Tagebuch Dezember 2021
1. Dezember 2021
„Keiner weiß was und die was wissen, reden nicht“, diesem Kommentar eines Kunden an der Supermarktkasse lauschte ich. Bruchstückhaft hatte ich zuvor mitbekommen, worin es in dem Gespräch zwischen der Kassiererin und dem fülligen Mann in dem dunklen Anorak ging. Die Firma Evonik hatte ich heraus gehört, den Hauptarbeitgeber in unserer Stadt. Am Rhein im Nachbarort hatte der Mischkonzern ein Werk, der Mischkonzern, der aus der früheren Ruhrkohle AG hervor gegangen war und nun in seinen Werken in ganz Deutschland verteilt chemische Vorprodukte für Medizin, Pharmazie, Körperpflege, Farbstoffe oder Kunststoffe herstellte. Ob ein Investor gefunden worden sei, fragte die Kassiererin. „Keiner weiß was und die was wissen, reden nicht“, so antwortete der Mitarbeiter der Evonik. Er nahm die Dinge allerdings sehr gelassen. In seinem Alter konnte man die Dinge auf sich zukommen lassen. Er habe vielleicht noch sechs oder sieben Jahre zu arbeiten, und da könne noch viel passieren. Zu Hause las ich im Internet nach, was es mit der Evonik auf sich hatte. Hergestellt wurden in den Chemiefabriken in unserem Nachbarort sogenannte Alkoholate, die man als Rohstoffe für Biodiesel benötigte. Nach einer Verordnung der Europäischen Union darf das chemische Verfahren, wie die Alkoholate hergestellt werden, in der bisherigen Form in der Chemiefabrik im Nachbarort ab 2027 nicht mehr angewendet werden. Es müssen also neue chemische Anlagen zur Umstellung der Produktion aufgebaut werden, und weil der Konzern den kompletten Standort in Frage stellt, hat er diesen zum Verkauf angeboten. Das klingt nach der damaligen Unternehmensstrategie eines Jack Welsh, der 20 Jahre lang der CEO des amerikanischen Mischkonzerns General Electric war. „Fix it, sell it or close it“, so lautete seine Unternehmensmaxime, wonach sein Unternehmen in Geschäftseinheiten zerlegt war und jede Geschäftseinheit musste die Renditeziele erbringen. War dies nicht der Fall, so konnten Unternehmensteile auch verkauft werden. Für den Standort der Evonik im Nachbarort wurde nun ein Investor gesucht, der Geld in den Standort hinein stecken sollte und die Rentabilität verbessern sollte. Vor den ungünstigen Szenarien, die es bei anderen Firmen an anderen Standorten gegeben hatte, dürfte den Beschäftigten grauen: die Anzahl der Beschäftigten war massiv reduziert worden, die Konditionen waren massiv verschlechtert worden oder Standorte waren gar komplett geschlossen worden. Absolutes Stillschweigen dürfte herrschen, welche Wendungen das Schicksal des Standortes nehmen würde.
2. Dezember 2021
Ein Abendessen, das die Mängel an Koordination in unserer Familie offenbarte. Meine Frau war weg, und zuvor trug sie mir auf, die Pilze zu Ende zu schälen. Wie des öfteren, hatten wir nicht wirklich abgestimmt, was wir kochen wollten. Sie gab mir mit: wir beide essen etwas mit den Pilzen, bei den Kindern müssen wir schauen. Das hieß, dass es höchst unsicher war, ob sie die Pilze mitaßen. Als meine Frau weg war, schälte ich die Pilze zu Ende. Ich googelte, was für Rezepte mit Pilzen im Internet standen, und im wesentlichen wartete ich ab, bis meine Frau zurück kehrte. Bei der Rückkehr hatte sie die Erwartungshaltung, ich hätte für uns beide alles vorbereitet und mit den Kindern geklärt, was sie essen wollten. Das war mitnichten so, nichts war geklärt oder stand auf dem Herd. In einem gewissen Hickhack beratschlagten wir uns, dabei war die Lösung der Essenszubereitung einfacher als gedacht. Ich schnitt Zwiebel auf kleine Würfel, dazu schnitt ich Knoblauch klein, meine Frau bratete Zwiebel, Knoblauch und Schinkenwürfel in der Pfanne an, sie gab Wasser mit Maggi Fix für Champignons in die Pfanne. Wir kochten Reis ab – und fertig war die Champignon-Reis-Pfanne. Unsere Tochter aß fleißig mit, unser Sohn bediente sich in unserem Gefrierschrank. Mir hatte schlichtweg das Verständnis gefehlt, dass sehr wohl ein Plan erkennbar war, was wir mit den Champignons kochen wollten.
