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die karolingische Minuskel

Allen voran waren es die Bischöfe, die klagten. Karl der Große, als Herrscher angetreten, um das Christentum zu verbreiten, hatte Bistümer eingerichtet und ernannte Bischöfe, damit das Volk aus seinem Inneren heraus den Glauben und das Christentum leben sollte. Die Bischöfe klagten über so manchen Priester, dessen Predigten roh und unbeholfen klangen. Die Priester seien ungebildet, des Lesens unkundig, und das Lateinische sei mit der Vulgärsprache nicht mehr zu vereinbaren.

Die Missstände hatten sich über Jahrhunderte eingeschlichen. Bevor die Karolinger in Europa ihren Herrschaftsbereich ausdehnten, war das römische Reich untergegangen, und mit dem römischen Reich war die Schriftkultur untergegangen. In dieser Zeit von der Spätantike in das frühe Mittelalter stütze sich das Geschehene nur noch auf die mündliche Überlieferung.

Im 8. Jahrhundert, dreihundert Jahre nach dem Untergang des römischen Reiches, war es Karl der Große, der diesen Mangel erkannte. Diese Jahrhunderte mussten aufgearbeitet werden, nicht nur, was die Fähigkeiten betraf, lesen und schreiben zu können. Nur wenige Klöster übten diese Fähigkeiten, York in England, Jarrow in Irland, St. Gallen in der Schweiz oder Corbie in der Picardie. Schlimmer war, dass das antike Wissen nur noch bruchstückhaft gerettet werden konnte. Papyrus war wenig widerstandsfähig und zerfiel im Verlauf von Jahrhunderten. Nur das, was auf Pergament geschrieben war, blieb erhalten. So schaffte es keine Papyrusrolle von der Antike ins Mittelalter, die großen antiken Bibliotheken lösten sich ins Nichts auf. Nur wenige Schriften von Cicero, Horaz, Ovid, Seneca, Aristoteles überdauerten die Zeiten.

älteste datierbare karolingische Minuskel, Corbie, um 765 (Staatsbibliothek zu Berlin), Quelle Wikipedia

Zudem war die Schriftform des Lateinischen verdrängt worden von den Franken, die Mundarten der neuen romanischen Volkssprache sprachen, der „rustica Romana lingua“ oder „deutsche“ Mundarten, im 8. Jahrhundert bezeichnet als „Thiodisca“.

Es war Ironie des Schicksals, dass eben dieser Karl der Große, selbst dem Analphabetentum entstammend, die Schriftlichkeit an seinem Hofe wahrhaft revolutionierte. Er lernte die Buchstaben, konnte wohl auch lesen, doch mit dem Schreiben tat er sich schwer. Karls Biograf Einhard, ein Mönch aus dem geistigen Umfeld des Kaisers, schreibt in seiner "Vita Karoli Magni": "Auch versuchte er sich im Schreiben und hatte unter seinem Kopfkissen im Bett immer Tafeln und Blätter bereit, um in schlaflosen Stunden seine Hand im Schreiben zu üben. Da er aber verhältnismäßig spät damit begonnen hatte, brachte er es auf diesem Gebiet nicht weit."

Karl der Große förderte Klöster und baute Bibliotheken auf, ebenso seine Aachener Hofschule, wo eine eigene Intellektuellenschicht heran wuchs. Der Aufbau von Bibliotheken war nach heutigem Verständnis ein waghalsiges Unternehmen. Jedes Buch verschlang ein großes Vermögen, da der Verbrauch an Pergament aus Tierhäuten enorm war. Für ein einziges Buch bedurfte es einer kleinen Ziegen- oder Schafherde. Für großformatige Bände entsprechend großer Herden. Das waren Bände, die kostbar bemalt waren und verziert mit Gold, Silber, Purpur und Edelsteinen. Ab 780 entstanden solche Bibliotheken an seiner Hofschule und an Klöstern.

