem alten Zimmer unserer Tochter dorthin zu stellen. Meine in dieser Ecke stehende alte Stereoanlage, die mir meine Frau für an die tausend Euro einmal geschenkt hatte, musste weichen. Umzugskartons mit Büchern mussten ebenso weichen, außerdem gab es Krach mit meiner Frau, weil ich einiges weggestellt hatte, ohne auf eine pflegliche Behandlung zu achten. Macken und Kratzer auf Holz waren die Folge. Der Transport der Regale vom ersten Stock in den Keller gestaltete sich ein wenig schwierig. Beim Tragen lösten sich Regalbretter voneinander, so dass wir sehr sorgsam die Tritte von einer Treppenstufe auf die nächste machen mussten. Das zweite Regal schraubte unser Sohn sogar ganz auseinander, um ein Auseinanderbrechen der Verbindungen zu verhindern. Das Fazit dieses Tages war, dass wir einen Anfang geschafft hatten. Nun mussten wir jeden Tag in kleinen Schritten das Umräumen fortführen.

8. August 2023


Viel zu viel Bürokratie bei der Ausstellung einer Verordnung durch den Augenarzt. Der Schwager besucht am Wochenende ein Seminar, wo man ihm auch Augentropfen verabreicht. Dazu benötigt der Veranstalter des Seminars eine Verordnung. Mit der Augenarztpraxis, welche die Verordnung ausstellen sollte, hatte ich massive Probleme, Kontakt aufzunehmen. Ich hatte nämlich beabsichtigt, die Verordnung telefonisch anzufragen. Diese telefonische Kontaktaufnahme brachte mich zur Verzweiflung, da die Leitung entweder besetzt war, oder wenn diese frei war, meldete sich niemand. Da niemand erreichbar war, fuhr ich nachmittags gegen 17 Uhr in die Praxis. Dort konnte ich den beiden Sprechstundenhilfen mein Anliegen vortragen, doch sie wiesen mich ab. Sie hätten bereits eine Verordnung erstellt, und sie dürften diese nicht doppelt ausstellen. Ja, das war richtig, ich selbst hatte sogar diese bereits vorliegende Verordnung dort in Empfang genommen. Der Anlass der Verordnung war gewesen, dass das Rote Kreuz dem Schwager von montags bis freitags ihm morgens die Augentropfen verabreichte, dazu brauchte das Rote Kreuz genau diese Verordnung. Dies ersahen die beiden Sprechstundenhelferinnen in ihrem Rechner und nannten mir einen Zeitraum bis Ende September, solange war diese Verordnung gültig. Während des Gesprächs mit mir bimmelte übrigens pausenlos das Telefon, ohne dass sich eine der beiden Damen bequemte, den Telefonhörer abzunehmen. Bar jeglicher Kundenbedürfnisse, bürokratisiert sich das Gesundheitswesen. Pflegedienste brauchen Beauftragungen, was sie zu tun haben, der Veranstalter des Seminars genauso. Die eine Sprechstundenhelferin erklärte mir, dass eine solche Verordnung keinen bestimmten Auftragnehmer nennt. Man müsse also die Verordnung, die das Rote Kreuz hat, dem Veranstalter des Seminars vorlegen. Vielleicht reiche auch ein Doppel, denn ein Doppel hätten wir ausgehändigt bekommen. Dazu müssten wir mit dem Roten Kreuz und dem Veranstalter des Seminars herum telefonieren. Und das Doppel suchen. Da blieb nur zu hoffen, das weder das Rote Kreuz noch der Veranstalter des Seminars eine solche unterirdisch schlechte Erreichbarkeit haben dürfen wie der Augenarzt.

9. August 2023


Wenn ich anfange, meine persönlichen Lowlights zu reflektieren, dann könnte ich mit alledem beginnen, was Handwerk und technisches Verständnis betrifft. Die Defizite sind enorm, dazu hatte der Historiker Philipp Blom einmal den Begriff „Deskilling“ verwendet, was genau auf mich zuträfe. Deskilling bedeutet, dass sich der Mensch in seinem Spektrum von Tätigkeiten immer mehr spezialisiert hat, die er besser beherrscht, und mit fortschreitender Spezialisierung haben die allgemeinen Kenntnisse um so mehr abgenommen. Bei mir gilt dies insbesondere für technische Zusammenhänge, selbst ein gewisses Grundwissen in Physik scheint mir abhanden gekommen zu sein, und dies gilt für die haptischen Fähigkeiten, mit den Händen etwas anzupacken. Beispiel von zuletzt ist unser schnurloses Telefon, das wir Ende letzten Jahres zugesandt bekommen haben. Einige Monate funktionierte es bestens, dann funktionierte gar nichts mehr und ich tauschte die Batterien. Ich hätte die Batterien so oft tauschen können, wie ich wollte – es funktionierte nur kurzzeitig. Die Batterien luden nicht mehr auf auf der Ladestation, es kam kein Freizeichen, wenn man das Handgerät wegnahm von der Ladestation. Oder es klingelte nur auf der Basisstation in unserem Schlafzimmer, während das Telefon in unserem Wohnzimmer stumm blieb. Irgendwann klingelte die Basisstation in unserem Schlafzimmer gar nicht mehr oder sie klingelte zwar, aber hörte nicht auf zu klingeln. Dieses Rätsel konnte ich nur in Teilen lösen. Der Grund für den Defekt der Basisstation waren ausgelaufene Batterien, weil ich diese nie gewechselt hatte. Nach dem Batterietausch funktionierte unser Telefon dann wiederum nur für wenige Wochen. Dazu empfahl mir unser Sohn, in die Bedienungsanleitung hinein zu schauen. Im Internet las ich nach, dass für unseren Gerätetypen Akkus einzulegen waren – und keine Batterien. Daraufhin bestellte unser Sohn diese Akkus bei Amazon. Heute hat der Amazon-Zusteller uns diese ins Haus geliefert, und wir sind gespannt, ob wir nach dem Einlegen dieser Akkus in die Basisstation plus Handgerät mit unserem Telefon wieder ganz normal telefonieren können.


10. August 2023


Was so alles zutage kommt beim Aufräumen unseres Kellers … Dass größere Mengen an Büchern in etlichen Kisten versteckt waren, war mir bekannt. Ich hatte allerdings keinen Überblick über das Ausmaß, was ich in meinem bisherigen Leben alles gelesen habe. Was davon noch präsent ist und was irgend welche Verästelungen und Verzweigungen gewesen waren, was längst vergessen ist und was wichtig oder unwichtig ist. Ich stelle fest, dass vieles den Reise- und Freizeitaktivitäten entsprungen ist, so dass sich jede Menge Literatur über die Niederlande, Belgien, Frankreich und auch Spanien wiederfindet. Gewisse Kernstränge und Konzepte habe ich erst in den letzten Jahren aus – überwiegend – philosophischer Literatur abgeleitet, zu vieles hat sich bis dahin unsystematisch in unspezifische Richtungen entwickelt. Daher auch dieser Berg von Büchern. Zu dieser unspezifischen Literatur gehört etwa alles zu Politik – Politik ist ein ausufernder und viel zu großer Themenbereich – dazu gehören ferne Länder, die ich nie und nimmer bereisen werde, oder auch französischsprachige Literatur, die mittlerweile viel zu mühselig zu lesen ist. Beim Sichten habe ich allerdings auch festgestellt, dass wirklich gute Bücher dabei sind, die genau zu diesen Kernbereichen gehören. Fragestellungen in diesen Kernbereichen: wie ist der Mensch ? Was treibt ihn an ? Wie verhalten sich die Menschen untereinander und in Gemeinschaften ? Was sind seine Lebensinhalte und Visionen ? Welchen Impact haben Technik, Arbeit und Ökonomie auf den Menschen ? Und einige Fragestellungen mehr. Zu diesen wirklich guten Büchern gehört etwa dieser Wälzer über Kunstgeschichte. Er geht von A bis Z, er beginnt bei den Assyrern und geht bis in die Nachkriegszeit, er zählt alle kunstgeschichtlich relevanten Epochen auf, er erläutert deren Stilelemente und bewegt sich überwiegend in Kernteilen Europas. Diese Stilelemente lassen sich von den großen Bauten auf die kleinen Bauten übertragen, wie man sie etwa im Rheinland vorfindet. Die Kunstgeschichte als eine der Kernstränge und Konzepte: schöne Kirchenbauten begeistern mich genauso wie mittelalterliche Städte, Überreste aus der Römerzeit oder Schlösser. Dieser Wälzer erzählt die chronologische Reihenfolge, was wann und wie entstanden ist und wie es zusammen gehört.  


