Jean Joseph Tranchot - die Karthografie des Rheinlandes vor 200 Jahren
Es war nicht viel anders als heute, dass der Kleinkram die Gemüter erregte. Wer reiste, musste sich den Vorgaben beugen, was der Bürgermeister für welche Reisetätigkeit erstattete. Dabei waren die politischen Gegebenheiten im Jahr 1798 ganz anders definiert, als Frankreich das Rheinland angeschlossen hatte und vier Départements geformt hatte. „Département du Rhin et Moselle“, so hoch trabend klangen die französischen Übersetzungen der Flüsse Rhein und Mosel, die dem Département ihren Namen gaben. Koblenz war die Hauptstadt, Bonn war zur „sous-préfecture“ oder Unter-Hauptstadt degradiert worden, und die Geldflüsse aus Paris landeten im Endeffekt über die „sous-préfecture“ beim Bonner Bürgermeister, der die Gelder seinen Bediensteten so zur Verfügung stellen musste, wie Paris es wollte.
Der Bonner Bürgermeister, das war Graf Belderbusch, erregte am 14. Juni 1803 den Zorn der Ingenieurgeografen. Mit einem zweispännigen Wagen reisten sie von Bonn nach Münstereifel. Sechs Francs erstattete ihnen der Bürgermeister, die Vorgabe dazu kam aus Paris. Der Zweispanner hatte aber das Anderthalbfache gekostet. Die Ingenieurgeografen beschwerten sich, dass man nirgendwo für sechs Francs einen Zweispanner bekommen könne. Graf Belderbusch leitete die Beschwerde der Ingenieurgeografen an die „sous-préfecture“ weiter, diese wiederum an die „préfecture“ in Koblenz. Danach war es lange Zeit still um die Beschwerde der Ingenieurgeografen.
Diese waren Teil einer generalstabsmäßigen Aktion, die der lange Arm Frankreichs 1802 auf das Rheinland losgelassen hatte: die Vermessung des Rheinlandes. Um Landkarten zu zeichnen, dazu hatte der französische Astronom Francois Cassini de Thury (1714-1784) Pionierarbeit geleistet. Ab 1750 hatte er ganz Frankreich vermessen und in Landkarten eingezeichnet. Das Verfahren war nicht sonderlich kompliziert, technische Hilfsmittel in Form von Graphometern oder Halbkreismessgeräten waren aber erst Mitte des 18. Jahrhunderts entwickelt worden.
Tranchot-Karte von Köln und der rechtsrheinischen Umgebung
Dabei bedienten sich die französischen Vermesser denjenigen Funktionen in der Geometrie, die so manchem Schüler Angst einflößen können, wenn sie mit Mathematik auf Kriegsfuß stehen: die Sinus- und Cosinus-Funktion. Mit diesen Funktionen läßt sich die Länge von zwei Dreiecksseiten berechnen, wenn die Länge einer Dreiecksseite bekannt ist. In der Praxis setzten Cassini und seine Messexperten dies so um, dass sie zunächst zu Fuß eine Länge von zehn Kilometern in gerader Richtung geradeaus abschritten. Dies musste in möglichst flachem Gelände ohne Hindernisse geschehen, die ansonsten dazu gerechnet werden mussten. Von dort aus suchten sie dann markante Punkte wie Kirchtürme, die sie mit den Halbkreismessgeräten anpeilten. Aus den gegebenen Koordinaten errechneten sie dann die Länge der beiden Dreiecksseiten. Einzeldreiecke fügten sich zu Dreiecksketten zusammen, bis sie die gesamte Staatsfläche bedeckten. Da nur die Ausgangsmessung zu Fuß geschah, überprüften die Vermesser die danach ausgerechneten Dreieckslängen stichprobenweise über Wiederholungsmessungen. Wenn Messfehler bestimmte Toleranzen überschritten, wurden die Dreiecksketten angepasst und neu gebildet. Messungen und Wiederholungsmessungen dauerten. Die Fleißarbeit von Generationen, die „carte géométrique de la France“, brauchte Jahrzehnte und wurde 1789 vollendet. Schließlich mussten noch mit der Hand, Federstrich für Federstrich, Landkarten gezeichnet werden mit Häusern, Dörfern, Städten, Wiesen, Wäldern, Flur, den geschwungenen Linien von Flüssen und Höhenlinien.
1801, nach der Annexion des Rheinlandes durch Napoleon, war es wie so oft: Krieg und Militärstrategen bestimmten den technischen Fortschritt, das Heer brauchte möglichst präzises Kartenmaterial, um Entfernungen, Höhen und Vegetation für ihre Schlachtfelder abschätzen zu können. Der Vermessung Frankreichs sollten die vier Départements im Rheinland angehängt werden. Cassini, der 1784 verstorben war, folgte der Astronom Tranchot. Ihn beauftragte das Kriegsministerium (beziehungsweise das „dépot général de la guerre“) im September 1801, eine Art von Projektteam zu bilden, woraufhin Tranchot 24 Ingenieurgeografen für seine Anfangstätigkeit zusammen trommelte.
