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Tagebuch Januar 2023

1. Januar 2023


Mit dem Feuerwerk rutschten wir besinnlich ins neue Jahr hinein. Noch vor Mitternacht hatte ich den Schwager mit seinem Rollator zum Haus der Dreier-WG begleitet, hinter dem Kindergarten war in einem Bierzelt großer Rummel angesagt, und darüber hinaus hatten wir uns gewundert, dass bereits zu frühen Abendzeiten, als die Sonne gerade untergegangen war, wie wild geböllert wurde. So feierten wir für uns alleine das neue Jahr, und kurz vor Mitternacht hatten die Scorpions vor dem Brandenburger Tor ihren Song „Wind of Change“ so variiert, wie es sich eine ganze Menschheit wünschte: Frieden für die Ukraine. Mit Sohn und Tochter tranken wir den obligatorischen Sekt um Mitternacht, mit der großen Tochter telefonierten wir, mit der Mama und dem Bruder ebenso, dabei tauschten wir uns über die anstehende Beerdigung des Onkels in Bayern aus, der am ersten Weihnachtsfeiertag verstorben war. Die Beerdigung sollte am Samstag in einer Woche statt finden, doch mein Bruder hatte keine Zeit dorthin zu fahren, weil er genau an diesem Tag seine Tochter zum Flughafen Frankfurt für einen Schüleraustausch fahren musste. Wie die Planungen für die Beerdigung aussehen könnten, dazu sollte ich mit meinem Cousin und meinem Onkel telefonieren. Was würde das neue Jahr 2023 bringen ? So wie die Scorpions es besungen hatten, wünschte sich alle Frieden in der Ukraine. Eigentlich konnte es nur noch besser werden als in 2022. Wie ein Damoklesschwert, hatten sich Corona, Krieg und die Klimakatastrophe als Geißeln der Menschheit ausgebreitet. Auf was steuerten wir zu ? Der Irre aus Moskau schien fester denn je seine Machtposition gesichert zu haben, und er lauerte darauf, dass das Bündnis der westlichen Welt erodieren würde. Die Klimakrise wurde immer dominanter, und die Hiobsbotschaften von Hitzerekorden, Unwettern, Überschwemmungen, schmelzenden Gletschern und auftauenden Permafrostböden rissen nicht ab. Aufruhr, Bewegung und Proteste wurden schärfer, weil die Verantwortlichen nicht handelten. Einstweilen wurde in der Silvesternacht mehr geböllert denn je, nach den Verboten während Corona war einiges nachzuholen. Ich genoss die bunten Farben des Feuerwerks und hoffte auf den einen oder anderen Lichtblick in 2023.

2. Januar 2023


Die Beerdigung des Onkels aus Bayern war das bestimmende Thema am Neujahrstag. Die Beerdigung sollte am kommenden Samstag statt finden, und dies etwa 700 Kilometer entfernt. Der Wille war da, ihn bei seinem letzten Gang zu begleiten und die Verwandtschaft bei dieser Gelegenheit wieder zu sehen. Morgens rief ich beim Cousin an, dessen Auto allerdings samt Rollator für seinen Vater sowie mehreren Beerdigungskränzen voll war. So verfolgte ich den Plan weiter, den ich anfangs gehabt hatte, nämlich den Zug zu nehmen. Dabei war ein wenig Eile geboten, da die Sparpreise mit Zugbindung um so günstiger waren, je längerfristig die Reise geplant war. Von Siegburg nach München fuhren ICEs direkt durch mit einer Fahrzeit von vier Stunden. Der Rest waren Bummelzüge, die in Summe eine Fahrzeit von zwei Stunden ausmachten. Das Auto über solche eine lange Strecke zu nehmen, dazu fehlte mir die Lust und die Ausdauer. Weitere Telefonate arbeitete ich ab, als ich im Hotel ein Zimmer reservierte und mit meinem Cousin aus Bayern telefonierte. Er wollte mich vom Bahnhof in Mühldorf abholen und für die Rückfahrt zum Bahnhof nach Neumarkt St. Veit bringen. Erwartungsgemäß beanspruchte die Buchung der Bahnfahrkarte ein größeres Zeitkontingent. Für die Hinfahrt erklärte sich meine Frau bereit, mich am späten Vormittag nach Siegburg zu fahren, weil sie um diese Zeit mit dem Schwager einen Arzttermin hatte. Nachträglich wollte ich mit meinem Chef klären, dass ich einen Tag Urlaub nehmen wollte. So buchte ich für den Freitag um die Mittagszeit eine Bahnfahrkarte von Siegburg nach Mühldorf am Inn, dabei musste ich in Frankfurt und in München umsteigen, die Rückfahrt buchte ich am Samstag von Neumarkt St. Veit über Landshut nach München, von dort aus fuhr ein ICE direkt durch bis Siegburg, wo ich gegen 23 Uhr ankommen sollte. In Summe kostete mich die Bahnfahrt 150 Euro, was günstiger sein dürfte als die Spritkosten für die 700 Kilometer Autofahrt. In einer gewissen Spontan-Aktion war also alles organisiert, um bei der Beerdigung dabei sein zu können.

3. Januar 2023


Der Kauf der Autobiografie des U2-Frontmanns hat in mir Sehnsüchte geweckt, dass ich mich gerne in einer Rockgruppe verewigt hätte. Ob Sänger, Gitarrist oder Schlagzeuger, wäre mir egal gewesen, wichtig wäre mir das Künstlerdasein gewesen. Musik als Faszination, Musik als Bewegung, um die Welt zu verändern. Harte Rhythmen und harte Klänge als Ausdrucksform, und ich kann nicht leugnen, dass irgendeine progressive Form von Musik im Hintergrund mitschwingt, wenn ich im Alltag daher spaziere. Es ist einer derjenigen Antriebsformen, die meine Gedanken gestaltet und meine Phantasie anregt. Ich erlaube mir, diesen Tagtraum zu träumen, wohlwissend, dass die einzige praktische Berührung Übungen auf einem Schlagzeug waren, das in einem Proberaum der Ausbildungsstätte aufgebaut war. Diese Übungen schlugen gründlich fehl, so dass ich daraus schloss, dass ich für die anderen Instrumente keinerlei Talent besaß. So hatte ich schnell die Karriere als Rockmusiker ad acta gelegt und anstatt dessen einen Brot-Beruf gewählt, mit dem ich durchaus glücklich geworden war. Rockmusik wirkt allerdings nachhaltig in mir nach und weckt Sehnsüchte, wenn ich etwa diese Biografie des Frontmanns Bono vor mir liegen habe. Ich erinnere mich an die Autobiografie von Wolfgang Niedecken, die ich mit Leidenschaft gelesen hatte. Begeistert hatte mich auch die Biografie von Yves Montand, die ich vor sehr langer Zeit gelesen hatte. Der Lebensrhythmus dieser Künstler hatte etwas für sich, sie waren dauerhaft auf der Suche nach Einfällen und Inspirationen, es gab keine perfektere Selbstverwirklichung. Partnerschaften scheiterten daran – das war die Kehrseite eines Wolfgang Niedecken. Die Biografien dieser Künstler waren eine abgerundete und in sich geschlossene Sache, außerhalb einer gewissen Regelmäßigkeit, die so viele Brotberufe prägt.

4. Januar 2023


Gestern, bei Günter Jauch, hatte sich ein WWM-Kandidat zu den Auserwählten durch gequizt, der nach seinem Spracheinschlag unverkennbar aus Baden-Württemberg kam. Genauer gesagt, aus Gaggenau, wo er viele Jahre lang Beigeordneter im Stadtrat war und die Belange seiner Bürger entgegen nahm. Diese Tätigkeit hielt er für wichtig, interessant, aber auch sehr anstrengend. Um was für Belange es ginge, das fasste er unter dem Oberbegriff „Kleingärtnermentalität“ zusammen. Zwölf Jahre lang hatte er sich gekümmert, und heute war er froh, dass er diesen Job irgend wann losgeworden war. Allzu sehr sei die Charaktereigenschaft der Bürger als Kleingärtner ausgeprägt, die ihr eigenes Heim mitsamt Garten und Vorgarten hegten und pflegten. Über ihren eigenen Vorgarten hinaus zu schauen, dazu seien sie allerdings nicht mehr fähig. Persönliche Beeinträchtigungen und Störungen war die Hauptanliegen der Bürger, zu viel Verkehr, zu viel Baustellen, zu wenige Parkplätze, zu langsames Internet, schlechte Infrastruktur und so weiter. An den Tempo 30-Zonen entzündeten sich regelmäßig Konflikte. Die einen wollten Verkehrsberuhigung, die anderen wollten mit dem Auto vorwärts kommen. Zu vieles focussierte sich auf Verkehr und Mobilität, wobei die gegenläufigen Standpunkte ständig nur auseinander liefen. Irgend wann war es auch ihm leid geworden, sich ständig nur in Tempo 30-Zonen fort bewegen zu können. Als Beigeordneter hätte er nie das große Ganze in Visier nehmen können, er hätte sich dauerhaft in einem Klein-Klein-Gewurstele wieder gefunden. Die Widersprüche, was die Bürger wirklich wollten, hätte er nie auflösen können. Der Egoismus sei stark ausgeprägt, der Gemeinsinn um so weniger.

5. Januar 2023


Bisweilen muss man sich eine stoische Haltung gegenüber den Krankenkassen angewöhnen. Man muss lernen, Ruhe zu bewahren. Mit Verärgerung, Wut, Aggression oder persönlichen Angriffen zu reagieren, ist definitiv der falsche Weg, weil Menschen dahinter stecken, die sich durch einen Dschungel von Leitlinien hindurch kämpfen müssen. Eine solche böse Überraschung erlebten wir gestern vor der kieferorthopädischen Behandlung unserer Tochter. Fast zweitausend Euro Zuzahlung sahen wir auf uns zurollen, und dies wäre nicht der Endbetrag unserer Zuzahlungen. Wir diskutierten darüber mit der Kieferorthopädin. Ersatzkassen wie die Postbeamtenkrankenkasse hätten sich an das Niveau der gesetzlichen Krankenkassen angeglichen, und dies sei effektiv schlechter. So würden größere Anteile der Behandlung nicht mehr erstattet, was bis dahin erstattet worden sei. Wir hätten etwas Spielraum, weil die Kieferorthopädin bei den Brackets auf unseren Wunsch eine höhere Qualität kalkuliert habe. Diese ließen sich auf einen Durchschnittsstandard reduzieren, wodurch Kosten eingespart werden könnten. Nicht berücksichtigt waren bei den Zuzahlungen hingegen die Material- und Laborkosten, wovon bei zahnärztlichen Leistungen 60% selbst zu tragen waren. Ich überschlug grob die zweitausend Euro minus einer Durchschnittsqualität plus den nicht in die Rechnung der Krankenkasse aufgenommenen Material- und Laborkosten, da blieben wir ungefähr bei den zweitausend Euro hängen.