11. August 2023


Den Schwager habe ich zum Seminar „Ich, die anderen und unsere Körpersprache – selbstbewusster auftreten“ gebracht. Das Seminar fand in Much statt, wohin ich uns über die Bundesstraße B56 kutschierte. Much, das tief in den ländlichen Strukturen des Bergischen Landes lag, hatten wir früher des öfteren auf dem Weg zu den Karl-May-Festspielen durch fahren. Nach dem sauber zusammen gescharten Ort mit dem spitzen und hohen Kirchturm der ursprünglich romanischen Kirche wiesen die Kürzel „FIT“, die für die Begrifflichkeiten „Freizeit, Integration & Training“ standen, den Weg. Wir kurvten rauf und runter, hin und her, quer durch die Landschaft, und ohne die durchgängige Beschilderung hätte ich mich äußerst schwer getan, das weit außerhalb des Ortskerns gelegene Hotel zu finden. In dem Tagungshotel war der Ansturm groß, denn es fanden außer dem einen Seminar noch ein anderes über Fußball statt. Mehrere Kleinbusse der Lebenshilfe hatten geparkt, darunter konnte ich mir die Lebenshilfen aus Bochum und Recklinghausen merken, und am Empfang herrschte ein dementsprechend großer Betrieb. Alle Teilnehmer waren mit Handicap, und die Damen am Empfang fragten Personalausweis, Schwerbehindertenausweis, die Krankenkassenkarte und die Verordnung von Augentropfen und Stützstrümpfen ab. Anschließend durfte der Schwager auf sein Doppelzimmer, wo sich sein Zimmergenosse Benedikt bereits eingerichtet hatte. Das Doppelzimmer war aber verschlossen, so dass wir nach dem Zimmerschlüssel nachfragen mussten. Danach verblieb eine Viertelstunde bis zum Beginn des Seminars. Der Schwager wartete in der Nähe einer Anrichte, wo später Kuchen und Kaffee gereicht würden. Ihn in guten Händen wissend, verabschiedete ich mich und fuhr in Richtung Much, wo ich diesen Flecken erkunden wollte, den ich ansonsten nur von der Durchfahrt her kannte.

12. August 2023


„Bleibt zuversichtlich, bleibt empathisch und bleibt treu“, so verabschiedete sich Wolfgang Niedecken von seinen Fans auf dem Bonner Kunstrasen. Ein wahrhaft fulminantes Konzert ging damit zu Ende nach drei Stunden, die Wolfgang Niedecken rauf und runter spielte, aus dem Repertoire seiner mehr als 40-jährigen Musikgeschichte. Mit Freunden hatten wir uns getroffen zum Konzert mit Wolfgang Niedeckens BAP an diesem lauen Sommerabend, wo der Rasen in der Rheinaue die Regenmengen der vergangenen Wochen gut verkraftet hatte. Nur wenige Pfützen behinderten die Stehfläche, aber wir mussten warten auf Freunde aus der Umgebung von Siegen, dessen Anfahrt sich wegen Umleitungen und der Sperrung der Südbrücke verzögert hatte. Dadurch rückten unsere Stehplätze ziemlich weit nach hinten, so dass die Sicht auf die Bühne nicht optimal war. Nur als winzige Punkte konnten wir die Musiker auf der Bühne erkennen, verdeckt durch die Köpfe der vor uns Stehenden, so dass wir im wesentlichen auf die Großbildschirme rechts und links von der Bühne schauten. Sanfte und rockige Töne spielte Wolfgang Niedecken, seinen Kölschen Dialekt sang er rauf und runter, er sang alte und neue Stücke, bekannte und weniger bekannte, er trat auf als Mahner, als Mensch mit Zivilcourage und war auf Diktatoren und die AfD schlecht zu sprechen. So machten Stücke wie „Kristallnaach“, „Ruhe vor’m Sturm“ und „Arsch huh“ einen Wesenskern seines Repertoires aus. Unbekannte Stücke wie „Bleifooss“, „Alexandra“ oder „Nimm mich mit“ begeisterten mich ebenso. Und das Konzert wurde länger und länger … nach einer Zugabe war das Konzert noch nicht zu Ende, dem folgte eine weitere Zugabe, in der Wolfgang Niedecken schließlich seine erfüllende Lust als Musiker entdeckte, die Menschenmassen auf dem Rasen Open Air zu begeistern. Aus dieser Lust wurden drei Stunden Konzert, ein wahrer Rekord, was meine persönlich erlebten Konzerte betraf. Eine besondere Lust verspürte Wolfgang Niedecken, seine älteren Stücke zu spielen. „Ich hätte gedacht, so etwas spielen wir nie mehr, und dann haben wir es doch gemacht“, so beschrieb Wolfgang Niedecken diese wieder entdeckte Liebe zu den alten Stücken. Und diese brachten die Menge geradezu zum Ausflippen. „Jupp“ haute mich regelrecht vom Hocker mit einem Wahnsinns-Gitarrensolo, wozu sich selbst Wolfgang Niedecken wunderte, dass sein Gitarrist dazu in der Lage sei. Den „Müsli-Mann“ brachte er in einer Variation, dass Flöten die Grundtöne vorgaben. „Anna“ war bei den alten Stücken genauso dabei wie „Wenn et bäde sich lohne tät“ oder „10. Juni“. Kurzum: drei Stunden Wolfgang Niedecken lieferten ein wahres Feuerwerk ab. Diesem Feuerwerk setzte er in einer Ankündigung noch einen drauf, dass im Dezember vier Konzerte in den Kölner Sartory-Sälen geplant waren mit Stücken, die vierzig Jahre oder älter waren. Diese vier Konzerte seien zwar in Windeseile ausverkauft gewesen, er plane aber eine komplette Tour mit diesen alten Stücken. Das machte Lust auf mehr Wolfgang Niedecken. Seine Abschiedsworte „bleibt zuversichtlich, bleibt empathisch und bleibt treu“ gewannen hierdurch einen besonderen Optimismus.

13. August 2023


Die 32. Kalenderwoche war unter anderem geprägt durch einen Zahnarzttermin. Es ging um meine Zahnprothese, die aufgefüllt werden musste, da diese übermäßig bis hin zum Metallkörper durch gebissen war. Normal sei dies nicht, meinte mein Zahnarzt, er hatte mir dazu auch ein Plastikschiene angefertigt, die ich allerdings fast nie trug. Vier Jahre war meine Zahnprothese gerade einmal alt. Dieses Auffüllen der Zahnprothese sollte mehr als eine Woche dauern, wofür mir der Zahnarzt ein Provisorium anfertigte. Mit diesem Provisorium konnte ich mehr schlecht als recht kauen, und beim ersten Biss in eine Rosinenschnecke brach mir prompt ein Stück des Provisoriums ab. Fortan konnte ich nur noch weiches Essen, Suppen, Nudeln mit Soße, breiige Kost und dergleichen essen. Was die Arzttermine betraf, hatte unsere Tochter einen Termin bei der Frauenärztin. Es war die einmal monatliche Kontrolluntersuchung, Ultraschall von der Gebärmutter, Blutabnahme, Urinprobe. Das Foto des Embryos war diesmal bemerkenswert. Die Gesichtszüge waren dermaßen scharf gezeichnet, dass man glauben konnte, mein Gesicht in dem Embryo wiederzuerkennen. In den Neugeborenen erkennt man gerne die Opas wieder, meinte meine Frau dazu. Bei unserem Sohn war dies dahingehend so, dass er bei der Geburt genau das Gesicht seines Opas von der Seite meiner Frau hatte. Die Woche war ebenso dadurch geprägt, dass meine Frau Urlaubsvertretung machte. Ihre Chefin sowie ihr Mann, der Leiter des Gartenmarktes, waren in Urlaub, so dass meine Frau jeden Tag Vollzeit – vormittags und nachmittags – arbeiten musste. Indes kümmerte sich unser Sohn rührig um das Abendessen und nahm dabei besondere Rücksicht auf mich, indem er Hühnersuppe, Tomatensuppe, Nudeln mit Gehacktes und andere leckere weiche Kost kochte. Beim Einkaufen der notwendigen Zutaten hatte ich allerdings mit meiner Frau eine heftige Diskussion wegen Mehrfachpunkten. Bei REWE hatte ich lediglich für fünf Euro und bei dm für acht Euro (Katzenfutter) eingekauft. Meine Frau hatte allerdings Mehrfachpunkte aktiviert, die sich bei solchen niedrigen Einkaufssummen nicht lohnten. Ich hätte besser meine Payback-Karte nicht vorzeigen sollen. Eine E-Mail sorgte für ein relatives Durcheinander in der Dreier-WG. Meine Frau hatte ja die Gruppenkasse bemängelt, dass dort nichts stimmte, die Belege passten nicht zu den Eintragungen, es fehlten Belege, die Einzahlungen in die WG-Kasse fehlten und so weiter. Hier entschlossen sich die Verantwortlichen zu einem ungewöhnlichen, für sie bequemen Schritt: sie lösten die WG-Kasse auf. Aus der WG-Kasse wurden ja Einkäufe getätigt, die für alle waren und keiner Person zugeordnet werden konnten, das waren Spülmittel, Spülmaschinentabs, Klopapier, WC-Reiniger, Seife, Küchentücher und so weiter. Das Geld hatten nun die drei Bewohner, und nun war es der Intelligenz der Betreuer überlassen, diese Einkäufe auf die Bewohner gleich zu verteilen und das Einkaufsbudget der drei gleich zu belasten. Die Unfähigkeit, die Kasse ordnungsgemäß zu führen, wurde nun durch Unwägbarkeiten abgelöst, ob nun alle gemeinsam von der WG benötigten Dinge vorhanden sein würden. Wir fanden dies ein Armutszeugnis der Verantwortlichen inklusive der Betreuer, vor ein bißchen Mathematik eines Kassenbuches gleich zu kapitulieren und das Handtuch zu werfen.