3. Dezember 2021
In dieser Jahreszeit wissen unsere Katzen nicht, wohin. Als Freigänger, führt sie der Tagesgang in stetigen Zyklen nach draußen. Sie streifen durch unseren Garten, streunen hier herum, streunen dort herum, sie legen sich ins Gras und suchen ihre Plätzchen, wo sie sich hinein kuscheln können. Diesen Laufwegen, wo sie sich draußen herum treiben, steht nun die Jahreszeit im Dezember entgegen. Nun steht ihr Wille alleine da, nach draußen tappsen zu wollen. Unsere Haustüre ist der magische Wendepunkt. Sie kratzen mit ihren Pfoten an die Haustüre, ihr Wille drängt sie vor die Haustüre. Wenn wir die Haustüre geöffnet haben, dann tappsen ihre Pfoten soeben über die Türschwelle, und dann müssen sie überlegen. Ihre Katzenaugen blicken schauen hinein in das ungemütliche Wetter, das sich derzeit in Form von Regen, Kälte, Nässe und lauter Ungemütlichkeit darbietet, so dass es sich nicht unbedingt lohnt, vor die Haustüre zu treten. So verharren unsere Katzen gerne bei geöffneter Haustüre in ihrer Stellung. Sie können sich nicht entscheiden, ob sie nun an die frische Luft wollen oder im wärmenden Haus bleiben wollen. Und sind sie dann doch hinaus getreten, dann zieht es sie alsbald wieder nach drinnen hinein.
4. Dezember 2021
Der Tag sollte eine andere Wendung nehmen als geplant. Unsere Freundin hatte uns zu ihrem Geburtstag eingeladen, doch einem von ihren beiden Hunden ging es lebensbedrohlich schlecht. Eigentlich hätte der Hund operiert werden müssen, doch die Chancen standen schlecht, dass er überhaupt die Narkose überleben würde. So blieb ihnen nichts anderes übrig, als ihn beim Tierarzt einschläfern zu lassen, so dass an eine Geburtstagsfeier nicht mehr zu denken war. Nachdem uns diese schlechten Nachrichten erreicht hatten, fuhren wir nach Toom, um etwas Bewegung in die stockende Herrichtung des Kellers beim verstorbenen Schwiegervater hinein zu bringen. Gemeinsam mit unserem Freund hatten wir angefangen, das Abflussrohr zum Kanal mit einem Podest zu verkleiden. Mit einem Holzgestell hatten wir begonnen, und nun wollten wir die Struktur ändern. Nun wollten wir das Gestell wieder abnehmen und anstatt dessen Regalbretter über dem Rohr anbringen, und dies in einer kürzeren Breite. So ganz hatte ich die Konstruktion allerdings noch nicht verstanden, das wollte ich dann mit unserem handwerklich versierteren Sohn diskutieren. Um das Vorhaben in Angriff nehmen zu können, dazu kauften wir erst einmal die Regalbretter bei toom. So füllte sich beim Gang durch den toom-Baumarkt der Einkaufswagen mit Brettern, Dübeln, Schrauben und auch einem Bohrer, wobei wir hofften, dass wir die Materialien vollständig haben würden, um mit den Arbeiten loslegen zu können. Ich war allerdings gespannt, wie die weitere Planung und die Diskussion im Kreis unseres Freundes, unseres Sohnes, meiner Frau und mir verlaufen würden. Und ich war ebenso gespannt – was ansonsten unsere Schwachstelle war – wann wir denn mit den eigentlichen Arbeiten beginnen würden.