6. Januar 2023


Man konnte es schon beinahe als eine Nacht-und-Nebel-Aktion bezeichnen, dass ich mich auf den Weg machte nach Bayern zur Beerdigung des Onkels, mit dem ICE über Frankfurt und München nach Mühldorf, wo mich mein Cousin vom Bahnhof abholte. Zehn Minuten Verspätung hatte die Südost-Bayern-Bahn in Mühldorf, was angesichts der hohen Qualitätsmängel der Bahn mehr als akzeptabel war. Von Mühldorf nach Neumarkt St. Veit waren es zwanzig Minuten mit dem Auto meines Cousins. In Neumarkt St. Veit, wo ich ein Hotelzimmer gebucht hatte, gingen wir in einem griechischen Restaurant essen. Die Kleinstadt hatte einen hübschen, großen Marktplatz, mit dem griechischen Restaurant in einer Pferdestallung aus dem 18. Jahrhundert. Von vornherein war die Atmosphäre herzlich. Mein Vetter, 53 Jahre alt, hatte recherchiert, dass die beiden anderen Vettern aus dem Rheinland mit ihren Frauen / meinem Onkel sich etwas weiter entfernt ein Hotelzimmer gesucht hatten. Von dem einen Vetter hatte mein Cousin aus Bayern nicht einmal eine Handynummer, so dass wir beide an diesem Abend für uns bleiben würden. Das machte aber ganz und gar nichts. So traurig der Anlass, so groß war die Freude, dass ich nach etwas mehr als achtzehn Jahren bei meiner Verwandtschaft in Bayern verweilte. Wir erzählten über uns. Er litt an Leukämie, glücklicherweise an einer leichteren Form, die er mit einer Chemotherapie in den Griff bekommen hatte. Währenddessen hatte er sogar parallel gearbeitet, drei Tage Chemotherapie, zwei Tage Arbeit, und dies über ein halbes Jahr. Er arbeitete als Schreiner, war glücklich in seinem Beruf, glücklich verheiratet, seine Frau arbeitete Vollzeit in einem Betrieb der Automobil-Zuliefererindustrie, der Luftfilter herstellte. Er wohnte in einem renovierten Altbau in Gangkofen, zehn Kilometer entfernt von Neumarkt St. Veit, wo wir nun saßen. Von seinen beiden Mädchen arbeitete die eine im Ort in der Stadtverwaltung, die andere in einem Outlet-Center in Ingolstadt, wo sie als Geschäftsinhaberin Handtaschen verkaufte. Seine drei Geschwister wohnten verteilt in den Gegenden Südostbayerns, er wohnte mit seinem Bruder am nächsten zu seiner Mutter, seine eine Schwester wohnte dicht bei München, seine andere Schwester wohnte westlich von Ingolstadt. Mit dieser einen Schwester verstand er sich prima, während der Kontakt zu den beiden anderen Geschwistern relativ lose war. Ich selbst erzählte genauso von meiner Familie, von meinem Herzinfarkt, und dass es im Grunde genommen schade war, dass wir so weit auseinander wohnten und uns dermaßen selten sahen. In Zeiten, als ich noch Schule gegangen war, war das anders gewesen. Mein Vater war Taufpate, und Ende der 1970er Jahre war mein Vetter zur Erstkommunion gegangen. In diesem Zeitraum waren wir gleich mehrere Jahre hintereinander nach Bayern gefahren. Neben den familiären Geselligkeiten, hatte ich in dieser Zeit meine Liebe fürs Weizenbier entdeckt. In der Nähe des Bauernhofs, der abgeschieden im Ländlichen lag, gab es eine Dorfkneipe, in der ich gerne dieses Weizenbier trank. Darüber hinaus erinnere ich mich an das Essen, das mir oftmals nicht schmeckte und Spaziergänge in der näheren Umgebung, die sehr einsam war, große Wiesen und wenige Waldstücke bereit hielt, und die hügelig war mit bisweilen größeren Steigungen. Mein Vetter erinnerte sich, dass mein Vater ihm zu seinem Namenstag, dem Nikolaustag, stets Spielsachen schickte, häufig waren es Baukästen zum Basteln. Diese Geschenkpakete hatte meine Mutter dann sorgfältig ausgefüllt mit nicht mehr getragenen Anziehsachen von mir und meinem Bruder, welche dann meinen Vetter weniger interessierten. In einem Jahr hatten wir in Berchtesgaden Urlaub gemacht, ein Urlaub, den ich in einer weniger schönen Erinnerung hatte, weil wir nur überlaufene Sehenswürdigkeiten besichtigten wie etwa Schloss Herrenchiemsee, den Königssee, den Watzmann oder die Kapelle von Ramsau. Während ich mich überrannt gefühlt hatte von den Touristenmassen, hatte mein Vetter unseren Urlaub geschätzt, weil sie zu den Ausflügen teilweise mit dabei waren. So kamen sie weg von der heimischen Umgebung – das waren seltene Gelegenheiten, andere Gegenden kennen zu lernen. Im griechischen Restaurant war es einiges nach 22 Uhr, als wir uns zu meinem Hotel begaben, er wollte dort noch ein Bier trinken, weil er den ganzen Abend im griechischen Restaurant nichts alkoholisches getrunken hatte. Und in dem Hotel zur Post, wie es sich nannte, sollte mich das nächste Abenteuer ereilen. Wir hatten uns beiden an den Stammtisch nieder gelassen, der zu diesem Zeitpunkt noch leer war. Kurze Zeit später kamen dann aber die Stammgäste, die sich in all ihrer Herzlichkeit zu uns gesellten, aber solch einen Kauderwelsch von Dialekt sprachen, dass ich sie nicht verstehen konnte. Alles Reden und Miteinandererzählen war Stückwerk, weil sie außer Stande waren, sich der hochdeutschen Sprache zu bemächtigen. Ich lernte, dass der Dialekt irgendwo zwischen Niederbayern und Oberbayern lag. Mein Vetter hatte zweifellos keine Mühe mit dem Dialekt, mich erinnerte der Rest des Abends hingegen an den Kinofilm „Willkommen bei den Schtiis“, der zwar in Nordfrankreich spielte, aber dieselben Gegensätze zwischen sprachlich weit auseinander liegenden Regionen aufzeigte. Ein wenig schüttete ich die Differenzen mit einigen Innbräu herunter, das war ein dunkles, sehr lecker schmeckendes Weizenbier vom Faß. Spät, sehr spät fand ich mich dann auch in meinem Bett wieder.

7. Januar 2023


In der Pfarrkirche von Hörbering konnte man ganz gut die Platzierung christlicher Symbole studieren. In der Mitte des wunderschönen hölzernen Altars war Christus als Weltenrichter zu sehen, links daneben hielt der Begründer Kirchen, der heilige Petrus, den Schlüssel in der Hand, die Figur rechts neben Christus wusste ich nicht zu deuten. Die Seitenwände waren mit Gemälden ausgefüllt, auf denen die Kreuzwegstationen dargestellt waren. Auf dem Predigtstuhl konnte man die vier Evangelisten erkennen. Das Innere der Kirche war schön, aber nicht überladen. Auf den eng zusammen gestellten Bänken hatten sich die Gläubigen, Witwe, Kinder, Angehörige wie ich und andere Freunde und Weggefährten zur Beerdigung des Onkels so zahlreich versammelt, dass die Menschen in dem kleinen Kirchenraum dicht beisammen saßen. In Bayern tickten die Uhren ein wenig anders als bei uns im Rheinland, denn es wurde zuerst der Rosenkranz gebetet, danach wurde die eigentliche Beerdigungsmesse gelesen. Der Pastor erzählte aus dem Leben des Onkels Dinge, die mir so nicht bekannt waren. Dass er Zimmermann gelernt hatte und dass er vom Rheinland nach Bayern ausgewandert war, um Landwirtschaft auf einem Bauernhof zu betreiben, das wir mir bekannt. Auch noch, dass er die Landwirtschaft aufgegeben hatte, weil sich der immense Aufwand der Viehwirtschaft und die Erträge nicht rechneten. Nicht bekannt war mir hingegen, dass er als Zimmermann in Kölner Dom tätig gewesen war, um den Dachstuhl zu sanieren. Ebenso war mir unbekannt, dass er in mehreren Kirchen in der Umgebung seines Wohnortes in Bayern Dachstühle in Kirchen saniert hatte. Als Handwerker war er sehr versiert gewesen, so dass er bei all seinen Kindern beim Bau, Umbau und Renovierung von deren Eigenheimen behilflich war. In Vereinen war er aktiv, Schützenverein und Feuerwehr, so dass er mit seiner Familie Wurzeln in Bayern geschlagen hatte. Nach der Messe wurde auf dem umliegenden Friedhof seine Urne beigesetzt, und mit der weiß gestrichenen Fassade und dem hoch aufsteigenden Turm der Kirche wirkte alles sehr harmonisch. Unter den zahlreichenden Gästen identifizierte ich mittlerweile eine Cousine und einen Cousin, die ich beide alsbald begrüßte. Er hatte vier Kinder, davon hatte mich der eine Sohn am Vortag vom Bahnhof in Mühldorf abgeholt, eine Tochter hatte mich an diesem Morgen am Hotel abgeholt. Dazwischen hatten wir meine Tante aufgesucht, die angesichts des Schicksalsschlages mit ihren 87 Jahren einen durchaus gefassten Eindruck machte. Die Tante war übrigens noch relativ mobil, sie legte viele Strecken mit dem e-Bike zurück und bewegte sich viel an der frischen Luft. Zwischen den vier Kindern war hingegen die Anzahl der Enkelkinder unübersichtlich. Diese hatten dann sogar zwei Urenkelkindern zur Welt gebracht, bei denen ich es aufgegeben hatte, diese zuzuordnen. Auf dem Friedhof, wo die Verwandtschaft aus dem Rheinland dazu gestoßen war, bestanden die wesentlichen Inhalte der Gespräche darin, welche Kinder zu wem dazu gehörten. Nach der Beerdigung fuhr mich die eine Cousine, die mich vom Hotel abgeholt hatte, zum Leichenschmaus, wie ihn der Pastor in der Kirche bezeichnet hatte. Auch darin tickten die Uhren anders als bei uns, wo man sich bei einer Beerdigung mit Brötchen, Wurst und Käse begnügte. Wir fuhren zu einem Lokal mit einem großen Saal, wo sich eine entsprechende Anzahl von Trauergästen versammelt hatte. An langen Tischen hatte sich eine Sitzordnung mit an die zehn Personen etabliert, welche den Zirkel der möglichen Gespräche bestimmte. Es wurde ein vollständiges Mittagessen gereicht, entweder Schnitzel mit Fritten oder Sauerbraten mit Spätzle, als Vorspeise gab es einen Salatteller, als Nachtisch ein Stückapfelpfannkuchen mit Vanilleeis. In der Sitzordnung saß ich neben der Tante, einem Onkel aus dem Rheinland, der einen Cousine, die mich vom Hotel abgeholt hatte und einem Cousin mit seiner Frau, ebenfalls aus dem Rheinland. Die Gesprächszeit nutzte ich, mich mit der Tante zu unterhalten, was für ein Mensch mein Onkel gewesen war. Näheres erfuhr ich über die familiären Verhältnisse der einen Cousine, dass sie in einer Patchworkfamilie lebte und nordwestlich von ihren Eltern am weitesten entfernt wohnte. Die Frau des Cousins aus dem Rheinland erzählte, dass sie in der Betreuung von körperlich Behinderten tätig war, was mir so nicht bekannt war und was dem Gegenstück dessen entsprach, wie die Betreuung in unserer Dreier-WG aussah. Naturgemäß war die Zeit viel zu kurz, mit allen zu reden, mit denen ich gerne geredet hätte, zumal ich keine weitere Nacht übernachten wollte und mit dem Zug um 16.42 Uhr von Neumarkt St. Veit aus nach Hause fahren wollte. So blieb etwa ein Zeitfenster von zwei Stunden in der Gaststätte, in dem ich mich vielleicht gerade zehn Minuten mit der einen Cousine unterhielt und die Konversation mit dem anderen Cousin zeitlich nicht schaffte. Ebenso war das Zeitfenster zu knapp, um mich mit dem anderen Cousin aus dem Rheinland zu unterhalten. Also alles in allem viel zu rudimentär, sich bei der Verwandtschaft wieder sehen zu lassen, das stellte ich, und die Anfragen waren sehr vielfältig, dass die Cousinen und Vettern aus Bayern uns in der Kölner Bucht besuchen wollten. Da mussten wir mal schauen, wie dies organisierbar sein würde. Einstweilen fuhr mich die eine Cousine gegen viertel nach vier zum Bahnhof von Neumarkt St. Veit, wo die Regionalbahn nach Landshut pünktlich einfuhr.