14. August 2023


Bei der Abholung des Schwagers von seinem Tagungshotel in Much habe ich gelernt, dass der Ort Much eine kurze und intensive Beziehung zu Heinrich Böll gehabt hatte. Böll hatte ich eigentlich Köln zugeordnet, er war in Köln geboren und ein ureigenes Südstadtkind. 1939 war er als Soldat zur Wehrmacht einberufen worden, und im Zweiten Weltkrieg, 1942, hatte er seine Ehefrau Annemarie geheiratet. Nachdem deren gemeinsame Wohnung in Köln-Bayenthal ausgebombt worden war, fanden sie Zuflucht im Bergischen Land bei Much, wo der Bruder ein unzerstörtes Haus organisiert hatte. Von 1944 bis 1946 wohnte Heinrich Böll in der Ortschaft Berghausen bei Much. Die Fronturlaube waren intensiv, als er bei seiner Ehefrau verweilte, so dass sie 1944 schwanger wurde. Nach Kriegsende, im Juli 1945, wurde ihr Sohn Christoph. Er lebte aber nur drei Monate lang, bis er an Brechdurchfall starb. Seine Fronturlaube versuchte er, so lange wie möglich zu verlängern, indem er einen Arzt gefunden hatte, der ihn so lange wie möglich wehrunfähig krank schrieb. Kurz vor Kriegsende, im März 1945, musste er dennoch als Soldat zum Kriegsdienst zurück kehren. An verschiedenen Frontabschnitten hatte er im Zweiten Weltkrieg in Frankreich, Polen, Rumänien, Ungarn und Rußland gekämpft, und nur einen Monat später geriet er diesmal in US-Amerikanische Kriegsgefangenschaft. All dies beschreibt er in seinen Kriegstagebüchern, die er von Oktober 1943 bis September 1945 geführt hatte. Im Herbst 1945 wurde Heinrich Böll aus seiner Kriegsgefangenschaft entlassen, und bis 1946 fand er in Much seine Bleibe, bis die Kriegsschäden an deren Wohnhaus in Köln-Bayenthal beseitigt waren. Über die Zeit der Familie Böll in Much informierten mich bei der Abholung des Schwagers von seinem Tagungshotel in Much zwei Hinweistafeln. Es gibt sogar einen Heinrich-Böll-Wanderweg, der wichtige Lebensstationen auf der Wegstrecke des Wanderwegs zusammenfasst.

15. August 2023


Der Rhein als sinngebende Struktur. Felder, Berge, Wälder oder auch Auen können Landschaften in ihrer Struktur zeichnen. Sie verleihen Form und Inhalt, sie entwickeln von dem, was man sieht, immer mehr atemberaubende Details. Doch wenn ein Fluss mittendrin liegt, ist die Trennlinie einiges schärfer. Zumindest wenn es Flüsse in einer Breite sind, wie es der Rhein in unserer Umgebung ist. Köln mit der Altstadt und dem Dom, Bonn mit dem Siebengebirge oder Koblenz mit der Festung Ehrenbreitstein, all dies sind gewaltige Panoramen, denen der Rhein als Fluss seine Schwerkraft gibt. Landschaften ohne solch einen Fluss sind subtiler und feinsinniger, sie haben keine solche Monumentalität. Welche Strukturen Flüsse schaffen, das ist mir an dieser von zu Hause weit entfernten Brücke in Duisburg bewusst geworden. Es war die Brücke der Autobahn A40, die den Blick nach Norden öffnete, wo der Rhein weiter in die niederrheinische Landschaft gegen Dinslaken und Wesel floss. Hier geschah der Übergang von der niederrheinischen Flachlandschaft in die Städteregion des Ruhrgebiets. Von dieser Stelle aus konnte man erkennen, was den industriellen Charakter des heutigen Duisburg prägte: die Stahlindustrie hatte sich im Norden rund um den Alsumer Berg gegen ihren Niedergang behauptet, in seitlicher Position zum Rhein verharrten die Hafenbecken des Duisburger Hafens, der an die Rheinbrücke angrenzende Stadtteil Homberg war gezeichnet von der chemischen Industrie. Rohre, Destillationsanlagen, Kessel, Schächte, Abluftrohre. Es war ein Gewirr von Rohren und Anlagen, denen ich stets skeptisch gegenüber gestanden hatte. Aus dieser Stadtlandschaft mit dem Rhein als vereinigendes Band heraus ragend, hatte ich inzwischen eine positive Grundeinstellung zu diesem Mix von Industrieanlagen gewonnen. Obschon gerade die Kohle- und Stahlindustrie im Zeitverlauf massiv abgebaut hatte, waren die Industrieanlagen ein notwendiger Bestandteil dieser Stadtlandschaft. Ich unterstellte eine Wichtigkeit, dass Dinge hergestellt wurden, die die Bevölkerung brauchte. Güter wurden in die ganze Welt exportiert, die weiter verarbeitet wurden und womit die Menschen ihre Bedarfe deckten. Dabei war der Rhein eine logistische Transportader mit einer sinngebenden Struktur.

16. August 2023


Der Altmarkt in Moers – ein historischer und schöner Platz, wie man ihn selten in Deutschland vorfindet. Fast nur Cafés und Restaurants scharen sich um diesen Platz, die gut besucht sind bei sommerlichem und nicht zu heißen Wetter. Der Platz ist Zentrum, hier spielt sich das öffentliche Leben ab, man trifft sich und redet viel. Unterbrochen wird diese Grundstruktur von Cafés und Restaurants lediglich durch zwei Apotheken und einen Juwelier. Hier beginnt mein Puls zu schlagen und meine Gedanken beginnen zu kreisen. Als ältester Platz in Moers, der bereits in Grundrissen von 1590 zu finden ist, sind die Fassaden der umgebenden Häuser filigran und schön. Stuckarbeiten über den Fenstern, Jugendstilelemente zwischen den Geschossen, Jahreszahlen auf den Giebeln um die 1900er-Jahrhundertwende. An mancher Fassade aus Backsteinen und mit geschwungenem Giebel spürt man sogar den Einfluss der nahen Niederlande. Und die Mitte des Platzes krönt kein Denkmal, sondern der Reichsadler. Ein solches Denkmal, das den preußischen König Friedrich I. zeigt, steht fest und unverwüstlich auf dem Neumarkt. Mit dem Reichsadler lassen aber auch hier die preußischen Herrscher grüßen. Mit Gott und König und Vaterland – in diese Worte haben sie auf der Rückseite des Sockels ihre Herrscherpose gefasst. Der Reichsadler ist längst durch den Bundesadler abgelöst worden, und an dieser Stelle pflegt man die Kultur des Miteinanderseins und des Gesprächs.

17. August 2023


Nein, so hatte ich Krefeld ganz und gar nicht in Erinnerung. Kurz vor Ausbruch der Corona-Pandemie war ich dort gewesen, ich hatte die Samt- und Seidenweberstadt schätzen gelernt. Sie war nicht direkt hübsch, hatte unter den Kriegszerstörungen stark gelitten, hatte nichtsdestotrotz ein gewisses historisches Erbe seiner Textilindustrie und auch einige gemütliche Ecken gezeigt. Heute, als Ziel der Fahrradtour zeigte sie ein ganz anderes Gesicht. Mit dem Rennrad war ich einmal quer durch die Fußgängerzone, ich wollte ein Weizenbier trinken und blieb hängen in der Eckkneipe, die sich „Zum Ziellenbach“ nannte. Außer den Cafés rund um das Extrablatt war nichts nennenswertes zu finden, wo man hätte ein Bier trinken können. Nur Billigläden in der Fußgängerzone, Ramsch, kaum Fachgeschäfte, die wenigen Ladenzeilen rund um den Kaufhof & Co hatte ich längst verlassen. Wo Stühle draußen standen und wo man sich hätte hinsetzen können, war alles fest in vorderasiatischer Hand. Ich wehre mich dagegen, etwaige Aversionen gegen solche Bevölkerungsgruppierungen zu zeigen, etwaige Feindlichkeiten gegen diese Menschen sind mir ebenso fremd. An dieser Stelle gegenüber dem Hansa-Zentrum, wo ich saß, fühlte ich mich jedenfalls an ein Youtube-Video erinnert, dessen Titel lautete „Krefeld, keine Stadt zum leben“. Dieses Video konstruierte den Zusammenhang zwischen der Dominanz von ausländischen Bevölkerungsgruppierungen und dem Zerfall der Stadt. Hatte ich vor der Corona-Epidemie gewisse kunsthistorische Orte aufgesucht, so bot die heutige Fahrt mit dem Rennrad quer durch die Fußgängerzone ein ernüchterndes Bild. Auffällig waren diverse Grüppchen mit Vollbärten und ganz seltsam gestylten Frisuren, die ein arabisches Aussehen hatten. Viele Frauen mit Kopftuch trotteten vorbei, mit schweren Plastiktüten beladene Afrikaner oder ältere Herren aus dem heimischen Kulturkreis, die ihr Hab und Gut in Stofftaschen auf einem Rollator mitführten. Viel zu schräg war ein Typ, der von oben bis unten am Körper tätowiert war, selbst auf seinem Glatzkopf. Die Beine schwelgten in Tattoos, und häßlich waren auch die Farbpigmente auf seinen Ober- und Unterarmen. Ganz seltsam war der ältere Herr am Nachbartisch, der Bier und Weinbrand durcheinander trank, und dabei ein Brötchen aus seiner Hosentasche zückte, diese in Krümeln zerriss und an Tauben verteilte, die sich langsam näherten. Er schien Gott und die Welt zu kennen, und viele, die vorbei schritten, grüßten ihn und winkten ihm zu. Ich hatte im letzten Jahr einen Tagebucheintrag geschrieben über Remscheid als eine der häßlichsten Städte in Deutschland. An dieser Stelle, draußen vor dieser Eckkneipe, dürfte sich Krefeld zu Remscheid dazu gesellen. Was ich von Krefeld gesehen hatte, stimmte mich dennoch nicht pessimistisch. Die Fahrradfahrt verlief durch so manches schöne Waldgebiet am Stadtrand von Krefeld. Das Elend begann erst mit der Fußgängerzone, der innere Kern von Krefeld scheint wohl vollkommen entleert und wesensfremd zu sein. Zu vieles scheint hier schief gelaufen zu sein.