Godescalc-Evangeliar (781-783), bibliothèque nationale de la France (Quelle Wikipedia)

Es entstanden Skriptorien in Klöstern, wo das Schreiben wieder geübt und gelernt wurde. Karl der Große selbst beauftragte an seinem Hof eine neue Buchkunst, so das Evangelistar, welches der Verfasser Godescalc signierte. Von 781 bis 783 war es in goldenen Buchstaben auf purpurnen Blättern geschrieben. Godescalc, vielleicht aus Lüttich stammend, sparte nicht mit Gold und Silber. Kostbare Miniaturen, aufwendige Rahmenleisten, Gold- und Silbertinte vollendeten diese Buchkunst, die als älteste Bilderhandschrift aus der Hofschule Karls des Großen heute in der „bibliothèque nationale de la France“ in Paris erhalten ist.

Und die Hofschule Karls des Großen schuf eine weitere Erneuerung, die die Schriftkultur für die nächsten Jahrtausende prägen sollte: die karolingische Minuskel. Sie setzte in klarer Grafie Groß- und Kleinbuchstaben mit Ober- und Unterlängen in ein Vierlinienschema und trennte eindeutig die einzelnen Worte voneinander. Die karolingische Minuskel kann als Ursprung unserer heutigen Schriftbildes mit Groß- und Kleinbuchstaben betrachtet werden. Die Minuskeln wurden als Kontrast zu den Majuskeln aus der Römerzeit entworfen, denn die Römer schrieben ihre lateinische Schrift ausschließlich in Großbuchstaben. Da die karolingische Minuskel Wort für Wort mit Leerzeichen voneinander trennte, konnten Substantive, Verben und Adjektiven voneinander unterschieden werden. Satzanfänge und –enden waren aufgrund der Interpunktion erkennbar.

Die karolingische Minuskel vereinheitliche die Buchstabenform in den Skriptorien, die rund um das Karolingerreich verstreut waren. So erforderte es in den Skriptorien Übung und Geduld, die Figur "cc" als kleines „A“ zu entziffern oder das „R“ vom „S“ zu unterscheiden. Da Pergament kostbar und teuer war, quetschten die Skriptoren eine Fülle von Buchstabenverbindungen, sogenannte Ligaturen, auf das Pergament. Diese sparten zwar Platz, hemmten aber den Lesefluss.

Spätform der karolingischen Minuskel, Mitte 12. Jahrhundert, Stadtarchiv Bozen (Quelle Wikipedia)

Die Entwicklung der karolingischen Minuskel könnte vom Kloster Corbie in der Picardie ausgegangen sein. Dort ließen Äbte und Schriftgelehrte so viele Texte abschreiben, dass die neue Schreibart zum Standard aufrückte. Die Gelehrten am Hof Karls des Großen, insbesondere der Leiter Alkuin, der vorher die Klosterschule in York in England geleitet hatte, übernahmen rasch diese neue Schriftform. De Buchstabenformen wurden klarer und unterscheidbarer, die Einzelbuchstaben einheitlicher.

Noch lange nach dem Ende der karolingischen Herrschaft bildete die allseits geläufige, verhältnismäßig einfach erlernbare Minuskelschrift die Norm für Rechtsbelege und Traktate, Gebetbücher und weltliche Poesie. Bis nach England und Spanien, auch in die östlichen Missionsgebiete verbreitete sich das Erfolgsmodell. Erst als das Imperium Karls wieder in einzelne rivalisierende Reiche zerfallen war, setzten sich auch in Buch- und Urkundenschrift regionale Eigenarten durch; "gotisch" gebrochene Formen, Vorläufer der späteren Fraktur, lösten vom Hochmittelalter an das alte Spiel von Strichen und Rundungen ab.

Eine Erfindung der karolingischen Gelehrten jedoch hat sich durch alle Phasen und Schicksale der lateinischen Schrift erhalten. Sie führten ein Zeichen ein, das sogleich unentbehrlich wurde und bis heute als Ursymbol kritischer Neugier gelten kann: das Fragezeichen.

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