8. Januar 2023


Entgegen dem Ruf der Deutschen Bahn fuhren die Züge in der allerbesten Pünktlichkeit. Umsteigen in Landshut, pünktlich fuhr der Regionalexpress, der gerade zweimal hielt, im Münchener Hauptbahnhof ein. Der ICE, der eine halbe Stunde später losfuhr, war genauso pünktlich. Da ich auf der letzten Strecke den Bus nahm, dauerte es noch fast bis ein Uhr, bis ich zu Hause war. Am Sonntag rief ich schließlich den einen Cousin in Bayern an, wie die Feier noch verlaufen war. Traurig war der Anlass, aber die Feier war an für sich schön gewesen. Ein weiterer trauriger Anlass war allerdings dazu gekommen. Vor vier, fünf Jahren war bei meinem Cousin Leukämie diagnostiziert worden. Ein halbes Jahr lang hatte er eine Chemotherapie erhalten, die er gut weggesteckt hatte, danach war er vollkommen beschwerdefrei. Über seine Krankheit hatte er jemanden kennen gelernt, der ebenso an Leukämie litt. Sein Krankheitsverlauf hatte deutlich schlechter ausgesehen und sich zuletzt dramatisch verschlechtert. Er sollte in die Palliativstation verlegt werden, doch zuvor hatte er morgens um 8 Uhr einen Anruf erhalten, dass sein Freund verstorben war. Einem Tod folgte also der nächste, die Tragik setzte zu einem neuen Anlauf an. Den Leichenschmaus und dass die Verwandtschaft aus dem Rheinland ziemlich zahlreich vertreten war, hatte er als schön empfunden, eingebettet in eine Achterbahnfahrt der Gefühle. Der eine Vetter hatte sich mit seiner Frau und seinem Vater Zeit genommen. Der Leichenschmaus hatte bis etwa sechs Uhr gedauert, danach hatte man sich bei der Mama getroffen. Dass die beiden Geschwister länger Zeit zusammen sein konnten, half bei der Trauerbewältigung. Mein Onkel aus dem Rheinland zählte übrigens 85 Jahre.

9. Januar 2023


Bei meinem Anruf fragte mich mein Vetter, was wir denn am machen seien. Ich antwortete, dass wir mit einer unserer häufigsten Tätigkeiten beschäftigt waren: wir trieben Papierkrieg. Wir mussten Formulare ausfüllen, in denen Kästchen anzukreuzen waren. In größere Kästchen waren Freitexte einzutragen, aber es war nur schwammig war umrissen, was genau gemeint war. Diesmal ging es um die Psychotherapie des Schwagers. Wie bei anderen Krankheitsbildern, war die Kommunikation mit dem Kundenkreis einer geistigen Behinderung so spezifisch, dass sich Spezialisten darum kümmerten. Eine Sitzung hatte der Schwager in der Anwesenheit meiner Frau absolviert, und nun sollte die Krankenkasse weitere Sitzungen genehmigen. Bei Behinderten sahen die Krankenkassen üblicherweise keinen Bedarf für eine Psychotherapie, so dass sie diese ablehnten. Genau diese Formulare mussten wir nun ausfüllen mit genaueren Angaben zum Krankheitsbild beim Schwager und zur Notwendigkeit einer Psychotherapie. Auf drei Seiten waren Vorder- und Rückseite auszufüllen, ärztliche Stellungnahmen waren beizufügen, darunter die Stellungnahme des Psychotherapeuten. Mittlerweile waren wir solch einen Papierkrieg gewohnt, der Schriftkram mit dem Amtsgericht war ins Unermeßliche angewachsen, mit der Krankenkasse wurde jede Menge Papier produziert, Befunde und Arztunterlagen gab es ausschließlich in Schriftform, und die Aktenordner quollen vor Papier über. Das Absurde an diesem Papierkrieg war, dass ein großer Anteil widersinnig bis unsinnig war. Dieser Antrag, der auf Papier geschrieben war, würde von der Krankenkasse abgelehnt werden. Bei solch einer Ablehnung stand aber der Landschaftsverband aus Fürsorgegründen in der Pflicht, dass sich der Schwager einer Psychotherapie unterziehen sollte. Geldmäßig würde dann nicht der Geldtopf der Krankenkassen belastet, sondern derjenige des Landschaftsverbandes. Dieser Geldtopf lebte wiederum vom Hin- und Hergeschiebe von öffentlichen Geldern, von Sozialhilfe, von Leistungen der Krankenkassen und so weiter. Ein Gemengelage, was höchst komplex und kaum durchschaubar war. Mit all diesen Papierbergen wurden wir somit in absurde Strukturen hinein gezogen, so dass wir des öfteren den Sinn hinterfragen mussten, was die Verantwortlichen so trieben.

10. Januar 2023


Vollkommen aus Versehen machte unser kleines Kätzchen einen Ausflug an die frische Luft. Morgens, zur Schule, zum Home Office, liefen die Erledigungsschritte auch bei unseren Katzen wie gewohnt ab. Bevor ich Brötchen beim Bäcker geholt hatte, hatte ich unsere Katzen mit Ausnahme unseres Kätzchens Lilli an der Haustüre heraus gelassen. Nachdem ich vom Brötchenholen zurück gekehrt war, kamen unsere drei Kater nacheinander – jeder für sich – wieder zur Haustüre herein. Dann fraßen sie in unserer Küche, wobei ich mich fürs Home Office und unsere Tochter sich für die Schule fertig machte. Kurz nach halb acht verließen wir beide das Haus, als ich sie mit unserem PKW zur Schule fuhr. Danach schottete ich mich am Büroarbeitsplatz im Home Office ab, meine Frau war aufgestanden, sie erledigte dies und das, bis sie irgendwann, da war es bereits sehr später Vormittag anmerkte, dass sie unser kleines Kätzchen noch gar nicht gesehen habe. Ich selbst musste mich genauso auf die Suche begeben, ich fand sie aber an ihren Lieblingsplätzen nicht. Da ich nachfolgend Termine hatte, hatte ich keine großartige Zeit, ach ihr weiter zu suchen. Die Lösung ergab sich um die Mittagszeit, als wir vor der Haustüre den Kopf einer Katze erspähten und diese herein ließen. Es war unser Kätzchen Lilli, das unfreiwillig einen Ausflug an die frische Luft unternommen hatte. Womöglich hatten unsere Tochter und ich nicht aufgepasst, als wir vor dem Wegfahren unserer Tochter zur Schule die Haustüre geöffnet hatten. Nun waren wir glücklich, dass unser Kätzchen wieder zurück gekehrt war. Da sie noch nicht kastriert war, hofften wir, dass sie keinem Kater über den Weg gelaufen war.

11. Januar 2023


Heute erlebte ich ein Beispiel, dass die Kommunikation bisweilen nicht richtig stimmt. Man redet aneinander vorbei, es wird nicht richtig zugehört oder man interpretiert eine persönlich am besten passende Variante. Es ging darum, den Schwager zur Logopädie in den Nachbarort zu fahren. Die Logopädie fand von 14.45 Uhr bis 15.30 Uhr statt, meine Frau musste aber arbeiten und ich selbst arbeitete zwar im Home Office, ich hatte aber von 14 bis 15 Uhr eine Telefonkonferenz. Da der Schwager mit dem Rollator nicht mehr so mobil war, um mit dem Linienbus dorthin zu fahren, organisierte meine Frau ein Taxi. Für die Hinfahrt, denn für die Rückfahrt war ich nach 15 Uhr wieder verfügbar. Um die Hinfahrt bezahlen zu können, gab meine Frau ihm genau zehn Euro, was mit dem Restgeld in seiner Geldbörse ausreichte. So fuhr ich denn so los, dass ich um 15.30 Uhr an der Logopädie war, aber es war kein Schwager zu sehen. Er habe bereits die Praxisräume verlassen, sagte man mir dort, und weil ich ihn draußen weit und breit nirgendwo entdeckte, fragte ich in der Praxis nach seinem Verbleib nach. Er sei mit dem Taxi abgeholt worden, antwortete mir die Logopädin. Da das Taxi ihn sicher nach Hause gebracht haben würde, fuhr ich beruhigt nach Hause zurück. Kaum war ich dort angelangt, klingelte das Telefon. Der Taxifahrer war in der Leitung. Der Schwager habe nicht genug Geld, und nun stehe er da. Ob er denn eine Rechnung schreiben können und wir würden das Geld überweisen, meinte ich. Rechnung oder Quittung nur dann, wenn bezahlt sei, antwortete er. Also fuhr ich los dorthin, weil ich noch ausreichend Geld in meinem Portemonnaie hatte. So erwartete er mich denn. Der Schwager saß bedröppelt in seinem Auto, er verließ das Taxi alsbald, nachdem ich ausgestiegen war und bewegte sich mit seinem unsicheren Gang zur Haustüre. Ich musste ihn noch abgreifen, damit ich aus seiner Geldbörse diejenigen Geldmünzen herausholte, die er noch besaß. Das waren sechs Euro, und den Rest musste ich dazu tun, um die 11,10 Euro bezahlen zu können. Im Grunde genommen hatte er sich in solch einem Tempo aus dem Staub gemacht, wie ich es von ihm nicht kannte. Ich verspürte auch keine Lust, ihm ins Haus zu folgen. Als er aus dem Taxi ausgestiegen war, hatte ich ihn damit begrüßt, dass wir ihm mehrfach mitgeteilt hätten, ich wolle ihn an der Logopädie abgeholt haben. Als ich den Taxifahrer bezahlt hatte, fuhr ich direkt nach Hause und verspürte keine Lust, gegenüber dem Schwager diese Botschaft im Haus der Dreier-WG zu wiederholen.