18. August 2023


Im wesentlichen war es heute unserem Kater Rambo zu verdanken, dass der Tag durcheinander gebracht wurde. Eigentlich hatte ich einen Büroarbeitstag geplant, und ich hatte mich auf die morgendliche und nachmittägliche Fahrradfahrt gefreut, vielleicht mit einem Zwischenstopp auf einen Kaffee im Biergarten. Doch daraus wurde nichts, dank Rambo. Schon die letzten beiden Tage waren Termine mittendrin, Fußpflege, Zahnarzttermin, das Medikament Xonvea für die Tochter organisieren, was eine hoch komplexe Übung war. Daher heute die Freude auf den Büroarbeitstag mit wenigen Terminen und hoffentlich wenig Stress. Unser Kater Rambo kam dazwischen, weil meiner Frau aufgefallen war, dass seine linke Hinterpfote angeschwollen war. Wie in so mancher anderen Situation hatte ich kein Auge dafür. Zusätzlich fiel auf, dass er sehr passiv war. Er wollte nicht nach draußen, fraß wenig und lag lange an derselben Stelle. Eine Telefonkonferenz hatte ich am Morgen, dann musste ich unsere Tochter wegen Aufklebern auf den Mutterpass zur Frauenärztin fahren. Zum Termin um 11.30 Uhr bei der Tierärztin war ich zu spät, weil ich der Tochter noch die Bushaltestellen zeigen musste, wie sie von der Frauenärztin mit dem Bus nach Hause zurück fahren konnte. Als die Tierärztin unseren Kater untersuchte, stellte sie eine Verletzung der rechten Hinterpfote fest. Es sah so aus, als hätte ein anderes Tier dort hinein gebissen. Dazu fiel unserem Sohn später allenfalls ein, dass unser Kätzchen Lilly dies hätte sein können, weil sie sich gerne mit unseren anderen Katzen zankte. Unser Kater Rambo hatte indes fast vierzig Grad Fieber, außerdem war eine Stelle an der Pfote vereitert, die sie mit einem Skalpell aufschnitt. Eiter und Blut quollen heraus, und sie scheute einen weiteren Schnitt, weil dies qualvoll war für unseren Vierbeiner. So beließ sie es bei diesem Schnitt, doch sie piesackte ihn weiter mit zwei Spritzen, eine gegen die Schmerzen und die andere mit einem Antibiotikum. Mit dieser Mixtur von Medikamenten mussten wir ihn weiter behandeln: Schmerzmittel und Antibiotikum, und zwar ab Sonntag. So hofften wir, dass die Schwellung und die Entzündung der Wunde zurück gehen würde.

19. August 2023


Wie bei seinen Vorstellungen in den vergangenen Jahren, ging der Kabarettist Christoph Brüske von der großen Politik über zum Lokalgeschehen. So an die zweihundert Zuhörer hatten sich eingefunden auf dem Vorplatz vor der evangelischen Kirche zu seinem Programm, das in diesem Jahr den Titel trug „Tanz mit dem Vulkan“. Er tanzte nicht, aber er untermalte seinen Humor mit Gesang. So andeutungsweise konnte man seinen Humor so verstehen, dass er Eruptionen wie ein Vulkan beim Publikum hervor rief. Bei unserem neuen Verteidigungsminister brachte er seine 83 jährige Mutter ins Spiel. Sie verwechselte ihn mit dem behinderten Sportler Pistorius, und als er den Vornamen Boris unseres Verteidigungsministers nannte, meinte seine Mama, es handele sich um Boris Becker, der noch im Gefängnis säße. Dieser Neu-Verteidigungsminister fand sich sogleich wieder auf einem Foto mit Armin Laschet, wo er diese als eineiige Zwillinge bezeichnete. Unsere Außenministerin Anna-Lena Baerbock vertonte er in dem Sommerhit „Macarena“, indem er aus voller Brust „Hey Annalena“ sang. Ein anderes Stück, das er abwandelte auf die große Politik, war „The answer is blowing in the Wind“ von Bob Dylan. Er schrieb diesen Song um auf unseren Kanzler, der die Rechnung in Form der Schulden im Bundeshaushalt in den Wind schrieb. Bei der großen Politik hatte er das Thema Fracking im Visier. Wir in Deutschland wären in der Lage, über einen längeren Zeitraum unseren Bedarf an Erdgas aus Niedersachsen zu decken. Dagegen regte sich allerdings Widerstand, da dieses über Fracking gewonnen würde. Genau dieses Gas aus Fracking erhalten wir aber nun über die LNG-Terminals. Es wird Gas aus den USA importiert, welches genau nach dieser Abbaumethode gewonnen wurde. Ebenso schimpfte er auf die Klimakleber, die mit ihren Aktionen ganz normale Bürger schädigten, deren Notwendigkeit ihrer Autofahrt normalerweise nicht abzusprechen war. In der Hysterieliga stünden sie ganz oben, meinte er, und besser sollten sie zum Beispiel ihre Proteste vor der Strompreisbörse in Leipzig durchführen, wo Spekulanten den Strompreis unnötig in die Höhe trieben. Oder sie sollten den Porsche eines Christian Lindner mit alten 9 Euro-Tickets betackern. Mit der Angst bekam er es bei der AfD zu tun. Die Umfragewerte stiegen in immer größere Größenordnungen, und mit Schrecken dachte er an drei Landtagswahlen im nächsten Jahr in drei neuen Bundesländern. Womöglich war dies die Thematik, die er mit dem Titel seines Programms – Tanz mit dem Vulkan – umreißen wollte. Von diesen großen Themen glitt er über in den Mikrokosmos unserer Stadt und der dazugehörenden Stadtteile. Den Biergarten in unserem Nachbarort hatte ein anderer Besitzer übernommen, der sich darin üben solle, Speisen unter dreißig Euro anzubieten. Die Ironie des Kabarettisten ließ grüßen. Er verballhornte den Namen der Frauenärztin, die mit Nachnahmen Bruski hieß, wozu er äußerte, dass er unter eigenem Namen als Gynäkologe in seiner Freizeit praktizieren würde. Dieselbe Doppeldeutigkeit kam beim Kreuzfahrtschiff Aida zutage. Er meinte nicht die Kreuzfahrt, sondern die Inhaberin des Restaurants „Zur Alten Post“, die bald ihren Restaurantbetrieb aufgeben wollte und mit Vornamen Aida hieß. „5-Sterne, 5-Zimmer Hotel“ fügte er als Versprecher an, denn neben Restaurant und Gaststätte konnte man dort auch übernachten. Er nahm die Lokalpolitik mit ihrem tiefroten Haushalt aufs Korn. Ab 23 Uhr wurden alle Straßenlaternen ausgeschaltet, um Strom zu sparen. Hier rief er den Bürgermeister auf den Plan. Ab 23 Uhr solle er die Straßen abklappern und die Zeit ansagen. Bezogen auf die Kriminalität, fasste er das Ausschalten der Straßenlaternen in dem Vers zusammen: „Diebe und Ganoven, geht zurück nach Gremberghoven“. Er zählte so manche Geschäfte auf der Hauptdurchgangsstraße auf, aus denen er eine Versicherungsagentur heraus hob: zukunftsorientiert würde er denken, und genau deshalb werde er sein Kapital, was er als Kabarettist erwirtschaftete, mit einer Anlageform als Versicherung in die Zukunft schauen. Um sein Programm zu beenden, ehrte er Marius Müller-Westernhagen. „Ich will nie wieder weg“ war sein letztes Lied, das er von seinem Stück „Wieder hier“ abgekupfert hatte. So äußerte er sich als der mit seiner Heimat verwurzelte Kabarettist, der im folgenden Sommer in abgewandelter Form bestimmt wieder den Spannungsbogen von der großen Politik zum Lokalgeschehen bilden würde. Der Tanz mit dem Vulkan war am heutigen Abend nicht so glühend heiß ausgefallen, wie man es hätte befürchten können.  