5. Dezember 2021
Klein, fein, filigran gestaltet, benachbart zum leuchtenden Weihnachtsbaum, gaben die vier Karyatiden einen schönen Blickfang ab in der Hauptstraße von Burscheid. Diese Stadt im Bergischen Land, die nächste Autobahnausfahrt hinter dem Kreuz Leverkusen, hatten wir uns ausgesucht, um uns in der Mitte zu treffen, wo die Wochenendbeziehungen von unserer Tochter und ihrem Freund sich trennen sollten. In einem Café hatten wir uns verabredet auf halber Strecke zwischen Dortmund und unserem Wohnort, und die Kleinstadt Burscheid gab ein angenehmes Ambiente ab mit dem Baustil das Bergischen Landes: verschieferte Hausfassaden, grüne Fensterläden, die Farbgebung der Häuser in grün-weiß-schwarz. Diese fügten sich Haus an Haus aneinander, bis zu unserem Treffpunkt des Cafés, und die Harmonie des bergischen Baustils vervollkommnete ein sogenannter Wallace-Brunnen, der ganz und gar nichts mit dem Krimi-Schriftsteller Edgar Wallace zu tun hatte, aber im Gegenzug seine vier Karyatiden heraus kehrte. Seine Ursprünge hatten Wallace-Brunnen in Paris, die nach einem englischen Fabrikanten, Sir Richard Wallace, benannt wurden. Dieser Sir wollte der Stadt Paris etwas Gutes tun mit den Brunnen, nachdem die französische Hauptstadt nach dem deutsch-französischen Krieg 1870/71 ebenso wie durch die Pariser Kommune verwüstet worden war. Teilweise war die Wasserversorgung zusammen gebrochen, und Sir Richard Wallace bezuschusste den Wiederaufbau des Wassernetzes, als weiteres Geschenk stiftete er Brunnen, aus denen Trinkwasser floss. Wesentliches Element des Brunnens waren die vier Karyatiden, die Güte, Einfachheit, Wohltätigkeit und Nüchternheit symbolisierten. Sie unterscheiden sich alle voneinander, etwa durch die Stellung ihrer Knie, oder durch die Art, wie sie ihre Tunika trugen. Über ihren Köpfen trugen sie den Brunnenaufsatz. Der Wallace-Brunnen in Burscheid war der einzige in Deutschland. Kurz nach der Jahrhundertwende, 1903, schenkte ihn ein Burscheider Fabrikant der Stadt. Zwei Weltkriege überlebte er unbeschädigt - bis ihn 1965 ein LKW zerstörte. Aus den Überresten baute man ihn Anfang der 2000er Jahre wieder mit seinen vier Karyatiden zusammen - pünktlich zum einhundertjährigen Jubiläum 2003.
6. Dezember 2021
Der Versuch, der Langeweile auf dem Marktplatz in unserem Nachbarort zu entkommen. Unsere Tochter wollte ich mit unserem Auto am Marktplatz abholen, und etwas mehr als fünf Minuten musste ich auf sie warten. Der Marktplatz hatte sich seiner Funktionalität unterordnen müssen, lieblos und einfallslos war seine Gestaltung. Die Dunkelheit verstärkte die Eindrücke, dass es dort nichts interessantes und anregendes zu sehen gab. Der Marktplatz war den Autos als Parkfläche vorbehalten, und die Ansammlung von Blech ergraute im faden Licht der Straßenlaternen und erstarrte in Langeweile. Es war ein höchst ungastlicher Ort zum Warten. Im Viereck umstanden Büro-, Wohnhäuser und Ladenlokale den Marktplatz. Der viergeschossige Neubau eines Wohn- und Geschäftshauses, das erst kürzlich fertig gestellt worden war, ragte ein Stück in den Marktplatz hinein und vermochte nicht, die mit dem Lineal gezogenen Häuserfassaden aufzulockern. Was nach dem Abriss neu gebaut worden war, das war in der Tat keine Augenweide, um die Wartezeit überbrücken. Die Chancen standen mithin schlecht, der Langeweile auf diesem trostlosen Platz entkommen zu können, wäre da nicht die Vorweihnachtszeit. Da hatten sich die Hausbesitzer tatsächlich Mühe gegeben, ihre Balkone mit ihrem Weihnachtsschmuck zu verzieren. Ein Stern, ein Rentier und Lichterketten verschönerten das Äußere. Dazu gesellte sich der Weihnachtsbaum, der reich verziert den Marktplatz einnahm. Mit all diesen Eindrücken des kommenden Weihnachtsfestes, trat unsere Tochter auf diesen öden Platz, an dessen Rand ein bißchen Beiwerk von Lichterketten glitzerte. Schnörkellos, so wie das Erscheinungsbild des Platzes, machten wir uns in unserem Auto auf den Nachhauseweg.