12. Januar 2023


Wie die Deutschen denn ticken, darüber habe ich mir früher sehr intensiv Gedanken gemacht. Das war vor allem anfangs so, als ich in das Berufsleben eingetreten war und mich über so manche Charaktereigenschaften meiner Arbeitskollegen wunderte. In diesem Kollegenkreis von Beamten waren der Gehorsam, Kleinkriege zwischen Abteilungen oder das Katzbuckeln vor Vorgesetzten allzu sehr verbreitet. Ebenso glaubte ich, andere schlechte Charaktereigenschaften aus den dunklen Seiten der deutschen Vergangenheit ableiten zu können. Auch heute noch hege ich im Alltag Skepsis gegenüber bestimmten Charaktereigenschaften, die ich als typisch deutsch empfinde. Als typisch deutsch empfinde ich ein Erlebnis von zuletzt, was die Parkplatzsuche betrifft. Unsere Tochter hatte ich zur Kieferorthopädin gefahren, wo sämtliche Parkplätze vor der Praxis belegt waren, so dass ich in einer umliegenden Seitenstraße suchen musste und auch fündig wurde. Und nach dem gefundenen Parkplatz, dessen Suche mir einigen Zeitaufwand gekostet hatte, wurde ich sogleich mit einer typisch deutschen Charaktereigenschaft konfrontiert. Ich hatte auf der Straße vor einem Mehrfamilienhaus geparkt, wo die Parkplätze auf der Fahrbahn markiert waren. Für mich war es also eindeutig, dass das Parken dort erlaubt war. Bei der Rückkehr von der Kieferorthopädin erwartete mich prompt eine Bewohnerin, die in ihrem Balkon im ersten Stock verweilte. Ich hätte den Parkplatz ihres Mannes blockiert, der draußen mit seinem Auto unterwegs sei. Ich entgegnete, dass wir zu Hause dasselbe Problem hätten, dass der Parkplatz vor unserer Doppelhaushälfte von Besuchern der umliegenden Häuser heiß begehrt sei. Wenn jemand anders dort parkt, da könnten wir halt nichts machen. Ich solle so schnell wie möglich den Parkplatz verlassen, entgegnete sie noch, und ich glaubte in ihrem Gesichtsausdruck eine Eiseskälte abzulesen. Parkplätze lösen Begehrlichkeiten aus, jedem Wohnungsinhaber sein Parkplatz. Gesellschaften lösen sich in ihre Einzelbestandteile auf, weil jeder auf seinen Parkplatz pocht. Jeder klebt an seinem Parkplatz fest, ganze Stäbe von Stadtplanern müssen in ihren Konzepten Parkplätze berücksichtigen, Parkplätze als Synonym für Besitzstandswahrung. Die Situation hatte mich angewidert, und vielleicht ist diese Ursache-Wirkungs-Kette von Besitz über Auto und Parkplatz typisch deutsch.

13. Januar 2023


Ein Glas mit einer Flüssigkeit und einem Weihnachtsmann – und wenn man das Glas umdreht, dann schneit es in der Flüssigkeit. Im Nachbarort fand der einmal monatliche Treff der Behinderten statt, wohin ich den Schwager und den einen Bewohner mit seiner Freundin gefahren hatte. Oft war der Treff so gestaltet, dass Kaffee getrunken wurde, dabei wurde Kuchen oder Schnittchen gegessen und es wurde gebastelt. Die Frauen, die den Treff organisierten, waren mittlerweile an die 80 Jahre alt oder älter, dabei war ihr Engagement über mehrere Jahrzehnte erstaunlich. Egal, ob Basteln oder Lieder singen oder Picknick, sie kümmerten sich um das Wohl der Behinderten, die über Jahrzehnte zu einer verschworenen Gemeinschaft geworden waren. Neu war diesmal, dass die Freundin unseres WG-Bewohners dabei war. Als ich die drei abholte, zeigte auch sie stolz ihr Glas. Die Flüssigkeit war nicht grünlich eingefärbt wie beim Schwager, sondern klar. Und sie drehte ihr Glas um und zeigte mir, wie sich die Kristalle von Schneeflocken am oberen Rand der Flüssigkeit ansammelten und dann in einem dichten Schneetreiben, wie richtige Schneeflocken, herunter rieselten.

14. Januar 2023


Was für nette Nachbarn wir doch haben. Mitten im Home Office, kurz vor einer Telefonkonferenz, klingelte es und die Besitzerin des Mietshauses gegenüber stand vor der Haustüre. Wir wussten, dass ihr Kater weggelaufen war, zu Anwohnern in der Nachbarschaft, die ihn stets gut gefüttert hatten und wo er dauerhaft geblieben war. Das war traurig für die Nachbarin, aber der Kater kam damit gut zurecht, weil er sich in seinem neuen Zuhause wohl fühlte. Für den Kater hatte sie ein paar Anschaffungen getätigt, die sie nun nicht mehr benötigte. Zu diesen Anschaffungen gehörte ein Tunnel für Katzen. Die äußeren Boxen waren zum Kratzen, und in das Innere des Tunnels konnten die Katzen hinein kriechen. Mit diesem Katzen-Spielzeug hatte unser Kätzchen Lilly einen Wahnsinns-Spaß. Rein, raus in den Tunnel, unser Kätzchen konnte damit nicht aufhören. Ihr Körper verschwand in dem Tunnel, dann schaute ihr Kopf aus dem Loch heraus, dann sprang sie in einem Satz heraus, als wolle sie eine Maus fangen. Hin und her, und dann raste sie durch unser Wohnzimmer. Ihren Spieltrieb konnte sie an diesem Gerät abreagieren, und sie flitzte hin und her in den Tunnel. Unsere Nachbarin meinte noch, ihr Kater habe den Tunnel kaum benutzt, als er noch bei ihr zu Hause gewesen war. Wie verrückt unser Kätzchen darauf ist, müssen wir ihr noch erzählen.

15. Januar 2023


Der Geisteszustand von Behinderten versetzte mich bisweilen vollkommen in Verwirrung, wenn der Zustand gar nicht weit weg von der Normalität war. Der Defekt war eher klein, die Behinderten konnten klar denken, klar fühlen konnten sie sowieso, aber irgendetwas stimmte in den Abläufen im Gehirn oder in deren Logiken dann doch nicht ganz. Im Grunde genommen, traf dies auf die beiden anderen WG-Bewohner zu, bei denen ein objektiver Dritter denken mochte, sie seien vollkommen normal. Am Sonntag wollten wir dem einen WG-Bewohner eine Freude bereiten, indem wir ihn zum Burger-Essen einluden in einem Burgerrestaurant in Godesberg, wo die Burger handgemacht waren. Das besondere an diesem Burgerrestaurant war, dass es sich um ein inklusives Restaurant handelte, wozu öffentliche Fördermittel spendiert worden waren. Im Restaurant arbeiteten Menschen mit Handicap, der Kellner und die Kellnerin schienen dieser Menschengruppe allerdings nicht anzugehören. Das Restaurant war Sonntagsnachmittags rappelvoll, es war schön und gemütlich eingerichtet, und unsere Vierergruppe fühlte sich an den Holztischen auf Anhieb wohl. „Godesburger“, so hieß das Restaurant und auch der Standard-Burger, wo nichts aus einer Massenproduktion kam, sondern alles einzeln von der Hand zubereitet wurde. Am Tisch, bei den Gesprächen, saß ich dann dem einen WG-Bewohner gegenüber, der vor sich her philosophierte, allerdings mit seinen Gedanken nicht den Kern traf, wo ich mich bei einem Richard David Precht, einem Philipp Blom oder einem Harald Welzer beheimatet fühlte. Seine Gedanken befassten sich mit der Natur und dem Weltall. Welcher wäre der am ehesten besiedelbare Planet, wenn sich die Menschheit durch einen Atomkrieg auslöschen würde ? Wäre es Pluto, auf dessen Oberfläche Wasser entdeckt worden war ? Welche Arten von Haien gab es ? Welches Tier nahm die meiste Nahrung zu sich ? Wie war die Nahrungszufuhr sichergestellt ? Ich wusste auf nichts eine Antwort, mir fiel allenfalls der Katzenhai bei den Haiarten ein. Mit der Zoologie und den Planeten hatte ich mich nie beschäftigt, allerhöchsten hatte ich das Album „Solar Fire“ von der Manfred Mann’s Earth Band mit großer Leidenschaft gehört. Darüber hinaus hatte ich kein Gesamtgefüge, wo ich diese Grundsatzfragen hätte verorten können. Das Allgemeinwissen meiner Frau war jedenfalls einiges besser, so dass sie die eine oder andere Frage beantworten konnte. Wir redeten über dieses und jenes, darüber, dass das Burgerrestaurant am Sonntagnachmittag äußerst gut besucht war und dass die Sitzplätze im Nebenraum ohne Nischen und ohne Blick auf den Thekenbereich einiges weniger gemütlich waren. Zu unserer eigenen Überraschung aß der eine WG-Bewohner, den meine Frau eigenes eingeladen hatte, nicht einmal einen Hamburger, obschon Hamburger zu seinen Lieblingsspeisen gehörten. Das begründete er damit, dass er spät gefrühstückt habe, und darauf antwortete meine Frau wiederum, dass wir dafür hätten sorgen sollen, dass er früher hätte aufstehen sollen. Seitdem er nicht mehr in die Behindertenwerkstatt ging, war er äußerst träge geworden. Das zeigte sich beim Schlafen und beim Aufstehen. Die Tagesabläufe waren kaum noch strukturiert, am Wochenende fuhr er zu einer Hip-Hop-Gruppe, alle paar Wochen fuhr er nach Siegburg zu einer Psychotherapie, zwei- bis dreimal wöchentlich kam die Betreuung, was an Putzen, Waschen, Einkaufen zu erledigen war. Vom Prinzip her konnte er so lange schlafen, wie er wollte. Anstelle eines Hamburgers aß er nun eine Waffel mit Vanilleeis im Burgerrestaurant. Doch da richteten wir uns nach seinen Essensvorlieben. Die Fritten und unsere Hamburger hatten uns jedenfalls bestens geschmeckt.