20. August 2023


In der 33. Kalenderwoche haben sich die Spannungen zwischen dem einen WG-Bewohner und dem Schwager dramatisch zugespitzt. Die Spannungen hatten sich aufgebaut, weil der WG-Bewohner zu laut ist. Er hat eine laute Stimme, er bemerkt nicht, wie laut er spricht und er ist morgens aktiv und redet viel – ganz im Gegensatz zum Schwager. Und er streitet viel mit seiner Freundin, wenn sie alle vierzehn Tage am Wochenende in seinem Zimmer verweilt, der Streit entwickelt sich in einer dementsprechenden Lautstärke, so dass das Einschlafen unter Umständen schwerfällt. Dazu hat es bereits Beschwerden von Nachbarn gegeben. Als Reaktion auf die Lautstärke seines Mitbewohners hat der Schwager nun so reagiert, dass er nicht mehr mit ihm redet und ihn wie Luft behandelt. Außerdem hat er ihn ausgesperrt. Als der WG-Bewohner auf die Terrasse gegangen war und eine Zigarette geraucht hatte, verschloss der Schwager die Küchentüre, so dass der WG-Bewohner nicht mehr von der Küche in den Flur gelangen konnte. Ebenso sperrte er ihn im Keller aus. Er verschloss die Kellertüre, so dass er auch von dort nicht in den Flur gelangen konnte. Mit meiner Frau redete der Schwager nicht, was vorgefallen war, wieso er sich so verhielt. Daraufhin ging meine Frau mit ihm im griechischen Restaurant essen, wo der Schwager ganz langsam über die Lautstärke des WG-Bewohners zu erzählen begann. Einstweilen haben wir den Schwager bei uns schlafen lassen, damit er dem WG-Bewohner nicht tagtäglich über den Weg läuft. Positiv ist beim Schwager zu vermelden, dass er Wohngeld erhält. Er hat eine satte Nachzahlung erhalten, von der er sich im nächsten Jahr wohl einen Urlaub leisten kann. Um finanzielle Dinge ging es auch in einem Video-Call unserer Tochter mit dem Diakonischen Werk. Zweimal war dieser Call verschoben worden, das eine Mal seitens der Diakonischen Werkes, das andere Mal hatte sich die Tochter die falsche Uhrzeit gemerkt. Aus der Bundesstiftung Mutter und Kind standen unserer Tochter Zuschüsse für Schwangerschaftsbekleidung und Babyausstattung zu. Aus einer bestimmten Möbelserie konnte sie sich Möblierung für ein Kinderzimmer aussuchen, ebenso Babybekleidung in einem Laden des Diakonischen Werkes in Siegburg. Das verbesserte die finanzielle Situation unserer Tochter, die bislang noch ohne Einkommen gewesen war.


21. August 2023


Bisweilen suche ich danach, in Werbung Botschaften zu entdecken. Von der Zweckbestimmung her hat Werbung grundsätzlich eine Botschaft, die allerdings verkaufsorientiert ist. Werbung spornt den Homo Oeconomicus an, sie ist stumpf, am besten soll dieser Homo Oeconomicus, dessen Bedarf an Waren nie gesättigt ist, in das nächste Geschäft zu rennen und dort oder auch im Internet ein bestimmtes Produkt kaufen. Mit dieser Verknüpfung von Verkauf sind sinngebende Botschaften schwierig. Und dennoch: im Kölner Hauptbahnhof hatte ein großflächiges Plakat eine einleuchtende Botschaft. „Eine Frau zu sein, sollte kein Risiko sein.“ Die AXA-Versicherungen mochten damit wohl auch den Verkauf von deren Versicherungen einkalkuliert haben, die Botschaft war aber in sich schlüssig. Das Plakat führte dazu aus, dass vier von fünf Frauen eine Rente unterhalb der Armutsgrenze hatten. Kindererziehung und auch Pflege von Angehörigen verhinderten eine Karriere, Familie und Beruf ließen sich meist nur in einer Teilzeitbeschäftigung vereinbaren. Oftmals waren Frauen in Jobs im Niedriglohnbereich tätig, was alles ein niedriges Einkommen verursachte, im Alter lag dann die Höhe der Rente oftmals unterhalb der Armutsgrenze. Dazu kamen all die Alleinerziehenden, bei denen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf noch schwieriger war. „Eine Frau zu sein, sollte kein Risiko sein“: Werbung und Wahrheit waren hier eine ungekannte Symbiose eingegangen. Im Quergang des Kölner Hauptbahnhofs war dieses Plakat prominent platziert, quasi unübersehbar hing dieses Plakat im Blickfeld, und jedermann und jederfrau konnte sich der Wahrheit dieser Worte bewusst werden.

22. August 2023


Mit einem Gefühl von Angst und Grummeln im Bauch verabschiedete ich mich von unserer Tochter. Mit der Bahn fuhr sie zu ihrem Freund nach Brandenburg, was so eine ziemliche Nacht-und-Nebel-Aktion gewesen war. Um ein paar Tage mehr in Brandenburg verbringen zu können, kam im Grund genommen nur noch der Zeitraum Ende August in Frage. In Kürze, zum 1. September, würde sie ihre Ausbildung beginnen, was über ein normales Wochenende mit der Bahn kaum zu schaffen war. So hatten wir überlegt, mit dem Auto mit ihr dorthin zu fahren, dann wieder zurück zu fahren und sie für einen bestimmten Zeitraum dort zu lassen. Dies verschob sich aber immer mehr nach hinten, weil unsere Tochter Termine hatte. Welcher Zeitraum überhaupt noch möglich war, dem kam ihr Freund zuvor. Hin- und Rückfahrt mit der Bahn organisierte er, und der Zeitraum sollte nicht allzu kurz sein. So kam die Hinfahrt am heutigen Tag und die Rückfahrt am kommenden Montag zustande. Unsere Tochter kam nicht umhin, sich dazu gedrängt gefühlt zu haben. Wenn sie zurück kehren würde, verblieben noch drei Tage, bis sie ihre Ausbildung beginnen würde. Wäre es nach uns gegangen, wäre der Zeitraum kürzer ausgefallen, da die Termine und die To do’s bei weitem nicht abgearbeitet waren. Zudem hing die Diskussion zum Erziehungsstil im Raum, ob zur Erziehung auch Schläge gehörten oder nicht. Ihr Freund war wohl mit Schlägen erzogen worden, was sein Vater dahingehend kommentierte, dass er eine „harte Hand“ brauche. Unsere Tochter hatten wir hingegen kein einziges Mal geschlagen. Ihr Freund hatte dies unumstößlich behauptet, danach ging er allen Diskussionen zu diesem Thema aus dem Weg. Und dann war da noch diese strategische Diskussion, ob sie mittelfristig ihren Lebensmittelpunkt in Brandenburg sehen würde. Und dann waren da noch all die Bedenken, ob sie in ihrer Schwangerschaft solch eine lange Zugfahrt durch halten würde. Dass sie ich hoffentlich nicht übergeben musste oder gar zusammen brechen würde. So überwog beim Abschied am S-Bahnhof Porz-Wahn ein mulmigen und unsicheres Gefühl. Klappte die Zugfahrt mit dem ICE ? Würde sie heil und unbeschadet in Berlin-Spandau ankommen, wo sie abgeholt würde ? Würde sie während ihres Aufenthaltes in irgend eine Richtung gedrängt ? Würde sie genauso heil und unbeschadet die Rückfahrt überstehen ? Wir hofften das beste, und wenigstens die S-Bahn war bei ihrer Abfahrt pünktlich.