Dreieckskette von Dunkerque nach Paris
Gleichzeitig bezog Tranchot sein Büro im Aachener Frauenkloster der Zölestinerinnen, das im Zuge der Säkularisierung aufgelöst worden war. Dabei schauten sich die Ingenieurgeografen den Gang der Vermessungsarbeiten von Frankreich ab: in möglichst geraden Linien bewegten sie sich von Nord nach Süd, also vom Niederrhein über Aachen nach Trier an die Saar bis in die Pfalz.
Damit sie ihre Arbeit verrichten konnten, wurden die Ingenieurgeografen, deren Personalstärke sich zwischenzeitlich auf 47 Vermessungsexperten erhöht hatte, mit einer Aufwandsentschädigung bezahlt. Wie sie bezahlt werden sollten, war alles andere als klar geregelt. Ihre Aufwandsentschädigung sollten die jeweiligen Bürgermeister auszahlen, denen die Ingenieurgeografen für ihre Messarbeiten zugeordnet waren. Ebenso waren Reisen, Unterkunft, Verpflegung bei Reisen von den zuständigen Bürgermeistern zu zahlen. Dazu sollte es Zuschüsse aus Frankreich geben, die mal die zuständigen Mairien erreichten, mal aber auf sich warten ließen.
Der Ärger war vorprogrammiert. Was die Bezahlung der Ingenieurgeografen betraf, hatte das Pariser Kriegsministerium die Messarbeiten und die kartografische Erfassung des Rheinlandes offensichtlich depriorisiert. Manchmal mussten die Ingenieurgeografen einige Monate auf ihre Aufwandsentschädigung warten, aber auch so manche Reisetätigkeiten mussten sie aus eigener Tasche bezahlen.
Schreiben von Tranchot an den Präfekten von Trier mit der Bitte um Unterstützung
So hatte am 26. Juni 1803 der Präfekt von Koblenz allen Bürgermeistern und dem Unter-Präfekten in Bonn mitgeteilt, dass er mit französischen Offizieren vereinbart habe, dass Gasthäuser die Ingenieurgeografen auf Reisen mit üblichen Mahlzeiten zu verpflegen hätten und dafür einen Zuschuss von 25 Centimes erhalten sollten. Die Zuschüsse stockten aber, waren verspätet oder kamen nie an. Alsbald beschwerten sich die Ingenieurgeografen, dass sie entweder an Gasthäusern abgewiesen wurden oder das Essen selbst bezahlen sollten.
Schließlich war es Napoleon selbst, der Druck machte. 1804 besuchte er Tranchots Büro in Aachen und begutachtete den Fortschritt der Vermessungsarbeiten, der ihm viel zu langsam vorkam. Er beklagte sich beim Kriegsministerium: »Je ne sais pas pourquoi la Guerre veut faire des cadastres« (auf Deutsch: „Ich weiß nicht, warum das Kriegsministerium Kataster machen will.“) Um die Arbeiten zu beschleunigen, einigte man sich auf einen größeren Maßstab. So wurden ab 1807 Vorabkarten im Maßstab 1:100.000 gezeichnet, die später auf einen Maßstab 1:20.000 übertragen werden sollten.
Napoleon blieb argwöhnisch. 1809 richtete sich seine Wut nicht gegen Tranchot und seine Ingenieurgeografen, sondern gegen das Kriegsministerium. Napoleon war launisch. Obschon sich das Kriegsministerium mit ihm geeinigt hatte, kam ihm der Maßstab 1:100.000 zu klein vor und nicht verwendbar für Kriegszwecke. Daraufhin polterte er :»J’ai demandé une adjonction à la carte de Cassini et vous me proposez une dimension d’un huitième plus petite. Le Dépôt de la Guerre est mal mené.« (auf Deutsch: „Ich verlangte eine Erweiterung der Cassini-Karte und Sie legen mir einen kleineren Maßstab vor. Das Kriegsministerium wird schlecht geführt.“)
Preußische Müffling-Karte von Rheinbrohl
Tranchot und seine Mannen hielten durch. Bis 1814 entstand ein Kartenwerk von bemerkenswerter Qualität unter immer schwieriger werdenden Arbeitsbedingungen, je weiter das Kriegsgeschehen fortschritt und die französischen Soldaten sich zurückziehen mussten. 1814 wurde sein Büro in Aachen aufgelöst. Das unter großen Mühen und viel Kleinarbeit geschaffene Kartenwerk fand den Weg nach Paris.
Graf Belderbusch konnte die Landkarten nicht mehr als Bürgermeister der „mairie“ unter der „sous-préfecture“ Bonn bestaunen, sondern in seinem Rathaus. Die Preußen hatten die Franzosen längst aus dem Rheinland verjagt. Teile der karthografischen Aufnahmen hatten Truchot und seine Messtrupps zurückgelassen. Danach vervollständigten Preußische Zeichner kleine, fehlende Puzzlestücke im Kartenwerk. Gebirgshänge, Kuppen und Höhengefälle arbeiteten sie wirklich hübsch in Schraffuren heraus.
Es war der Preußische Geograph Müffling, unter dessen Namen die ersten Landkarten in der Rheinprovinz erschienen. Deren Präzision ist ein Wunderwerk. Die Landkarten sind so fein gestochen wie der Blick durch ein Elektronenmikroskop.
Quelle: Rudolph Schmidt, Die Kartenaufnahme der Rheinlande durch Tranchot und Müffling