16. Januar 2023


Seite für Seite in mich hinein saugend, stelle ich fest, dass die Autobiografie von Bono, dem U2-Sänger, ein Hammer ist. Perfekt beschreibt er die Grundstimmung des Rock, wie die Musik sein Alltagsleben bestimmt. Er beschreibt sein freies Leben als Künstler, die durch die eingeschweißte Gemeinschaft der vier Bandmitglieder bestimmt ist. Sehr viele Grundhaltungen erkenne ich in mir selbst wieder: der Gestaltungswille, die Suche nach Freiräumen, die nur bedingte Unterordnung, die Entäußerung der eigenen Gefühlswelten, der Glaube daran, dass seine Musik vieles verändern kann. Ich kann weder singen, noch Rockmusik auf einem Instrument spielen, aber meine Ziele der eigenen Freiheit habe ich lange Zeit auf meinem Rennrad verfolgt. Auch an meinem Arbeitsplatz hatte ich mir einige Freiheiten heraus genommen, die Dinge so zu tun, wie es mir passte. Was bei Bon zu einem vollständig geordneten Ganzen geworden ist, ist bei mir allerdings kaum über den Status von Parallelwelten hinaus gekommen: phänomenale Eindrücke habe ich gesammelt, eine Einheit mit der Natur hatte ich herauf beschworen, Ideensammlungen und Notizen waren vielleicht nicht unähnlich denjenigen, wie Bono sie gesammelt hatte. Überhaupt stelle ich beim Lesen des Buches Seite für Seite fest, dass andere Autobiografien – wie diejenigen von Wolfgang Niedecken oder Yves Montand – ähnliche Lebensverläufe beschreiben, wie ich sie bei mir vorgestellt hätte. In meinem eigenen Leben kam allerdings kein Werk heraus wie bei diesen Größen des Rock, des Intellekts oder des französischen Chansons. Mit dem Abarbeiten von Aufgaben, die mir meine Firma vorgegeben hat, bin ich nicht unglücklich geworden. Jede Aufgabe hat seine Reize – und hat mit einem festen Einkommen auch Sicherheit gegeben. Es ist unnütz zu spekulieren, wohin die Reise gegangen wäre, wenn ich Künstler geworden wäre. Ein Scheitern habe ich mit diesem Werdegang vermieden, ein noch größeres Glück wahrscheinlich genauso.

17. Januar 2023


Waren es die viel zu milden Temperaturen Schuld, dass ich zuletzt mit Kopfschmerzen zu tun hatte ? Am Arbeitsplatz fiel es mir schwer, mich zu konzentrieren, und selbst nach einem Spaziergang in der Mittagspause hatte ich den Kopf nicht frei. Zusammenfassend musste ich feststellen, dass es an Bewegung mangelte und dass ich nicht genügend raus kam, trotz Beerdigung in Bayern oder trotz Besuch im Burgerrestaurant. Das Stadtbild war zu zerrissen und abgerissen. Schöne Landschaften wie die Wahner Heide oder das Siebengebirge lagen nicht in Reichweite, und so musste ein Kurzabstecher an den Rhein all die fehlenden Antriebe der Bewegung ausgleichen. Reichlich Regen, worüber wir uns in anderen Jahreszeiten gefreut hätten, hatte auf das Gemüt gedrückt. Wochenlang war der Himmel trüb und ohne Licht. Wolkenverhangen, hatten die düsteren Szenerien kein Ende genommen. Regen beflügelt mich normalerweise, doch in den letzten Wochen glaubte ich die Anfänge einer Depression zu erkennen. Die Missstimmung verstärkte sich durch das Erscheinungsbild des Wohnorts, der keine Liebe zum Detail zeigte und sich streng stadtplanerisch an den Zonen des Wohnens und Arbeitens orientierte. Was für Massen vom Himmel geregnet sind, zeigt sich nun im Rhein. Hochwasser mit schlimmen Überschwemmungen haben wir in den letzten Jahren keine mehr erlebt, und momentan schwillt der Rhein eher zu einem Anfang von Hochwasser an. Die Ufer sind überschwemmt, das Verkehrsschild steht im Wasser, die vorbei fahrenden Schiffe fixieren sich auf die Mitte des Stroms. Ein wenig gelingt es dem Naturschauspiel, meinen Kopf frei zu bekommen, der in dem Kreislauf von Zuhause, Büro und Dreier-WG abstumpft. Ich habe das Gefühl, dass mein innerer Akku leer ist und dass es mir nur teilweise gelingt, ihn bei diesem Spaziergang und mit den Fotoaufnahmen wieder aufzuladen. Dazu ist die Auszeit einfach zu kurz.

18. Januar 2023


Die Rahmenbedingungen stehen eigentlich nicht schlecht, meine innere Energie wieder aufzuladen. Dabei kann ich Synergien zum Wetter nicht von der Hand weisen, dass Regen – aber kein ständiger Dauerregen – meine Stimmung hebt, ebenso wie Kälte im Winter oder Sonnenwetter im Sommer – aber ohne diese Affenhitze wie in den letzten Sommern. Derzeit ist das Wetter so ziemlich optimal, es ist knackig kalt nach den viel zu warmen zweistelligen Temperaturen in den vergangenen Januarwochen. Die Sonne scheint unbedrängt, nur ein paar Bündel von Schleierwolken haben sich vor die Sonnenscheibe gemogelt. Der blaue Himmel läßt eine Farbe erscheinen, die wir zuletzt so sehr vermisst hatten. Der Spaziergang fällt allerdings viel zu kurz aus. Der Weg führte zum Rhein mit seinen Überschwemmungen im Uferbereich, dann ein Stück zurück von der Panzerstraße bis zum Rheindamm. Die ganze Natur glitzerte weiß, die Wiesen zum Rheindamm sahen wie gezuckert aus. Der Rauhreif war ein vollwertiger Ersatz für den nicht vorhandenen Schnee, den wir bei zweistelligen Temperaturen vor kurzem noch als eine Blüte der Phantasie abgetan hätten. Um leistungsfähig an meinen Home Office-Arbeitsplatz zurück zu kehren, dazu war die Winterlandschaft – auch ohne Schnee – eigentlich perfekt. Um zu einem inneren Ausgleich zu gelangen, stellte ich fest, dass meine Digitalkamera ein wichtiges Hilfsmittel war. Ich forschte nach den Blickwinkeln, um die Natur optimal zu erfassen, ich stand irgendwo zwischen Rhein und Damm. Wiesen erstreckten sich zwischen diesen zwei Welten, einem Niemandsland, das weitgehend der Natur überlassen war. Und in diesen Zwischenwelten richtete ich meine Kamera auf all die Wucht einer technischen Kälte, welche die Landschaft in all ihrer Härte zerschnitt: das waren Strommasten und Hochspannungsleitungen. Die technische Ausprägung traf hier auf eine Natur, wo sich die Gegensätze nicht auflösen konnten. Unverbunden liefen beide Materien nebeneinander her, die eine Welt hatte mit der anderen nichts zu tun. Ein Spannungsfeld baute sich auf, bei dem die Strommasten mit ihrer Höhe dominierten. Ein Fremdkörper zerschnitt die Harmonie des Tages, mein innerer Ausgleich stabilisierte sich dennoch. Aber auch hier war es genauso wie zuvor am Rhein. Die Auszeit war einfach zu kurz, und so gelang es mir nur wenig, meinen inneren Akku wieder aufzuladen.

19. Januar 2023


Ein schön arrangierter Abend mit einem bösen Ende. Wir waren beim Arbeitgeber meiner Frau, einem Gartenmarkt in unserem Ort, wo die Poststelle untergebracht war. Ein ehemaliger Mitarbeiter, der vor langer, langer Zeit beim Inhaber des Gartenmarktes beschäftigt war, war nun Karnevalsprinz in unserem Ort, und der Inhaber hatte nun den Karnevalsprinz in seinen Gartenmarkt eingeladen. Zeitweilig kam ich mir etwas verloren vor zwischen so vielen unbekannten Gesichtern, doch die Veranstaltung war nett gemacht. Der Prinz und sein Gefolge lieferten ein volles Programm ab. Sie zogen mit reichlich Tamtam ein, sangen Karnevalslieder, sie bedankten sich für die Einladung und begrüßten den Gartenmarktinhaber. Der Prinz hielt eine längere Rede, in der er auf seine Vergangenheit als Mitarbeiter zurück blickte, die etwa dreißig Jahre zurück lag. In seiner Rede betonte er, dass auch für das leibliche Wohl seines Chefs verantwortlich gewesen war, indem er in der Mittagspause Verpflegung in Supermärkten oder Imbissbuden besorgte. Für diese Holdienste war sogar bis heute unter anderem meine Frau noch zuständig. Darauf abzielend, überreichte ihm der Karnevalsprinz ein Geschenk in einer Papiertüte des Discounters Plus, den es heute so nicht mehr gab. Dieses Geschenk umfasste eine große Tafel Schokolade und eine Literflasche Cola. Versammelt hatten sich im Gartenmarkt rund 20-25 Freunde, Bekannte und Angehörige, die nach so viel Reden und Singen beköstigt wurden an einem Buffet aus Frikadellen, Käse- und Mettbrötchen, Knabbereien sowie Kölsch vom Fass und Kaltgetränken. Man quasselte miteinander, das Dreigestirn mischte sich mit seiner Gefolgschaft unter die Gäste. In Karnevalskostümen pflegte man die rheinische Gemütlichkeit, Fotos wurden gemacht. An unserem Stehtisch tauten wir langsam auf, indem Gespräche die Runde aus bekannten und unbekannten Gesichtern auflockerten. Schließlich verabschiedete sich der Prinz mit seinem Anhang, dabei sangen alle das Stück „der Zug hat keine Bremse“, was so richtig Stimmung in den Gartenmarkt brachte. In einer Polonaise zogen die Karnevalisten durch den Gartenmarkt, und mit einem Mal waren sie weg zum nächsten Auftritt, der im Saal in unserem Ort geschehen sollte. Das böse Ende geschah unmerklich, als der Inhaber des Gartenmarktes an seinem Stehtisch stand. Er schwächelte, ihm wurde schwindlig und er drohte sein Bewusstsein zu verlieren. Andere mussten ihn stützen, damit er nicht in sich zusammensackte. Schließlich legte man ihn auf den Boden, wo er wieder etwas besser zu sich kam. Sein Sohn rief den Notarzt. Obschon er meinte, alles sei wieder normal, bestand sein Sohn auf den Notarzt. Dieser kam dann so ziemlich zeitnah, wo die drei Rettungssanitäter mit dem Blutdruckmessgerät und dem EKG ihr bestes taten und den Inhaber nach seiner Krankengeschichte befragten. Die Symptome konnten sie nach einiger Zeit eingrenzen: der Inhaber hatte vor einigen Jahren ein Vorhofflimmern am Herzen gehabt, mit einer elektrischen Kardioversion war das Flimmern behoben worden, und seit geraumer Zeit nahm er dieselben Herzmedikamente, wie ich selbst sei ebenso nehme. Sein EKG war unregelmäßig, und ihr Angebot, ihn in ein Krankenhaus zu fahren, lehnte er ab. Er wollte später lieber von seiner Frau dorthin gefahren werden. So entschwanden die Rettungssanitäter, und der Inhaber des Gartenmarktes hatte keinen wirklichen Plan, wer ihn denn im Gartenmarkt ersetzen würde, wenn er für mehrere Tage oder auch Wochen krankheitsbedingt ausfallen würde.