7. Dezember 2021
Nachdem unser Abteilungsleiter uns begrüßt hatte, äußerte er, dass er im letzten Jahr nicht gedacht hätte, dass sich dasselbe Vorgehen in diesem Jahr wiederholen würde. Die Hartnäckigkeit des Virus sei vorhersehbar gewesen, aber nicht, dass es trotz Impfen auch in diesem Jahr nur zu einem telefonischen Weihnachtskaffee reichen würde. So blieb uns lediglich der Blick zwei Jahre zurück, als wir uns mit unserem Team auf dem Bonner Weihnachtsmarkt am Glühweinstand getroffen hatten und danach über den Markt gebummelt waren. Unser Abteilungsleiter fragte, wer denn das achte Türchen am Adventskalender geöffnet habe, wie es denn mit den Weihnachtsgeschenken aussähe. Der Fortschritt beim Kauf der Weihnachtsgeschenke war bei uns allen gering, was wir aber entspannt betrachteten. Darüber hinaus erzählte der Abteilungsleiter viel über sich selbst, darunter sein Erfolgserlebnis von zuletzt, dass er einen Tesla gekauft hatte. Die unternehmerischen Ideen eines Elon Musk hatte unser Teamleiter vor etwa einem halben Jahr hervor gehoben, und dies hatte anscheinend auf unseren Abteilungsleiter abgefärbt. Eine Stunde lang stand ihm der Tesla für eine Probefahrt zur Verfügung, einhundert Euro musste er anzahlen, wie lange die Lieferzeit war, das hatte ich vergessen. Er schwärmte von dem Fahrgefühl, als sei es Liebe auf den ersten Blick gewesen. Ein Tesla unter dem Weihnachtsbaum – das war das höchste seiner Gefühle. Dass unsere Begegnung gerade für eine halbe Stunde telefonischen Weihnachtskaffee reichte, das nahmen wir alle geduldig hin. In unserem Team besprachen wir ohnehin dreimal wöchentlich, was alles anstand und zu erledigen war, ohne dass wir uns persönlich begegneten. Intensiven Kontakt pflegten wir auf diese Art und Weise sowieso.
8. Dezember 2021
Es ist einige Jahre her, da hatten mich die Krippen-Darstellungen in der Kölner Kirche St. Maria Lyskirchen fasziniert, die gegenüber dem Kölner Schokoladen-Museum liegt. Beeindruckt hatte mich unter anderem eine Flüchtlingskrippe aus dem Jahr 2016, die in einem Original-Flüchtlingsboot aufgebaut worden war, das Schlepper auf der Route von Libyen nach Italien eingesetzt hatten. Die Darstellung in diesem Jahr, die sich über den Innenraum der romanischen Kirche verteilte, war genauso faszinierend und befasste sich mit unseren Zeiten der Pandemie. Wie in den Vorjahren, waren Figuren gebastelt worden, die aus Straßenszenen in dem Viertel rund um St. Maria Lyskirchen stammten: Die Figuren stellten eine Marktfrau dar, einen Rheinschiffer oder auch Außenseitern wie Drogensüchtige oder Obdachlose. Ein Gebet der besonderen Art war der Pandemie gewidmet worden. „Herr des Lebens, höre den Ruf der Kranken, Herr erbarme dich. Wir bitten dich: hilf, dass Forscher und Ärzte die Krankheit erfolgreich bekämpfen. Dass mehr Menschen zur Pflege der Kranken bereit sind. Dass wir für unsere Gesundheit dankbar sind.“ Das waren deutliche Worte, die an der Wand hingen. Im Mittelpunkt der Darstellung stand das Impfen. Ein Arzt impfte, auf einem Tisch lagen die Impfpässe bereit. Die Figuren aus dem Viertel standen in der Warteschlange und wahrten den Abstand. Die übrigen Figuren in dem Kircheninnenraum, die bereits geimpft waren, hielten ihre Impfpässe in den Händen. Sie vereinzelten sich, und nur wenige standen grüppchenweise zusammen. Ohne Bestuhlung gab dies dem Kircheninnenraum noch mehr den Eindruck einer Leere, verstärkt durch die Pandemie. Es sah so aus, als hätten die Szenen die rasant gestiegenen Inzidenzzahlen antizipiert. Ich war beeindruckt, als ich die Kirche verließ.