23. August 2023


Wie herrlich ist es, nichts zu tun und dann dabei auszuruhn: dieser Spruch fiel im Kreis meiner Kollegen, wovon ein Kollege, mit dem ich viele Jahre zusammen gearbeitet hatte, bald in den Ruhestand gehen würde. Bald, das war zum 1. September, was mithin in einigen wenigen Tagen geschehen würde, genau genommen, waren es 6 Netto-Arbeitstage. Kollegen, die im wesentlichen REFA-Zeitaufnahmen gemacht hatten und ihn langjährig begleitet hatten, hatte er zum Essen im italienischen Restaurant Tuscolo gegenüber der Münsterkirche eingeladen. Es wurde ein sehr schöner Abend, der besondere Akzente bekam durch ebenso langjährige Kollegen, die seit längerer Zeit im Ruhestand waren. Der Zeitraum der Zurruhesetzung lag bei ihnen von 2017 bis 2019 zurück, und diese Kollegen waren aus der Gegend von Darmstadt, Herne, Wolfsburg und Braunschweig angereist. Im Hotel übernachteten sie, und eine Kollegin ging auf Krücken, sie stieß später zu uns dazu. Sie brachte eine andere Kollegin im Ruhestand mit, die ich so noch nie gesehen hatte. Insbesondere die Gespräche mit den einstigen Kollegen aus Herne und Wolfsburg waren sehr wertvoll, wobei bei dem einen Kollegen aus Herne das Umfeld so geblieben war, wie es früher war. Der andere Kollege hatte sich hingegen nach Wolfsburg verändert, nachdem er zuvor sein restliches Leben in Köln gewohnt hatte. Zuletzt war er 70 geworden, und der Grund für den Umzug war, dass die Eltern seiner Frau beide in Wolfsburg wohnten. Sie waren pflegebedürftig, 82 und 83 Jahre alt, und wohnten so ungefähr um die Ecke. Der einstige Kollege hatte sich nicht schwer damit getan, Köln zu verlassen, und er mochte die ländliche Struktur rund um Wolfsburg. Und umgekehrt mochte er, dass er von der Wohnung im Zentrum von Wolfsburg mit Bus und Bahn alles erreichen konnte, so dass die beiden kaum das Auto benötigten. Gelegentlich kam er nach Köln zu Terminen bei seinem Gefässarzt. Dann fuhr er mit dem ICE nach Köln, verbrachte etwa zwei Stunden in der Kölner Innenstadt und fuhr wieder mit dem Zug zurück nach Wolfsburg. Ich hoffte auf ein Wiedersehen in Wolfsburg, zumal er mir eine Übernachtungsmöglichkeit in deren Wohnung anbieten konnte. Im Laufe des Abends scherzten wir viel, wir lachten viel und ließen die vergangenen Zeiten wieder aufleben. Ich selbst hatte keinen REFA-Schein, so dass ich keine Zeitaufnahmen durchführen konnte. Ich war aber gerne mit den Kollegen, die Zeitaufnahmen machten, mitgefahren, um mir anzuschauen, wie vor Ort gearbeitet wurde. Das konnte ich für mein eigenes Tagesgeschäft gut gebrauchen. 49,09 betrug die Anzahl der Dienstjahre meines Kollegen, der in wenigen Tagen in den Ruhestand gehen würde. Dies lag ganz knapp unter der Marke von 50 Dienstjahren, die höchst selten erreicht wurde. Geschafft hatte dies genau der in Wolfsburg wohnende Kollege in Ruhestand, der mit 15 Jahren seine Lehre begonnen hatte und bis zum 65. Lebensjahr gearbeitet hatte. Als er damals zu dem Zeitpunkt, als er die 50 Dienstjahre erreicht hatte, zu einer Dienstreise nach Hamburg unterwegs, hatte er ein großes Gemurmel und einen großen Unglauben darüber erregt. Andere Kollegen aus dem Controllingbereich, die zu der Dienstreise mitgefahren waren, hielten dies für unfassbar, dass man so loyal und so treu für solch einen langen Zeitraum für denselben Arbeitgeber tätig sein konnte. Wie verbringt man den Ruhestand ? Einige frühere Kollegen berichteten darüber. Sie versuchten, den Tag zu gestalten. Sie regten sich nicht mehr über Dinge auf, bei denen sie sonst wahnsinnig geworden waren. Sie unterließen es, sich Talkshows im Fernsehen anzuschauen. All die Probleme, die bei Maischberger, Lanz & Co diskutiert wurden, nahmen sie mit einer Leichtigkeit, die sie sonst nicht gekannt hatten. Sei befassten sich lieber mit den angenehmen und schönen Dingen des Lebens. Es war auch eine Frage der Definition. Die Angereisten waren keine Rentner, sondern Pensionäre. Vor sehr vielen Jahren waren sie als Beamte eingestellt worden, ihr Beamtenverhältnis war nicht erloschen, und als Beamte im Ruhestand erhielten eine Pension. Manche hatten vor dem Beamtenverhältnis bei einem anderen Arbeitgeber gearbeitet, so dass ihnen auch eine Rente zustand. In solch einem Fall gab es Regelungen, dass die Rente gezahlt und die Pension gekürzt wurde, wobei die Pension stets den Großteil der Bezüge ausmachte. Worüber wurde sonst beim Ausstand des Kollegen geplaudert ? Der eine Kollege, der sich noch im Arbeitsleben befand, machte seine Witze. Es war schon immer seine Art gewesen, gemeinsame Abende mit Witzen aufzulockern. Ein Gläubiger wollte mit dem lieben Gott telefonieren und auf dem Alten Markt und der Domplatte stand ein rotes Telefon. Dort kostete das Telefonat mit dem lieben Gott 1.000 Euro, was dem Gläubigen zu teuer war. Dasselbe rote Telefon stand im Kölner Dom. Was kostete dort das Telefonat mit dem lieben Gott ? Nur 50 Cent – weil es ein Ortsgespräch war. Naturgemäß redeten wir über frühere Zeitaufnahmen – und mit der alten IT-Systemwelt, die unfassbar schwierig zu handhaben war. Lange Zeit redete der eine Kollege über KONTES-ANDI, wozu ich bestätigen konnte, wie schrecklich, schwierig und umständlich es gewesen war. Die Veränderungen in der IT-Welt zu beziffern, zu quantifizieren und in Rationalisierungspotenziale umzurechnen, war lange Zeit meine Aufgabe gewesen. Abgefüllt mit reichlich Alkohol, so die Anwesenden nicht mit dem Auto unterwegs waren, verabschiedeten wir uns von dem Kollegen, der noch genau sechs Netto-Tage zu arbeiten hatte. Ich komme auf 16 Jahre, die ich mit ihm im selben Team zusammen gearbeitet hatte. Abgefüllt mit reichlich Alkohol, verabschiedeten wir uns in seinem Unwillen, am Team-Call am nächsten Morgen um 8.30 Uhr teilzunehmen. Er übernachtete im Hotel und er habe keine Einwahldaten, sagte er. Ihm die Einwahldaten zu geben, das boten ihm gleich mehrere Kollegen an. „Soll ich Dir die Einwahldaten geben ?“, das war der Standardsatz, bevor wir uns trennten. Und seine Hartnäckigkeit siegte, dass er sich die Einwahldaten nicht geben lassen wollte.

24. August 2023


In seiner Autobiografie hatte der Sänger Wolfgang Niedecken beschrieben, wie erschreckend es ist, dass in seinem Freundes- und Bekanntenkreis die gesundheitlichen „Einschläge“ näher rücken. Sterbefälle oder ganz schlimme Krankheiten, die sich niemand wünscht. Damals, als er die Autobiografie schrieb, war er sechzig Jahre alt. Danach erlitt Wolfgang Niedecken einen Schlaganfall, mich erwischte ein Herzinfarkt. Damit läßt sich einigermaßen gut leben, die Einschränkungen sind eher gering. Nun hat es in unserem Freundeskreis jemanden ganz übel erwischt, mit dem wir allerdings viele Jahre kaum noch Kontakt haben. Er hat insgesamt drei Tumore in der Wirbelsäule, davon befinden sich zwei so ziemlich mittendrin in der Wirbelsäule, einer im Halswirbelbereich. Die Tumore haben die Wirbel aufgefressen, und die Uni-Klinik, wo er operiert worden ist, hatte noch keinen solch schweren Fall. Hierdurch wurden drei Operationen erforderlich, bei denen die Tumore entfernt worden sind, dabei wurden die Wirbel durch Titanplatten ersetzt. Jeweils sechs Stunden haben diese drei Operationen gedauert, wobei diejenige im Halswirbelbereich besonders kompliziert gewesen ist. Die drei Operationen hat er soweit gut überstanden. Nun folgt die onkologische Therapie und die Bewegungsabläufe mit drei Titanplatten in der Wirbelsäule stelle ich mir schwierig vor. Wir alle hoffen das beste für ihn, und unsere Freundin betet ganz viel und zündet ganz viele Kerzen an.

25. August 2023


Eine Nachlese aus der Kirche St. Martin in Much. Ich hatte über die Abholung des Schwagers und über  Heinrich Böll im Zweiten Weltkrieg berichtet, über den Ortskern von Much hingegen nicht. Dieser war klein und fein mit dem hohen und spitzen Kirchturm der St. Martins-Kirche, um diesen Kirchplatz scharten sich mehrere schmucke Fachwerkhäuser zusammen. Kirchen wiederholen sich mit ihren Motiven und ihren Heiligen, die als Vorbild fungieren für die Gläubigen. Zumindest in katholischen Kirchen, dominieren in den reich gegliederten Kirchenräumen oftmals Figuren wie die vier Evangelisten, die Apostel Petrus oder Paulus, die Figur der Maria mit dem Jesuskind. Die Kreuzwegstationen sind genauso präsent wie andere Szenen aus der Bibel. Vieles konzentriert sich auf die gleichen Heiligen und die gleichen Motive, wenngleich die Heilige Schrift mit dem alten und neuen Testament und all den handelnden Figuren so reich ist, dass sich nichts wiederholen muss. Gerne nehme ich in Kirchen die Perspektive ein, dass ich dort die großen Denker des Christentums wieder finden möchte. Und da ist die Kirche sehr dürftig aufgestellt. So findet sich in Köln der eine oder andere große Denker, wie etwa der Sarkophag von Albertus Magnus in der Kirche St. Andreas, es gibt ein Duns Scotus-Portal an der Minoritenkirche, und die Skulptur des Thomas von Aquin steht vor keiner Kirche, sondern vor der Universität. In Much ist es mir gelungen, einen weiteren großen Denker des Christentums zu entdecken, nämlich den Heiligen Augustinus. Gestorben 430 als Bischof Augustinus von Hippo im heutigen Algerien, hat er die großen Denker der Antike wie Aristoteles oder Platon umgewälzt und neu gedacht. In Much muss man hinter der Eingangstüre direkt auf das erste Glasfenster auf der rechten Seite schauen, um den Heiligen Augustinus zu erblicken. Entsprechend dem romanischen Baustil der Kirche, lugt das Rundbogenfenster in seiner kleinen Größe hervor. Aus dem bunten Farbspektrum zentriert sich in der Mitte der Heilige Augustin, dessen Weisheit auf seiner hohen Stirn zu erahnen ist. Augustinus markiert den Übergang von der wahnsinnigen Fülle antiken Denkens zum christlichen Weltbild, das ungefähr eintausend Jahre lang einen Stillstand im Denken bewirkt hatte, weil alle Dinge zwingend auf Gott zurück geführt werden mussten. Das Denken von Kausalketten war dadurch vorgegeben, genauso wie der Ursprung aller Dinge, die Erde war als Mittelpunkt des Universums gesetzt. Ketzer wurden verfolgt, die Inquisition wurde eingesetzt, große Denker wie Giordano Bruno wurden auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Bei Augustinus existieren die Denkformen aus der Antike noch in ihrer Reinform, die später verworfen wurden. In seinem Hauptwerk „Der Gottesstaat“ (civitas dei), welches aus 22 Bänden besteht, erscheint der irdische Staat teils als gottgewollte zeitliche Ordnungsmacht, teils als ein von widergöttlichen Kräften beherrschtes Reich des Bösen. Der Gottesstaat (civitas dei) manifestiert sich dagegen in den einzelnen nach den religiösen Geboten lebenden Christen selbst. Von dieser dialektischen Grundidee her entwirft Augustinus eine umfassende Welt- und Heilsgeschichte. Diese Denkform galt während des gesamten Mittelalters bis in die Neuzeit hinein als von der Kirche gottgegeben, spätere Denker wie etwa Cusanus konnten ihre Denkansätze lediglich um diesen Kern herum formulieren, dass gegenläufige Weltbilder zurecht gebogen werden mussten. In den nachfolgenden Jahrhunderten löste sich das christliche Denken vollständig von der Antike. 