20. Januar 2023


Wie wir den Rezepten hinterher rennen. Neben Wassertabletten und Tabletten gegen den Schwindel bekommt der Schwager Augentropfen verabreicht, da er auf einem Auge nur noch 15% Sehkraft hat und das andere Auge ebenso – wenngleich nicht so stark – beeinträchtigt ist. Die Augentropfen, die jeweils morgens und abends gegeben werden, dienen der Stabilisierung des Augeninnendrucks. Zuletzt mussten wir feststellen, dass der Verbrauch der Augentropfen überproportional war, so dass diese nach relativ kurzer Zeit leer waren. Abends wollte meine Frau Augentropfen geben, es war aber nichts mehr da. Erklären konnten wir uns dies nicht, da sowohl das Rote Kreuz morgens wie wir abends immer nur jeweils einen Tropfen pro Auge gegeben hatten. Ad hoc war nicht ausregelbar, das Rezept und nachfolgend die Augentropfen zu beschaffen. Am Freitag hatte meine Frau beim Augenarzt angerufen, der nur vormittags geöffnet hatte. Dazwischen lag das Wochenende, an dem wir die Augentropfen nicht verabreichen konnten. Erst am Montag würde ich beim Augenarzt vorbei schauen können und dann zur Apotheke gehen können, um die Augentropfen zu besorgen. Was Herzmedikamente betrifft, habe ich selbst den Überblick, wann was neu besorgt werden muss. Beim Schwager sind die Verbräuche allerdings unregelmäßig, so dass man bisweilen überrascht feststellen muss, dass die Augentropfen aufgebraucht sind. Das Wochenende muss es ohne Augentropfen gehen, in der neuen Woche werden die Dinge wieder vollkommen normal laufen.


21. Januar 2023


Mussten wir zu meiner Mama rüberfahren, um Schnee zu erleben ? Bei uns hatte es in der letzten Woche ebenso geschneit, aber so wenig, dass nur wenige Schneereste am Wegesrand überdauert hatten. Bei meiner Mama zeigte sich im Garten nun ein komplett anderes Bild. Eine dichte Schneedecke überzog den Rasen, und der Treppenaufgang zur Terrasse war vereist, so dass es für den Schwager geradezu gefährlich war mit seinem Rollator. Zu viert, spielte sich die Gespräche im wesentlichen zwischen meiner Mama und mir ab. Wir redeten ganz viel über die Beerdigung des verstorbenen Onkels in Bayern. Wegen des Braunkohletagebaus waren sie nach Bayern ausgewandert, weil ihr Dorf in der Nähe von Bergheim abgebaggert wurde. Den Bauernhof und das Ackerland hatten sie gepachtet, dann hatten sie den Pachtvertrag gekündigt, weil sich die Landwirtschaft nicht rechnete, und an anderer Stelle hatten sie ein Wohnhaus neu gebaut, aber das hatte mir die eine Cousine bei der Beerdigung alles erzählt. Gerade, als wir im Wohnzimmer zusammen saßen, rief prompt die Schwägerin meiner Mama aus Bayern an, meine Mama hielt sich aber kurz und wollte später zurück rufen, nachdem wir fahren würden. Beim Gespräch platzierte ich eine Frage, die bei uns zuletzt entstanden war, wie nämlich die Mädchennamen meiner Großmütter lauteten. Die eine Oma von Seiten meiner Mutter hieß Paulsen und diejenigen von Seiten meines Vaters hieß mit Mädchennamen Steffens. Wie sonst üblich, blieben wir etwas mehr als eine Stunde, und an verschneiten Bürgersteigen vorbei fuhren wir nach Hause zurück.

22. Januar 2023


Auf der Autofahrt nach Hause zurück diskutierten wir anfangs, dass der Staat nicht einfach so bestimmte Ernährungsgewohnheiten verbieten oder auch vorschreiben konnte. Namentlich ging es um die Grünen, die einen fleischlosen vegetarischen Tag vorschreiben – vielleicht auch nur empfehlen – wollten. Die Diskussion von Ge- und Verboten durch den Staat war so alt wie Wirtschaftstheorien, wobei die Diskussion noch immer im Trend des Neoliberalismus lag, dass sich der Staat bei vielen Dingen heraus halten sollte. Die Mechanismen des Marktes würden vieles ausregeln, aber nicht alles. Es gehöre zu den Freiheiten des Menschen, sich so zu ernähren, wie er sich ernähren wolle. Dabei betraf die Idee eines „veggie day“ den Fleischkonsum, der in unserer Republik effektiv zu hoch war und ein großer Stellhebel für den CO2-Ausstoß war. In einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung war es aber schwierig, war es als Staat aber schwierig einzugreifen, da die Essensgewohnheiten, Fleisch zu essen, zu den grundlegenden Freiheiten des Menschen zählten. Wie der Zufall es wollte, wurde kurz darauf unser Verkehrsminister zu einer anderen grundlegenden anderen Freiheit zitiert: er plädierte für die Freiheit des Autofahrens, da dem Autofahrer bereits jetzt sehr viele Gebote und Verbote abverlangt würden, demnach wären weitere Verbote mit dem Freiheitsprinzip genau abzuwägen. Mit meiner Frau diskutierte ich noch hin und her, dass die Marktmechanismen zwischen dem Autoverkehr und dem öffentlichen Personennahverkehr nicht stimmen würden. Bahnstrecken seien still gelegt worden, während das Straßennetz ausgebaut worden sei, der öffentliche Personennahverkehr sei zu teuer, mit Qualitätsproblemen und Verspätungen habe sich der öffentliche Personennahverkehr selbst ins Abseits manövriert. Irgendwann endete die Diskussion, und kurz vor unserem Heimatort dann diese Situation: die Ampel, wo wir warteten, hatte gerade auf Grün umgeschaltet, als ein PKW auf der Abbiegespur nach links, mit mindestens 100 km/h geradeaus an uns vorbei raste. Etwa einhundert Meter weiter überholte er innerhalb der Ortschaft den nächsten PKW und wart nicht mehr gesehen. War dies das Verständnis unseres Verkehrsministers von Freiheit, das er vorhin gemeint hatte ? Manche Bürger scheinen den Begriff der Freiheit damit zu verwechseln, dass sie die Sau raus lassen können, so wie sie es wollen. Sie suchen ein Ventil, um ihren Trieb nach Aggression raus zu lassen, und finden dieses Ventil im Straßenverkehr. Bezogen auf die Ernährungsgewohnheiten, würde die Menschen ihre Freiheit so definieren, dass sie alles maßlos in sich hinein fressen können, was sie in sich hinein fressen wollen. Da braucht es dann wieder Gebote und Verbote. Ist der Mensch maßlos und uneinsichtig, müssen Dritte – oder der Staat – diese Gebote und Verbote setzen.

23. Januar 2023


Nachdem wir uns allemale auf das heran nahende Ende eingestimmt hatten, war es dann doch passiert. Die Pandemie hatten wir vollkommen aus den Augen verloren, nachdem sich der Alltag längst normalisiert hatte. Großveranstaltungen fanden längst wieder statt, sogar die Jecken würden dieses Jahr wieder ihren Karneval feiern, und die einzigen Relikte vergangener Pandemie-Zeiten war die Maskenpflicht in Bus und Bahn, in Arztpraxen oder in Krankenhäusern. Und selbst in Bus und Bahn würde die Maskenpflicht zum 1. Februar abgeschafft werden. Doch nun der jähe Aufschrei. In der Nacht von Freitag auf Samstag hatte ich ein leises Kratzen im Hals verspürt, tagsüber am Samstag hatte ich Kopfschmerzen, tagsüber am Sonntag waren die Symptome wieder verschwunden, aber dann in der Nacht: der Hals- und Rachenbereich schmerzte so sehr, dass ich die ganze Nacht nicht schlafen konnte. Montags wollte ich zum Arzt, um mich krank schreiben zu lassen. Dazu meinte meine Frau, ich solle doch vorher einen Corona-Selbsttest machen. Welcher prompt positiv war. Ich musste mir eingestehen, dass diesen Fall einer Corona-Erkrankung ausgeblendet hatte, weil Corona bislang einen Bogen um uns herum gemacht hatte. Unsere Tochter war zwar erkrankt gewesen, ohne nennenswerte Symptome, und wir hatten sie während der Quarantänezeit in ihrem Zimmer belassen, ohne dass wir uns angesteckt hatten. Ich war zur Hausärztin, wo ich am Wartezimmer und an anderen Patienten vorbei in das Behandlungszimmer geschleust wurde. Viermal war ich geimpft, das letzte Mal im April letzten Jahres, die Boosterimpfung mit dem angepassten Omikron-Impfstoff hatte ich nicht erhalten. Die Hausärztin war ebenso zweimal an Corona erkrankt, sie versorgte mich mit Tabletten, sie schrieb ein Rezept und schrieb mich für die ganze Woche krank. Die Desillusionierung stand mir ins Gesicht geschrieben. Mit so etwas hatten wir nicht gerechnet. Dabei waren die Halsschmerzen die schlimmsten Symptome. Der Schnupfen war mäßig, ich hustete kaum, Fieber hatte ich keines, Schüttelfrost erst recht nicht. Per SMS bekam ich am frühen Abend mitgeteilt, dass das Ergebnis des PCR-Tests positiv gewesen war.