9. Dezember 2021
Bei einer Inzidenzzahl von 392 haben die Kölner Weihnachtsmärkte bisher durchgehalten. Sie sind nicht den Beispielen gefolgt, wie etwa in Bayern, Sachsen oder Baden-Württemberg, dass die Weihnachtsmärkte erst aufgebaut worden sind und kurz nach der Eröffnung wieder geschlossen worden sind, weil die Inzidenzzahlen durch die Decke geschossen waren. Zumindest bei uns in NRW geht einiges mehr als vor einem Jahr, als ein Dauer-Lockdown angesagt war. Was auch wohl auf eine relativ gesehen bessere Impfbereitschaft als in anderen Bundesländern zurückzuführen ist. Ich selbst hätte es auch zurück gewiesen, dass Weihnachtsmärkte, die im Freien statt finden, Infektionsherde in größerem Umfang darstellen. Anstatt dessen scheint es den Verantwortlichen anderswo wie etwa in Bayern Spaß zu machen, zu untersagen, zu verbieten und all die Händler auf ihren Waren sitzen zu lassen. An einem ganz normalen Werktag herrscht auf dem Kölner Weihnachtsmarkt auf dem Neumarkt ein quasi normales Treiben, ohne dass wohl die Angst im Nacken steckt, man könne sich infizieren. An allen Zugängen schlägt einem der Hinweis auf 2G entgegen. Auf dem Weihnachtsmarkt auf dem Heumarkt hatte ich das Ordnungsamt gesichtet, auf dem Neumarkt hingegen nicht. In diesen Zeiten der Pandemie ist dann doch wieder vieles normal. Das unterscheidet die Situation von derjenigen vor einem Jahr. Der Wille ist bei Verantwortlichen und Politikern erkennbar, einen Lockdown verhindern zu wollen, wenngleich dies wiederum Gräben aufreißt in Geimpfte und Ungeimpfte. Gerade im Osten entladen sich diese Gräben in Demonstrationen, so dass von einer Solidarität in Gesellschaft nichts zu spüren ist. In gewohnter Ruhe geht das Treiben auf dem Weihnachtsmarkt weiter, und alle sind froh, dass wir keine solchen Zustände haben wie vor einem Jahr.
10. Dezember 2021
Wiedersehen mit dem Bürogebäude, wo ich insgesamt sechs Jahre lang von den Jahren 1987 bis 1993 gearbeitet hatte. So nackt und inhaltsleer die Fassade aussah, so wenig inhaltsleer war das Innenleben des Bürogebäudes gewesen. Das Arbeitsleben und die Büroarbeit hatten sich dort entfaltet, Freude und Leid lagen dicht beieinander. Wenige unsympathische und ganz viele nette Arbeitskollegen hatte ich dort kennengelernt, und all die ganze Bürokratie hatte ich aus einem anderen Blickwinkel wahrgenommen: Bürokratie als Notwendigkeit, weil es dem Staat Spaß machte, so viel wie möglich vorzuschreiben, Sinnfragen und Daseinsberechtigungen rückten in den Hintergrund. Wie so oft, sieht man die Zeit im nachhinein als positiv, weil die positiven Erlebnisse viel stärker im Gedächtnis haften bleiben. Was allerdings nachdrücklich negativ haften geblieben ist, das war der Abschied. Ich hatte es verpasst, von sich auflösenden Organisationsstrukturen abzuspringen. Aufgaben fielen weg oder wurden ausgelagert, nach dem Umzug in andere Büroräume stellte sich heraus, dass unsere Aufgaben auf ein Minimum geschrumpft waren. Das sollte eine Hängepartie von sechs bis sieben Jahren werden, bis wir wieder eine sinnvolle Beschäftigung erhielten. Einstweilen waren die Bürowelten in diesem Gebäude noch in Ordnung gewesen. Der Staat kümmerte sich um das Wohl seiner Beamten, es gab ein Gefüge von Arbeitskollegen, die gut miteinander klar kamen. Und die Arbeit war in gut proportionierten Mengen – nicht zu viel und nicht zu wenig – zu bewältigen.