26. August 2023


Ich erinnerte mich an das letzte Jahr, als Hitze, Trockenheit und Dürre einen erdrückt hatten. Von solch einer ausgedörrten Natur ist in diesem Jahr nichts zu sehen, so dass die Fahrradfahrt ins Büro befreit. Nach der Hitzewelle bis in die ersten Julitage hatte es ständig geregnet, die Zeit der Sommerferien hatten Regengebiete im Griff, teilweise war es ein Landregen, den die Natur gut gebrauchen konnte. Die Trockenheit des vergangenen Jahres hatte die Stimmung herunter gezogen, angenehm war höchstens das kühle Weizenbier im Biergarten. Die Natur hatte unter Stress gestanden, der Stress schlug auf die Stimmung durch. Der Versuch, sich irgendwo hin zu verkriechen, wo es kühl war, schlug oft fehl. Nun, in diesem Jahr, sprießt das Grün auf dem Damm. Das Gras wächst, es steht dicht an dicht, Kleingetier und Unkraut verbergen sich dahinter. Man sieht ganz anders mit den Augen, wenn die Anreize da sind. Die Natur motiviert, Details von Farben schillern durch. Diese Farben haben eine urwüchsige Kraft, sie sind lebendig, sie hellen auf, sie übertragen die positive Energie in den eigenen Organismus und zeigen auf, wie sehr der Mensch mit der Natur verbunden ist. Hinaus in die Natur: auf dem Damm hinter dem Rhein lerne ich, die Dinge mit ganz anderen Augen zu sehen.

27. August 2023


In der 34. Kalenderwoche hat sich der Schwager wieder beruhigt und er ist etwas zugänglicher geworden, was seine Verhaltensweisen gegenüber dem zu lauten WG-Bewohner betrifft. Er schläft wieder in der Dreier-WG und er hat sich bei seinem Bewohner entschuldigt. Die beiden sind abends in den Biergarten gegangen und haben gemeinsam ein Bier getrunken. Insofern gehen die Dinge in der Dreier-WG wieder ihren normalen Gang. Der dritte WG-Bewohner ist vierzehn Tage weg, da er mit seinen Eltern nach Polen in den Urlaub gefahren ist. Mir ist allerdings ein Malheur passiert. Und zwar hatte der Schwager am Freitag Nachmittag angerufen, dass es in der Wohnung seines Mitbewohners piepte. Der Mitbewohner war bereits zu seiner Freundin gefahren, und sein Zimmer war abgeschlossen. Später fuhr meine Frau zur Dreier-WG. Als sie dort war, rief die Freundin dieses WG-Bewohners bei uns zu einem anderen Thema an, dabei teilte ich dem WG-Bewohner den Piepton mit, der schlimmstenfalls durch einen Feuermelder hätte verursacht sein können. Er erklärte sich bereit, zurück zu kehren und nachzuschauen, ob der Feuermelder oder etwas anderes den Piepton verursachte. Dazu rief ich meine Frau an, die derweil mit ihrem Zweitschlüssel die Zimmertüre geöffnet hatte und heraus gefunden hatte, dass es der Wecker war – und nicht der Feuermelder. Eine geraume Zeit, nachdem meine Frau nach Hause zurück gekehrt war, hatte der WG-Bewohner sein Zimmer aufgeschlossen und verstand die Welt nicht mehr. Es war kein Piepton zu hören, der Feuermelder war stumm und er wusste nicht, was los war. Ich durfte hinfahren und das Malheur aufklären. Er war in Panik geraten, dass es brennen könnte, es war aber alles in Ordnung. Ich konnte mich nur dafür entschuldigen, und der WG-Bewohner legte seinen Zweitschlüssel in den Sicherungskasten. Am Dienstag ist unsere Tochter für eine Woche zu ihrem Freund, seinem Vater und seiner Lebensgefährtin nach Brandenburg gefahren. Bevor sie dorthin gefahren ist, haben wir eine To do-Liste herunter geschrieben, an was sie alles denken muss. Nach dem Videocall mit dem Diakonischen Werk hat sie diverses zu erledigen, so die Möbelauswahl oder die Terminabsprache mit dem Bekleidungsladen. Im Krankenhaus hat sie sich zu Kursen der Geburtsvorbereitung und zur Schwangerschaftsgymnastik angemeldet, da muss sie schauen, bis wann sie was zu zahlen hat. Bei der Arbeitsagentur kann sie Gelder für Schwangerschaftsbekleidung und für Babyausstattung beantragen. Mit Kindergärten muss sie Kontakt aufnehmen wegen der Anmeldung des noch nicht geborenen Kindes. Telefonieren muss sie auch mit der Krankenkasse, da sie diese wechselt und Leistungen, die die alte Krankenkasse bewilligt hat, fortgeführt werden. Dazu gehört die Psychotherapie, wozu wir zuletzt einen Termin verpasst hatten. Hier hat sie am Monatsletzten nun einen neuen Termin erhalten. Bei unserer Tochter müssen wir berücksichtigen, dass die Wahrnehmung von Terminen mit Beginn der Ausbildung ab 1. September schwieriger wird. Dies gilt unter anderem für den nächsten Frauenarzttermin, der um 16 Uhr liegt. Da wissen wir noch nicht, ob dies mit ihren Arbeitszeiten vereinbar ist.


28. August 2023


Für einen Spaziergang unterbrachen wir unsere Geschäftigkeiten des Aufräumens und der Steuererklärung. Geschäftigkeiten, die uns wohl auch am Wochenende für längere Zeit begleiten würden, bis die Räumlichkeiten für den Nachwuchs unserer Tochter hergerichtet sein würden. Zudem würde am nächsten Wochenende der Dorftrödel statt finden, wozu wir im Haus der Dreier-WG unseren Stand aufbauen wollten. Dazu transportierten wir wiederum diversen Hausrat mit dem Auto dorthin. Auf diesem Spaziergang, der uns über die Panzerstraße an den Rhein führte, redeten wir miteinander. Die Wolken knubbelten sich über dem Rhein zusammen, sie schoben sich wie ein Riegel vor die Sonne, seitwärts fielen die Sonnenstrahlen vorbei, während das Wasser und die Wellen auf dem Rhein unglaublich still waren. Zwei Themen bestimmten im wesentlichen unser Gespräch. Das erste Thema war der heutige Anruf meiner Mama. Seit dem Besuch in den Sommerferien hatten wir nicht mehr miteinander gesprochen, und am frühen Nachmittag hatte sie angerufen. Einen Riesen-Palaver habe es gegeben, wobei ihre Schwiegertochter ausfallend geworden sei und sie angeschrien habe. Ein Kellerschlüssel sei verschwunden, wofür man sie verantwortlich machen wollte, sie habe aber nichts damit zu tun. Und überhaupt ihre Schwiegertochter: man rede nicht mehr miteinander, sie sei nur noch frech, und selbst bei ihrer Enkeltochter sei sie froh, wenn sie ihr in der Küche „Hallo“ sagen würde. Die Verstimmungen waren uns bekannt, weil zwei Familien unter einem Dach wohnten, wobei meine Mama sich in alles einmischte. Was genau geschehen war, das mussten wir uns aus ihren Erzählungen zusammen reimen. Oftmals saß sie am Fenster und bekam genau mit, wann wer das Haus verließ. Um diesen Beobachtungen zu entkommen, wählte meine Schwägerin den Gang nach draußen durch die Kellertüre. Von dieser Türe war mit einem Male der Schlüssel verschwunden. Ja, ich weiß, wo der Schlüssel sich befindet, meinte meine Mama im Gespräch. Dann hast Du den Schlüssel verschwinden lassen, entgegnete ich, doch die Mama erwiderte, es sei nicht dieser Schlüssel der Kellertüre, sondern ein anderer Schlüssel. Fest schien aber zu stehen, dass sie sehr wohl ihre Finger im Spiel gehabt hatte. Der Zorn und das Anschreien durch die Schwiegertochter hatte dann wohl seine Berechtigung gehabt. Und mein Bruder habe kein Wort dazu gesagt, tadelte sie ihn zusätzlich. Schließlich lagen die Nerven blank, als die Schwägerin ihr nahelegte, sie solle baldmöglichst aus dem Haus verschwinden. Wir waren froh, mit diesem Drama lediglich aus der Ferne berührt zu werden. Das zweite Thema war – wie so oft – das WG-Leben der Dreier-WG. Ein Bewohner hatte vierzehn Tage Urlaub, weil er irgend wann seinen Urlaub abwickeln musste. Sein Bruder wohnte weiter weg und kümmerte sich nicht um ihn, und seine Freundin besuchte er lediglich am Wochenende. Wir diskutierten, ob die Betreuer es einrichten konnten, mit ihm während des Urlaubs etwas zu unternehmen. Dies taten sie nicht, sie arbeiteten lediglich ihren Betreuungsplan ab, der Putzen, Einkaufen, Waschen und so weiter umfasste. Aber keine Unternehmungen. „Wir sind kein Freizeitunternehmen“, das hatte in einem anderen Zusammenhang die Wohnheimleiterin des Behindertenwohnheims gesagt, wo der Schwager einst gewohnt hatte. So verhielten sich denn in diesem Fall die Betreuer, die sich lediglich für die Hausarbeit zuständig fühlten. Es blieb dem WG-Bewohner überlassen, eigene Aktivitäten zu entwickeln und etwas zu unternehmen. Gemeinsame Unternehmungen stießen andere an, wie etwa der Behindertentreff im Nachbarort oder auch wir. Unternehmungen, die die Lebenshilfe organisiert hatte – wie etwa die Schiffstour oder der Besuch des Zirkus – waren die Ausnahme und problematisch zu organisieren. Eine hohe Anzahl von Betreuern musste solche Aktivitäten begleiten, das waren so viele Betreuer, die für denselben Zeitraum kaum zur Verfügung standen. So war der WG-Bewohner in seinem Urlaub mehr oder weniger dazu verdammt, in seinem Zimmer zu sitzen und sich alleine zu beschäftigen. Fernsehen, Computerspiele oder Spaziergänge durch den Ort waren somit die Hauptbeschäftigungen in seinem Urlaub. Wann er denn überhaupt einmal einen richtigen Urlaub machen würde, das scheiterte vorerst an seinen finanziellen Möglichkeiten, da ihm lediglich die Grundsicherung ausgezahlt wurde. Alles in allem also trübe Aussichten, was die Möglichkeiten der Freizeitgestaltung betraf.