24. Januar 2023


Trotz Corona-Erkrankung hatte ich unsere Tochter, deren Selbsttest negativ war, gestern zur Schule gefahren. Mit der Bewerbung um einen Ausbildungsplatz zur medizinischen Fachangestellten stand heute ein Eignungstest an. Ganz kurz vor Toresschluss am 31. Dezember des letzten Jahres hatte sie ihre Bewerbung bei der Bundeswehr abgegeben, woraufhin sie zu einem Einstellungstest eingeladen worden war, der auf dem militärisch genutzten Teil des Köln-Bonner-Flughafens durchgeführt wurde. Da das Kasernengelände groß war und ich mir unsicher war, in welchem Gebäude genau der Test statt fand reiste ich mit ihr frühzeitig an, so dass wir eine halbe Stunde vor Beginn des Tests ankamen. An der Zufahrt konnten Fahrzeuge eine Warteschranke und einen Wachmann passieren, für Fußgänger war ein separater Besuchereingang vorgesehen. Dort musste sie das Schreiben vorzeigen, dass sie zu dem Einstellungstest eingeladen war, und ich instruierte unsere Tochter, durch diesen Eingang hindurch zu gehen. Alsbald verschwand sie, sie kehrte nicht wieder, und ich schloss daraus, dass sie sich auf dem richtigen Weg zu ihrem Einstellungstest befand. Unsere Tochter bei der Bundeswehr ? Noch vor einigen Jahren hätte ich die Bundeswehr als Arbeitgeber argwöhnisch betrachtet, eine Armee war nichts als ein notwendiges Übel. Diese Einstellung hatte sich seit dem Ukraine-Krieg allerdings massiv verändert. Die Bedeutung der Bundeswehr war ins öffentliche Bewusstsein gerückt worden, die Bedeutung war essenziell für die Landesverteidigung, sie bestimmte maßgeblich das Gefüge in Europa und in der Welt. Die Bundeswehr als potenzielle Ausbildungsstelle für unsere Tochter erschien mit einem Mal attraktiv und sinnstiftend. Einen Sinn, den ich während meines Wehrdienstes nicht hätte erkennen können. In einem Bewusstsein der Zufriedenheit wendete ich mich somit von dem Kasernengelände ab und überließ unsere Tochter dem Einstellungstest, bei dem sie sicherlich ihr bestmögliches reinhauen würde.

25. Januar 2023


Ich wusste nicht recht, was ich von der Corona-Infektion halten sollte. Im Freundeskreis waren einige erkrankt gewesen, mal mit milden Symptomen, mal nach längeren Krankheitsverläufen. Das Thema stand nicht mehr oben auf der Agenda, und die hohe Impfquote hatte dazu beigetragen, dass dem Virus Angst und Schrecken der Verbreitung genommen worden war. Dann näherte sich mit dem 1. Februar ein Datum, ab wann in NRW die Quarantänepflicht und die Maskenpflicht im öffentlichen Personennahverkehr aufgehoben werden sollte. Bei mir dominierten unter den Symptomen die Halsschmerzen. Tagsüber halfen die Lutschtabletten gegen den Halsschmerz, abends trank ich Fassbrause oder Bier, um dies dem Schmerz entgegen zu halten, nachts breitete sich der Schmerz wieder aus. In an- und abschwillenden Phasen zeigte der Halsschmerz einen Tagesverlauf, womit ich klar kommen musste. Ein bißchen Husten, sonst hatte ich keine Symptome. Die Lutschtabletten gegen den Halsschmerz, den mir die Hausärztin verschrieben hatte, wirkten gut, aber nur für etwa eine Stunde. Und das Maximum, welche Anzahl ich pro Tag einnehmen sollte, lag bei fünf Tabletten. Weil das zu wenig war, kaufte ich mir bei dm weitere Lutschbonbons gegen Halsschmerzen. Verteilt über den Tag, lutschte ich abwechselnd die Lutschtabletten, die die Hausärztin verschrieben hatte, und die Lutschbonbons von dm, daneben nahm ich die Filmtabletten, da ich Risikopatient war. So ging es mir langsam besser und ich hoffte, das Virus in den Griff zu bekommen.

26. Januar 2023


Während sich bei mir das Hauptgeschehen in die richtige Richtung entwickelt - die Symptome der Corona-Infektion klingen weiter ab, ist das Nebengeschehen bei unserer Tochter – die Ausbildungsplatzsuche – in voller Bewegung. Bei der Bundeswehr ist der Eignungstest positiv verlaufen, sie ist in die engere Auswahl gekommen, Anfang Februar hat sie ein persönliches Vorstellungsgespräch. Dann hatte sie bei den GFO Kliniken in Bonn ein Assessment Center, wozu wir im Rücken des Hauptbahnhofs auf dem Wittelsbacherring doch etwas suchen mussten. Die der GFO anhängende Karl-Borromäus-Schule lag in einem Hinterhof ganz hintenrum genau auf der rückwärtigen Gebäudeseite. Vertrauensvoll ließ ich unsere Tochter zurück, bis auf Mathe habe alles beim Eignungstest gut geklappt, meinte sie. Doch per E-Mail wurde sie am frühen Nachmittag darüber unterrichtet, dass sie das Assessment Center nicht bestanden hatte. Die GFO Kliniken haben aber ein Gespräch angeboten über eine einjährige Ausbildung zur Pflegeassistenz. Die Dinge sind bei ihr in Bewegung. Nächsten Mittwoch hat sie einen weiteren Kennenlerntermin im Krankenhaus Köln-Porz. Danach werden wir den Stand sammeln und ordnen müssen mit der Zielsetzung, einen bestmöglichen Ausbildungsplatz zu finden. Momentan bewegt sich unsere Tochter noch auf dem Stand froh zu sein, überhaupt einen Ausbildungsplatz zu finden.

27. Januar 2023


An diesem Tag war die Infektion offiziell vorbei, ein Schnelltest war negativ, der Fünf-Tages-Zeitraum endete, dass ich mich in Quarantäne begeben musste. Von dieser Quarantänepflicht hatte ich mir Ausnahmen genehmigt, wozu allerdings auch einzuwenden war, dass diese in fünf Tagen per Gesetz ohnehin aufgehoben werden würde. Was waren das noch für Zeiten gewesen, als der Schwager zehn Tage in das Haus der Dreier-WG eingesperrt wurde, als eine Kontaktperson in der Behindertenwerkstatt, die nicht einmal namentlich benannt worden war, an Corona erkrankt war ! Indes hatten sich die Symptome in unserer Familie weiter ausgebreitet. Meine Frau hatte ich angesteckt, einen Tag hatte sie wie wild herum gehustet, sie war nicht einmal zum Arzt, danach hatte sie weiter gearbeitet. Unsere Tochter hatte Halsschmerzen wie ich, ihre Selbsttests waren aber allemale negativ. Gestern hatte sie mit den Halsschmerzen noch das Assessment Center bei der GFO durchgestanden, heute wollte sie nicht in die Schule, sondern zum Kinderarzt. Um 11.30 Uhr war offene Sprechstunde, wo sie ohne Termin vorbei schauen konnte. Mit dem Auto hatte ich sie dorthin gebracht, währenddessen bin ich ins Eiscafé gegangen und habe einen Kaffee getrunken. Dein Eingang zum Kinderarzt im Blickfeld, habe ich beobachtet, wann sie zurück kehrte. Permanent sah ich Eltern mit ihren Kindern, Kleinkindern und Babys hinaus kommen. Die Wartezeit unserer Tochter war schließlich so kurz, dass ich meinen Kaffee nicht einmal ganz ausgetrunken hatte. Ich schritt hinaus und fing sie ab. Sie hielt ein Rezept in der Hand für genau dieselben Lutschtabletten, die mir die Hausärztin einige Tage zuvor verschrieben hatte. Offiziell war sie zwar nicht an Corona erkrankt, aber die Infektion schleppte sich nun durch unsere Familie.

28. Januar 2023


In der Wahner Heide wurde mir mehr denn je bewusst, wie wenig ich die Dinge zu Ende gedacht hatte. Vieles waren Fragmente, mal hier begonnen, mal dort zerronnen, ohne Konstruktion zu einem Ganzen. Gerade der Lockdown hatte mich häufig in die Wahner Heide geführt, weil der Spaziergang so ungefähr die einzige mögliche Betätigung während des Lockdowns war. Zwangsläufig ging es hinaus in die Natur, wobei ich die Wahner Heide kennen und schätzen gelernt hatte. Gerade diese sandige Heidelandschaft hatte es mir angetan, die sehr verschiedenen Vegetationsformen und wie man sich Mühe gegeben hatte, den Menschen von bestimmten Zonen des Heidebewuchses fernzuhalten, um so der Heidelandschaft ihre ursprüngliche Form zurück zu geben. Was widersprüchlich erschein, empfand ich in der Kombination als phänomenal: das Nebeneinander von Flughafen und der puren Natur der Heidelandschaft. Die Spaziergänge waren mal länger, mal kürzer, wobei ich die Landschaft in der Ganzheit ihrer Geschichte durch streifte. Von steinzeitlichen Kultstätten zum mittelalterlichen Verkehrsweg des Mauspfades, von Tongruben zum Exerzierplatz, der an die Preußen abgetreten wurde, dann Truppenübungsplatz und Testgelände für Kanonen, im Zweiten Weltkrieg Folterstätte für Kriegsgefangene, in der Nachkriegszeit der Verkehrsknotenpunkt eines Flughafens. Der Ausschnitt von Geschichte, Gegenwart, Symbolen und Natur ist groß, aber nicht zu Ende gedacht. Die Rundwege mit den Symbolen habe ich nie erwandert, sondern nur Teilstücke. Es sind immer nur Puzzlestücke sehr verschiedener Landschaften, die ich gesehen habe, einzigartige Puzzlestücke, die die Einzigartigkeit der Landschaft gezeigt haben. Beim heutigen Spaziergang spüre ich, wie sehr die Verbundenheit mit der Natur abhanden gekommen ist. Wir sind zu sehr getrieben von den Notwendigkeiten zu Hause, am Arbeitsplatz und auch all die Café-Besuche, um das abzuarbeiten, was innerlich vorgeht. Ein extern Getriebener und getrieben von mir selbst, in dem Puzzlestücke der Natur fehlen.