11. Dezember 2021
So sehr die drei Kerzen am Samstag des dritten Advent ihr volles Licht entfalteten, um so mehr hatte ich das Gefühl, dass mein eigener innerer Akku leer war. Ich war ermattet, müde, leer, es fiel mir schwer, mich aufzuraffen. Die Vorweihnachtszeit rollte über einen hinweg, ohne dass ich in der Lage war, die weihnachtlichen Dinge so zu gestalten, wie sie notwendig gewesen wären. Weihnachtsbaum ? Im November hatten wir bereits besprochen, dass wir – wie im Vorjahr – den Tannenbaum in unserem Garten, der vor unseren Wintergarten in einen Topf hinein gepflanzt hatte, als Weihnachtsbaum nutzen wollten. Abends brannten längst die Kerzen, als der Tag anderweitig vergangen war. Was ich in der Lage war zu erledigen und was gemacht werden musste – da klaffte ein Riesenloch. Um 10.40 Uhr mussten Frau und Sohn zum Impftermin, so dass wir in unserem Hause durch waren mit Erst- und Boosterimpfungen. Der Termin war sicherlich äußerst wichtig, währenddessen ich mich mit Spülen und Bäderputzen befasste. Zu Mittag kochten wir nicht großartig, sondern wir aßen, was übrig geblieben war. Wir hatten schon fast drei Uhr erreicht, da machten wir uns an die Wocheneinkäufe. Diesmal ging es nach REWE, wobei der Einkaufswagen viel voller als gewöhnlich wurde. LIDL hatte nach dem Abriss im Frühjahr wieder eröffnet, und neugierig inspizierten wir den Neubau, der einiges größer und geräumiger mit einem größeren Warenangebot eröffnet worden war. Eine Zeitlang blieben wir dort hängen, und einen weiteren Abstecher machten wir zum Fressnapf, da wir Katzenfutter und insbesondere Katzenstreu benötigten. Es war gegen fünf Uhr, als wir von den Einkäufen zurück kehrten. Wir räumten ein, danach fuhr meine Frau zu meinem Schwager. Als sie losgefahren war, spürte ich die Ermattung und die Müdigkeit. Normalerweise hätte ich noch Energie gehabt, etwas anzupacken und zu machen. Doch ich zog es vor, eine Flasche Bier hoch zu holen und Zeitung zu lesen. Das entsprach genau dem, wozu ich noch in der Lage war. In der dunklen Jahreszeit war mein Tagesrhythmus ohnehin aus dem Ruder geraten. Die Dunkelheit regte an zum Lesen, zum Radiohören, zum Musikhören, zum Fernsehen, alles Aktivitäten, die scheinbar, aber nur scheinbar, passiv waren und im Sitzen ausgeführt wurden. Ich gab mich hin, genoss die Blätterei durch die Zeitung und was es brisantes und interessantes zu lesen gab. Als meine Frau zurück kehrte, ordnete ich mich ein in die Gestaltung der Essensplanung. Wir kochten Weißkohl mit Curry und Äpfeln, ein ausgezeichnetes leckeres Rezept, was meine Frau heraus gekramt hatte. Bei der Mithilfe konnte ich mich gut betätigen. Als die drei Adventskerzen auf unserem Esstisch brannten, hatten wir vom Prinzip her einen gelungenen Tag hinter uns gebracht, an dem wir wichtige Dinge erledigt hatten. In der Taktung der Vorweihnachtszeit war es aber einfach zu wenig, was wir geschafft hatten. Und abends war ich froh, dass ich in unserem Sessel hocken konnte und mich in aller Bequemheit niederlassen konnte. Die Bilder eines ZDF-Krimis flackerten über den Bildschirm, dabei blätterte ich herum in der 111er-Serie der Bücher über Koblenz und Heilige im Rheinland, die man kennen muss.
12. Dezember 2021
Laachovend mit Christoph Brüske im Saal der Gaststätte am Marktplatz. Der Kabarettist hatte bei dieser Vorstellung zwei Gäste geladen: eine ältere, schrullige Dame namens Hertha aus Westfalen und einen jungen Burschen aus der Eifel, genauer gesagt aus Nickenich bei Mayen, der Kai Kramosta hieß und als Handwerker Peters den Saal zum Lachen brachte. In der Reihenfolge begann Christoph Brüske, der sogleich mit der hohen Anzahl von Impfverweigerern auf die Sachsen eindrosch. Aus dem Lied „Sexy“ von Marius Müller-Westernhagen machte er „Sachsen“, dessen Refrain er heftig und vor Wut tobend daher schmetterte. Ihm folgte die alte Dame Hertha aus Westfalen. Kai Kramosta hatte es immer wieder auf das Publikum abgesehen, bei dem er nachhakte, nachfragte und sich in einem Frage-Antwort-Spiel ein Feedback einholte. Besonders abgesehen hatte er es auf Frau so um die vierzig, die schwanger war und mit Nachnamen Lauterbach hieß. In seinen Witzen und Pointen nahm er gerne Bezug auf sie und registrierte wohlwollend ihr Nicken. Mit derselben Fülle von Lachen und Pointen setzte sich der Laachovend nach der Pause fort. Mit 2G+, wobei die Apotheke am Sonntag ihre Testkapazitäten zur Verfügung gestellt hatte, hatte der Laachovend statt gefunden und den Widrigkeiten von Corona getrotzt. Am 27 März des nächsten Jahres würde der nächste Laachovend statt finden, und was bis dahin an der Corona-Front los sein würde, das vermochte noch niemand zu sagen.
