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vom Schwarzsehen und vom Pessimismus

Nicht nur im Ruhestand, allgemein in allen Lebensphasen, in allen Lebenssituationen und allen Zeitpunkten strebt der Mensch danach, nach Lebensinhalten zu suchen. Dinge, die den Menschen ausfüllen, an denen er sich festhalten und orientieren kann. Mich selbst hat dieses positive Denken stets beflügelt, ich habe daran geglaubt, dass Schwarzsehen und Pessimismus vorüber gehen und nicht die Oberhand gewinnen. Die dunklen Facetten der Wirklichkeit allzu ernst zu nehmen, habe ich nicht verinnerlicht.


Aber was ist, wenn dem positiven Denken mit einem Mal die Grundlage entzogen wird ? Als ich heute meinen früheren Arbeitskollegen im Café traf, erzählte er mir von seinem Schwiegervater, dem mit seinem Eintritt in den Ruhestand die Sinngebung abhanden gekommen war. Die Arbeit hatte die Tagesabläufe bestimmt, das Aufstehen, das Betreten der Werkshalle, Pausenzeiten, Gespräche mit Arbeitskollegen, die Arbeitsschritte und wann was fertig gestellt wurde, das Arbeitsende, die Rückkehr nach Hause, der Feierabend, das Zubettgehen. Tagaus, tagein. Als sein Schwiegervater in Rente ging, war dieses durch die Arbeit vorgegebene Zeitraster obsolet geworden. Hierdurch wurde die Grundlage seines Daseins in Frage gestellt, Sinn und Inhalt waren weggefallen. Zu Hause befasste er sich mit allerlei unnützem Kleinkram, er saß nur herum, er aß viel zu viel und ernährte sich falsch. Er nörgelte viel, er wusste nichts mit sich selbst anzufangen, die Abläufe in der Familie liefen ihm zuwider. Dass er sich selbst nicht mehr leiden mochte, schlug ihm auf die Leber. Anfangs breitete sich ein gutartiger Tumor aus, der dann bösartig wurde. In der letzten Woche verstarb er im Alter von 72 Jahren.


In solchen Lebenssituationen wird jeder für sich seine Sinngebung finden müssen, in unserer ZWAR-Gruppe (was für „zwischen Arbeit und Ruhestand“ steht) gab es so manche Schicksalsschläge, die verarbeitet werden mussten. In unserem Netzwerk erfuhr ich, dass drei ZWAR‘lern die Ehefrau verstorben war. Ein Jahr, zwei Jahre und zehn Jahre lagen die Todesdaten ihrer geliebten Ehefrau zurück. Wie verarbeiteten diese drei Herren den Schicksalsschlag ? Sie brachten sich ein, waren aktiv, organisierten die Dinge gemeinsam, zwei von ihnen leiteten die Fahrrad- und die Gesprächsgruppe. In keiner anderen Lebensphase hätte er so viele Freunde gefunden, das meinte einer in unserer Runde. Er war nun 73 Jahre alt, hatte in seinem vorherigen Leben eine Veranstaltungsfirma besessen. Nun hatte er ein Seminar über Kommunikation und Moderation besucht, er leitete die Basistreffen, mit mir zusammen hatte er eine Kleingruppe bei der Gründungsveranstaltung in Troisdorf-Sieglar moderiert, dazu kümmerte er sich um Logo und Design. Der zweite im Bunde, der die Fahrradgruppe leitete, war ähnlich unterwegs und hatte eine andere Kleingruppe bei derselben Gründungsveranstaltung in Troisdorf-Sieglar moderiert. Von Schwarzsehen und Pessimismus war bei den beiden keine Spur.


Anders waren die Dinge geartet bei dem dritten, dessen Frau im letzten Jahr verstorben war. In der letzten Woche hatte sich der Todestag seiner Ehefrau gejährt, und seine Trauer hatte ihn voll im Griff. Er hatte weder Geschwister, noch hatten die beiden Kinder. In seinem intensiven Mitteilungsbedürfnis gewannen Schwarzsehen und Pessimismus die Oberhand. Er zweifelte und begann all unser positives Denken, was uns in unserem ZWAR-Aktivitäten umtrieb, zu zerreden. Die soziale Komponente würde fehlen, das meinte er. Für die alten, besonders hilfsbedürftigen Menschen, würden wir nichts tun. Was wir in unseren Gruppen veranstalteten, wäre – mit wenigen Ausnahmen – nicht wirklich werthaltig. Ein bißchen Spielen, ein bißchen Sport, man würde sich mehr zerstreuen als eine wirkliche Gemeinschaft bilden. Er sah nur die eine Tendenz unserer Aktivitäten: bergab. Maßgeblich dafür sei die Gesundheit. Er selbst habe den Krebs überwunden, seine Frau sei daran gestorben. Knochenbrüche würden zum Beispiel exponentiell schwieriger mit zunehmendem Alter. Als weiteres Problemfeld identifizierte er die Befristung der Stelle der Koordinatorin auf ein Jahr. Spätestens danach würden die Gruppen in sich zusammenfallen (was ich in meiner eigenen Gruppe des historischen Köln überhaupt nicht auf mich zukommen sah). Beim Basistreffen nach dem Jahrestag des Todes seiner Ehefrau war er abwesend, anstatt dessen schickte er nebulöse Textnachrichten in den Äther, womit wir nichts anzufangen wussten. Schwarzsehen und Pessimismus hatten seinen Verstand vernebelt.


Heute, vor dem Krankenhaus in Troisdorf-Sieglar, hatte ich eine weitere Begegnung mit einem ZWAR’ler, der die Wandergruppe leitete, die Strecken von 5-10 Kilometer wanderten. Er war um die 70 und betreute ehrenamtlich Kranke in diesem Krankenhaus. Seit Dezember war seine Gruppe nicht mehr gewandert, und er erklärte mir die Ursache. Er hatte Schmerzen am Knöchel des rechten Fußes, die so heftig waren, dass er nur noch sehr kurze Strecken schmerzfrei laufen konnte. Einen Termin beim Orthopäden hatte er erst Ende des Monats. Die Ärzte, die er bisher aufgesucht hatte, hatten ihm nicht weiterhelfen können. Er erzählte von früheren Wanderungen. Mehrfach war er nach Santiago de Compostella gewandert. In unserer Gegend waren Eifel und Ahr die bevorzugten Wandergebiete. Lange Zeit war er einmal wöchentlich zwanzig Kilometer mit einer Gruppe gewandert, im Laufe der Jahre war diese Strecke aufgrund seiner Konstitution weniger geworden. Mit einem Schlag seien selbst 5-10 Kilometer nicht mehr möglich. Das war sehr bitter. Mit einem Mal war ihm die Grundlage entzogen worden, sich zu bewegen und ein intensives Landschaftserlebnis erleben zu können. Scheiße, mit diesem einen Wort kommentierte er seine missliebige Situation. Wie würde er damit umgehen ?


Ich selbst schauderte vor seiner missliebigen Situation. Dass er anderen half, dürfte ihn vom Schwarzsehen und vom Pessimismus abgehalten haben. Wie wir alle, würde er seinen Weg finden müssen unter diesen schwieriger gewordenen Rahmenbedingungen. Je älter wir wurden, um so zerbrechlicher wurde der Zustand unserer Gesundheit. Damit mussten wir leben, es blieb uns nichts anderes übrig.

 

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