29. Januar 2023


Hinter diesen gräulichen Fassaden im Zentrum von St. Augustin war meine Frau zu einem Termin eingeladen, dessen Gegenstand die Dreier-WG war. Die Besprechung fand statt in den Räumlichkeiten der Stadtverwaltung, eingeladen hatte die Bereichsleitung betreutes Wohnen der Lebenshilfe. Es ging um die Betreuung der Dreier-WG, die mal besser, mal schlechter funktionierte, und es ging auch um die Belange der Lebenshilfe, die die Betreuung zur Verfügung stellte. Die Liste derjenigen Mängel, die meine Frau sah, war lang, während die Intentionen der Lebenshilfe bisweilen in eine andere Richtung gingen. So manches scheiterte auch an den Möglichkeiten und Kapazitäten der Lebenshilfe. All zu oft wechselten die Betreuer, so dass eine Kontinuität als Ansprechpartner und bei der Handhabung der Alltagstätigkeiten nicht immer gegeben war. Bisweilen mangelte es an einer Zuverlässigkeit, dass zu verabredeten Zeiten Leistungen auch erbracht wurden. Zwar wurde bei Urlaub oder Krankheit oftmals für Ersatz gesorgt, dass an einem Tag in der Woche für alle WG-Bewohner gekocht wurde, war eher die Ausnahme. Wenn überhaupt, wurde für den betreuten WG-Bewohner gekocht, aber nicht für alle zusammen. Was den Schwager betraf, wurden häufig die Mahlzeiten aus denjenigen Zutaten zubereitet, die er sowieso im Hause hatte. Diese hatten wir gekauft, damit der sich in „Notfällen“ etwas kochen konnte, wenn nichts anderes verfügbar war. An denjenigen Tagen, wenn gerade einmal niemand zu den verabredeten Betreuungszeiten erschien, fühlte sich der Schwager nicht dazu animiert, sich selbst etwas zu kochen, so dass Mahlzeiten auch ausfielen. Eine allgemeine Unsitte war das Einkaufen. Hatten die WG-Bewohner ihr Wochenbudget erhalten, gingen sie erst einmal mit den Betreuern einkaufen. Der eine WG-Bewohner kaufte so viel, dass er all sein Geld gleich wieder ausgegeben hatte. Eine Teilmenge davon musste nach einiger Zeit wieder weggeworfen werden, weil er die Menge an Lebensmitteln bis zum Ablauf des Haltbarkeitsdatums nicht aufessen konnte. Der Schwager artikulierte sich oftmals schlecht, was er überhaupt einkaufen wollte. Dann kaufte er Dinge ein, die ihm gar nicht schmeckten. Ebenso fehlte ihm ständig das Maß, welche Menge an Brot er einzukaufen hatte. Und dann gab es noch den Anteil der WG-Einkäufe für alle WG-Bewohner, wozu etwa Toilettenpapier, Seife oder Filtertüten gehörten. Diese gestalteten sich so umfangreich, dass einmal wöchentlich separate Einkaufsgänge für WG-Einkäufe getätigt wurden, was meiner Frau in der Häufigkeit viel u überdimensioniert vorkam. Eine weitere Black Box war die WG-Gruppenkasse. Die Befüllung der WG-Gruppenkasse geschah unregelmäßig, zeitweise mussten aber sehr hohe Beträge, z.B. siebzig Euro, an die WG-Gruppenkasse abgeführt werden, was die WG-Bewohner dann nicht leisten konnten. Aus der WG-Gruppenkasse wurde dann Dinge angeschafft, die eine Interpretation offen ließen, wie nützlich sie waren. Zum Beispiel ein großer Einkaufstrolley, der aber nie benutzt wurde, weil die Einkäufe mit dem Auto getätigt wurden. Oder eine große Magnettafel, die nun im Keller herum stand, weil sich niemand gefunden hatte, der sie in der Küche aufhing. Ein Elektrogrill war für die WG-Bewohner angeschafft worden, der einmal benutzt wurde. Nach der Benutzung hatten ihn die WG-Bewohner nicht sauber bekommen, so dass kein zweites Mal damit gegrillt wurde. Aktuell stand ein Tresor zur Verwahrung der WG-Gruppenkasse zur Diskussion. Diese wurde derzeit in einer Geldkassette aufbewahrt, anstatt dieser sollte ein Tresor angeschafft werden. Bei der Besprechung kamen ein paar Beschlüsse heraus. Um mit dem Schwager einzukaufen, wurde der Donnerstag als fester Tag festgelegt. Um das leidige Thema mit der WG-Gruppenkasse auszuregeln, wurden zehn Euro als monatlicher Betrag für jeden WG-Bewohner festgelegt. Des weiteren hielten alle für sinnvoll, einen Notruf für den Schwager anzuschaffen. Gewisse Dauerthemen wurden ständig bei den WG-Gesprächen mit den drei WG-Bewohnern diskutiert, ohne dass sich etwas wesentliches änderte. Das war die Mülltrennung, die überhaupt nicht funktionierte. Anscheinend verstanden die WG-Bewohner effektiv nicht, was in die Papier-, die gelbe Tonne, die Biotonne und die Restmülltonne gehörte. Insbesondere Essensreste wurden ständig falsch in die Biotonne entsorgt. Nichts gefruchtet hatten all die Belehrungen an den einen WG-Bewohner, dass er sich nicht am Kühlschrank des Schwager bedienen solle oder zumindestens fragen solle. Hier konnten die Betreuer meiner Frau nur den Vorschlag machen, den Kühlschrank mit einem Schloss abzuschließen. Ebenso waren keine Änderungen in Sicht, was Fehlbedienungen oder falsche Handhabungen betraf. So wurden in den Wäschetrockner Pullover hinein gesteckt, Pfannen und Töpfe in den Geschirrspüler oder unverdünntes Reinigungskonzentrat in den Staubsauger. Früher oder später war zu erwarten, dass diese Haushaltsgeräte ihren Geist aufgeben würden – in diesem Fall wäre meine Frau als Vermieterin nicht bereit, etwaige Reparaturen zu bezahlen. Den Staubsauger hatte der Schwager bezahlt, und hier einigte man sich darauf, dass jeder WG-Bewohner künftig mit seinem eigenen Staubsauger sein Zimmer saugen sollte – es waren also noch zwei weitere Staubsauger zu beschaffen. Nicht durchsetzen konnte sich meine Frau mit der Rückforderung von Geldbeträgen für einen Fruchtfliegenmonitor, da Ungeziefer durch die nicht zeitnahe Entsorgung von Küchenabfällen angezogen wurde, oder von Möppen, die durch das falsche Anbringen auf dem Staubsaugerfuß übermäßig schnell abgenutzt wurden. Bei der Formulierung einiger Missstände hielt sich meine Frau auch zurück, da sie bei diesem amtlich angesetzten Termin die Verantwortlichen nicht übermäßig stark anprangern wollte. Man erkannte auf jeden Fall in der Gesprächsrunde, dass der Bedarf hoch war, miteinander zu reden. Man vereinbarte einen Dreimonatsrhythmus, in dem mach sich zusammen setzen wollte. Allen war klar, dass sich an den Rahmenbedingungen – hohe Fluktuation bei den Betreuern, fehlende Kommunikation innerhalb der Dreier-WG und eingeschränkte Lernfähigkeit – nicht viel ändern würde.

30. Januar 2023


In diesen Tagen mehren sich die Fernsehsendungen, die sich mit der Machtergreifung der Nationalsozialisten vor 90 Jahren am 30. Januar 1933 befassen. Obschon die Inhalte dieser Fernsehsendungen dunkel und unangenehm sind, verfolgte ich diese mit hohem Interesse. So zeigte ARTE einen chronologischen Jahresablauf des Jahres 1933 in Berlin, ebenso war es ARTE, der einen exemplarischen Tag im Konzentrationslager Auschwitz aufarbeitete. Die Sendung „Report“ im ZDF zeigte eine Dokumentation über Carl von Ossietzky, ARTE wiederum arbeitete die Rolle der Frauen im Nationalsozialismus auf. Die aktuelle Stunde im WDR griff einen Stolperstein in Friesdorf auf, und zwar dem des Joseph Roth, dessen Schicksal Ähnlichkeiten mit Carl von Ossietzky aufweist. Joseph Roth arbeitete als Lehrer, außerdem schrieb er Beiträge in der Godesberger Lokalzeitung, in denen er eine klare Position gegen die Nationalsozialisten bezog, ja, diese sogar wegen ihrer menschenunwürdigen Haltungen angriff. Sein Mandat als Kreistagsabgeordneter für die Zentrumspartei musste er niederlegen, den Eid als Lehrer auf den Führer Adolf Hitler lehnte er ab. 1944, nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler, wurde er festgenommen und in der Gestapo-Zentrale in Köln inhaftiert, obschon er nicht zum Kreis der Verschwörer gehörte, die das Attentat geplant hatten. Im September 1944 deportierte man ihn zusammen mit anderen vermeintlichen Verschwörern in das Konzentrationslager Buchenwald. Dort wurde er zwar sechs Wochen später wieder entlassen, 1945 starb er aber an den Spätfolgen der Inhaftierung. In Zeiten, bevor wir in unser Hauptgebäude mit den Großraumbüros umgezogen waren, war ich beim Mittagsspaziergang häufig an dem Stolperstein des Joseph Roth vorbei gekommen. Die Gelegenheit, dass die aktuelle Stunde des WDR über diesen „Märtyrer“ des Nationalsozialismus berichtete, nutzte ich, um den Stolperstein nochmals aufzusuchen.

31. Januar 2023


Den Papierkrieg habe ich heute ins Café verlagert. Diesmal ging es um die Erklärung zur Grundsteuer, dessen heutige Abgabefrist ich vollkommen ignoriert hätte, wenn nicht im Fernsehen von morgens früh bis abends spät darüber berichtet worden wäre. Während ich diese immer noch als unwichtig abtat, wurde meine Frau mahnender und dringlicher. Es gehörte halt zu den Gepflogenheiten unserer Behörden, dass diese unendlich langsam sein konnten, wenn man von ihnen etwas wollte. Setzten diese hingegen ihren Bürgern Fristen, dann konnten sie unerbittlich sein, gnadenlos und Bescheide durch die Gegend schicken, als würden sie Strafgerichte repräsentieren. Wegen solcher Ängste, die meine Frau hegte, machten wir uns denn daran, die Erklärung zur Grundsteuer fristgerecht an diesem Tag abzugeben. Vom Prinzip her brauchten wir die Angaben, die wir vom Finanzamt erhalten hatten, nur abzutippen in ein anderes Formular. Da stellte sich die Frage, ob dies das Finanzamt nicht viel eleganter über eine Software und eine IT-Schnittstelle hätte automatisch einspielen können. Zuvor war ich an ELSTER verzweifelt. Die Angaben zu den beiden Immobilien hatte ich in ELSTER hinein getippt, vor dem Absenden erhielt ich aber Fehlermeldungen. Bei der einen Immobilie fehlte die Anlage Grundstück. Im Formularcenter von ELSTER konnte ich diese aber nirgendwo finden. Kurz vor dem Wahnsinn brachte meine Frau mich auf die Idee, die Formulare in Papierform auszufüllen. Über Google fand ich die Formulare, im Café füllte ich sie Online aus und am nächsten Tag würde sie meine Frau mit der Post an das Finanzamt schicken. Dann hätten wir unserer Pflicht genüge getan, die Erklärung abzugeben. Sollte etwas unvollständig sein, dann würde sich das Finanzamt melden. Vorläufig würde dieses Thema damit für uns erledigt sein.


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