13. Dezember 2021
Ein Tag, auf den ich mich gefreut hatte, noch einmal mit dem Rennrad ins Büro zu fahren. Ein Tag, der aber dann so kam, dass mir der Schrecken in die Glieder fuhr. Die Fahrt mit dem Rennrad war vom Prinzip her ganz normal. Das Wetter war windstill, das Rennrad rollte so dahin, ich machte eine Zwischenpause bei einem Kaffee bei Merzenich, die ziemlich kurz geriet, weil ich mit einem Kollegen um 10 Uhr telefonieren wollte. Ich beschleunigte und fuhr etwas schneller, der Schrecken entwickelte sich dann im Büro: ich war vollkommen außer Atem, anscheinend hatte die Übung der Fahrradfahrens in der Zwischenzeit seit Mitte November gefehlt. Die Atemnot steigerte sich in dem Brustschmerz, den ich vor meinem Herzinfarkt gehabt hatte. Um 10 Uhr telefonierte ich mit dem Kollegen, ohne dass ich ihm von all meinen Symptomen erzählte. Als das Telefonat zu Ende war, musste ich mich erst einmal sammeln. Weil der Brustschmerz weiterhin da war, liefen Szenarien in meinem Kopf ab, ein Herzinfarkt würde anstehen und ich würde den Notarzt anrufen oder mich in das am nächsten gelegene Krankenhaus begeben. Zuerst sagte ich meinem Chef die Rücksprache um die Mittagszeit ab, diese nutzte ich, um draußen einen Spaziergang zu machen. Mein Zustand besserte sich tatsächlich. Der Spaziergang lockerte den tückischen Brustschmerz, der schließlich verschwand. Auf dem Bürodrehstuhl im Großraumbüro gewann ich den Eindruck, nachdem der Spaziergang draußen beendet war, dass in der Ruhe ohne jegliche Bewegung der Herzschlag ein klein bißchen normal wurde. Ich beschloss, in kleinen Etappen mit dem Rennrad nach Hause zurück zu kehren. Ich zog meine Fahrradbekleidung wieder an, und zunächst ging es zur Straßenbahnhaltestelle, wo die Linie 63 mich zum Hauptbahnhof transportierte. Dann schob ich das Fahrrad durch die Fußgängerzone bis zum Marktplatz, wo ich in einem Café einen Kaffee trank. Herz und Kreislauf fühlten sich halbwegs normal an, so dass ich mit langsamem Tempo und zwei längeren Pausen nach Hause fahren wollte. Die erste Pause auf einer Bank machte ich auf dem Rheindamm, die zweite Pause auf dem Rheidter Friedhof. Die Strecke dazwischen fühlte sich relativ unkritisch an. Vorsichtig, ohne allzu viel zu treten, ließ ich das Rennrad rollen und Herz und Kreislauf spielten mit. Ich war froh, das Zuhause ohne schlimme gesundheitliche Szenarien erreicht zu haben. Dennoch war ich zu Hause wie geplättet. Der Herzschlag hatte sich noch nicht eingependelt auf einen normalen Puls, so dass alles, was ich tat, schwer fiel. Jeder Schritt lastete wie Blei, und mein Körper schleppte einen Grad an Erschöpfung mit sich herum, als hätte ich Schwerstarbeit geleistet. Den ganzen Abend mied ich Bewegungen, und früh, gegen 23 Uhr, ließ ich mich ins Bett fallen.