29. August 2023


Der 1. September 2023, das große Datum der Abschiede. Mein langjähriger Arbeitskollege, mit dem ich etwa sechzehn Jahre zusammen gearbeitet hatte, geht zum 1. September in den Ruhestand. Gleichzeitig wechselt unser Teamleiter zu demselben Datum 1. September in einen anderen Bereich, nämlich zum Reporting. Übergangsweise werden wir nach seinem Weggang eine Zeitlang ohne Chef sein, bis ein Nachfolger gefunden sein wird. Dazu gaben die beiden im Kreis vieler anwesender Kollegen ihren Ausstand, zu dem man sich in der Teeküche versammelte. Jede Menge Teilchen und Kuchen hatten die beiden mitgebracht, und als Getränke wurden Sekt mit und ohne Orangensaft gereicht, Bier mit und ohne Alkohol, natürlich Mineralwasser. Ein Kölner Kollege hatte für den in Ruhestand gehenden Kollegen, der in Bochum wohnte, eigens mehrere Flaschen Bier aus einer Bochumer Privatbrauerei organisiert. Was wollte der eine Kollege in seinem Ruhestand alles unternehmen ? Ganz viel Fußball wollte er schauen, und als Bochumer ging er naturgemäß zum VfL ins Vonovia-Stadion, das bis vor kurzem noch Ruhrstadion geheißen hatte. Dann ging er gerne ins Theater, im Schauspielhaus Bochum hatte er ein Abonnement. In seinen letzten Tagen war er sehr berührt, oder „angegriffen“, wie er es formulierte. All die Geschenke, darunter ein Gutschein von Amazon und viele nützliche Telekom-Kleinigkeiten. Bei den Geschenken scherzte er über eine Stoppuhr, jahrelang hatte eine Stoppuhr seine REFA-Zeitmessungen begleitet, nun im Ruhestand habe er mit dem Thema REFA abgeschlossen. Und berührt war er von all den Verabschiedungen von den Kollegen, die so zahlreich gekommen waren. Ein Ding der Unmöglichkeit hatte sich die Bundesanstalt für Post und Telekommunikation noch erlaubt, sie hatte ihn nämlich ab dem 1. September nach Leipzig versetzt. Der Kollege konnte dies nicht glauben, er meinte, es handele sich um einen Scherz. Und tatsächlich war es ein Versehen, der Bundesanstalt für Post und Telekommunikation war ein Arbeitsfehler unterlaufen, daraufhin zog sie die Versetzung zurück. Am 31. August, am Tag vor den großen Abschieden, sollte es noch einen Abschiedskaffee geben. Die Abschiede zogen sich also dahin. Und niemals geht man so ganz, so würde Trude Herr aus dem Jenseits singen.

30. August 2023


Die Erpeler Ley, ein symbolträchtiger Ort. Als ich die freie Fläche betrat, erstaunte mich die Weitläufigkeit. Die Abrisskante des Felsens war weit weg, eine Rasenfläche lief auf den Aussichtspunkt zu, es war Platz und die wenigen Menschen verliefen sich. Werktags vormittags tummelte sich kein Menschengewimmel wie auf dem Drachenfels, den die Hinweistafel in einer Reihe aufzählte mit der Erpeler Ley und der Loreley als die schönsten Aussichtspunkte auf den Rhein. Ich war nie auf dem Felsen der Loreley, aber was den Drachenfels betrifft, fand ich die Aussicht hier noch phänomenaler, schöner, mitreißender. Der Ausblick auf den Rhein steigerte sich hinter der Weitläufigkeit der Rasenfläche. Die Biegungen des Rheins konnte der Blick mitzeichnen. Rheinabwärts bog sich der Rhein nach rechts und verschwand hinter Unkel, markiert von dem Stuxberg, den ich auf dieser Wanderung erklommen hatte. Rheinaufwärts konnte der Blick dem Flusslauf bis in den Andernacher Trichter folgen, wo Fetzen von Dunst dem Strom ein höchst romantisches Aussehen verliehen. Und dann waren da noch die Flaggen und das Kreuz. Dieses weit aufragende Holzkreuz erinnerte an die Kriegstoten in der Schlacht um Remagen. Das Trio der Flaggen umriss Deutschland, Europa und eine Flagge mit der Friedenstaube. Der Nationalstaat Deutschland ging in Europa auf, das sich als Konstrukt des Friedens begriff. So hätte man das Nebeneinander der Flaggen deuten können. Zwei Weltkriege hatten europäische Staaten los getreten, woran Deutschland einen maßgeblichen Anteil gehabt hatte. Nie wieder Krieg: diesen Ausspruch, den unser Bundeskanzler an Vladimir Putin nach Ausbruch der Ukraine-Krieges gerichtet hatte, hatten die Staaten der europäischen Union beherzigt und nichts deutete darauf hin, dass diese Staaten jemals wieder Krieg gegeneinander führen würden. Möge der Ukraine-Krieg doch beendet werden und die Symbole des Friedens sich durchsetzen.

31. August 2023


Wie der Mensch doch privat sein will. Ein eigenes Haus mit einem Stück Garten, wo möglichst niemand hinein schauen soll. Ein hoher Zaun schirmt die Sicht ab, Gardinen verdecken den Blick in die Innenräume. Ebenso ist alles privat, was man erzählt, nur ausgewählte Freunde sollen mithören, man hat Angst vor Klatsch und Tratsch. Privat war auch alles auf der Burg Ockenfels bei Linz. Dass Burgen am Rhein in Privatbesitz sind, scheint eher die Regel als die Ausnahme zu sein. Diese Burg am Rheinsteig-Wanderweg gehörte der Firma Birkenstock, dessen Firmenparkplatz vor der Burg gut belegt war. Neugierig wie ich war, wollte ich den Ausblick vom Burghof auf den Rhein genießen. Also schritt ich zum Innenhof, wo ein großer Grill bereit stand, die Stühle waren vor den Tischen hoch geklappt. Mehr oder weniger ziellos wandelte ich umher, ein bißchen wie ein Tourist mit der Digitalkamera in der Hand, um den Blick auf den Rhein zu erhaschen. Bis mir eine Frau in einer Schürze begegnete, um mir mitzuteilen, dass ich dort nichts zu suchen habe. „Privatbesitz“ hielt sie mir entgegen, die Burg sei in Privatbesitz, ich befände mich als unbefugter Nicht-Firmenangehöriger auf privatem Gelände. Dies war mir klar, dies war auch geltendes Recht, so wie auch niemand Fremder in unserem Garten herum laufen durfte. Daraufhin trat ich den Rückzug an und suchte den Blick auf den Rhein vor der Einfahrt zum Burghof. Das war nun legal, was mir niemand verbieten konnte in unserem Land von Geboten und Verboten. Dennoch war ich entsetzt, dass das Private bis zu öffentlichen Kulturgütern wie Burgen eingedrungen war. Ich hatte nicht die Absicht gehabt, dem Burgherren hinter seine Türen zu schauen. Den Burghof hatte ich noch als öffentlich empfunden, die Aussicht auf den Rhein sowieso. Ich schritt weiter auf dem Wanderweg des Rheinsteigs, und später, auf der abschüssigen Straße, machte die sich entfernende Burg einen unwichtigen Eindruck.


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