14. Dezember 2021
An diesem Tag, nachdem ich den Hausarzt aufgesucht hatte, konnte vorläufige Entwarnung gegeben werden. Der hatte eine logische Erklärung für die Erschöpfung nach der relativ kurzen Strecke einer Rennradtour: es hatte an Übung gefehlt. Pro Woche sollte ich vier Stunden moderaten Ausdauersport betreiben, was ich mit den Fahrradfahrten ins Büro bis Ende Oktober gemacht hatte. Nach dem Ende der Sommerzeit hatte ich dies nur noch am 18. November gemacht sowie gestern. Hoch motiviert hätte ich ordentlich in die Pedale getreten, was nicht mehr zu der fehlenden Bewegung gepasst hätte. Ich beschrieb ihm die Symptome, dass es anfangs der Brustschmerz gewesen sei, dann eine Erschöpfung, welche den Symptomen ähnelte, die ich vor einem Jahr gehabt hatte, als ich mit dem Sohn einen schweren Buffetschrank im Haus des verstorbenen Schwiegervaters vom Keller in die Küche durch das enge Treppenhaus mühselig befördert hatte. Nun pochte das Herz intensiv, jeder Schritt fiel mir schwer, und ich hatte das Gefühl, mich dauerhaft ausruhen zu müssen. Der Hausarzt hörte das Herz ab, dann machte die Sprechstundenhilfe ein EKG, das keinerlei Auffälligkeiten zeigte. Zuvor hatte ich geäußert, dass mit dem intensiven Ermüdungsgefühl nicht arbeiten könne. Es habe an Übung gefehlt, so resümierte mein Hausarzt. Drei Tage schrieb er mich krank, so dass ich von meinen dienstlichen Arbeiten an meinem Home Office-Arbeitsplatz entlastet wurde. Einen Tag später war das Erschöpfungsgefühl endgültig weg. Aber das Ereignis blieb als Warnung zurück. Herz und Kreislauf konnten schnell aus dem Gleichgewicht geraten, schneller als einem lieb sein konnte.
15. Dezember 2021
Licht und Transparenz – eine Ausstellung in der Bonner Münsterkirche mit einem interessant klingenden Motto, das die Sehnsucht nach dem Licht in der dunklen Jahreszeit aufweckte und um Transparenz rang, welche das Ziel allen Handelns sein sollte. So hatte ich mir die Ausstellung voller Neugierde angeschaut mit der Erkenntnis, dass die Exponate – wie so oft in der modernen Kunst – stark erklärungsbedürftig waren. Mit Monica Bonvicini, Anthony Cragg, Heinz Mack, Marielle Neudecker und Gerhard Richter war die Ausstellung mit großen Namen besetzt, wenngleich man nach Interpretationen suchen musste. Die Farbinstallationen an den Wänden waren schemenhaft, die Holzskulpturen oberflächlich, die herab hängenden Lichtsäulen zu einstielig. Das war genau der Grund, wieso mein Kunstverständnis so ungefähr nach der expressionistischen Malerei und dem Kubismus aufhörte: die Werke der Kunst waren zu abstrakt, um zu erkennen, was sich die Künstler dabei gedacht hatten. Was die abstrakten Formen betraf, war allerdings eine Ausnahme in der Bonner Münsterkirche zu sehen, das war das Bild „Die Kerze“ von Gerhard Richter. Das Gemälde strahlte Sympathie aus, weil sich Richter an naturalistischen Formen orientierte. Gleichzeitig strahlte es mit der Flamme im Mittelpunkt Wärme aus, ebenso menschliche Nähe mit ausgewogenen grün-oliv-Farbtönen im Hintergrund. Gerhard Richter hatte seine „Kerze“ in vielfachen Ausfertigungen gemalt, je nach Stimmung, Tageszeit oder Situation. Eine „Kerze“ von 1982 wurde beim englischen Auktionshaus Sotheby’s für zwölf Millionen Euro versteigert – was Richter damals am gesunden Menschenverstand des Kunstmarkts zweifeln ließ. Mit dem Vorgang des Brennens und des Erlöschens konnte die Kerze als Symbol des Lebens interpretiert werden. So wie die Kerzenflamme niemals stillstand, so stand auch das Leben niemals still. Als Transformation aus der Fotografie hatte Gerhard Richter seine Serie von „Kerzen“ seit den 1980er Jahren gemalt. Eine Transformation, die weitaus weniger schemenhaft, oberflächlich oder einstielig war wie die übrigen Werke in der Bonner Münsterkirche. Die Kerze – ein Werk, das mich in der Ausstellung „Licht und Transparenz“ nachhaltig fasziniert hatte.
16. Dezember 2021
Die Tage, als ich krank geschrieben war, befasste ich mich mit einem zeitraubenden Thema, das viele Monate liegen geblieben war: mit den Steuern. Mit dem Umbau des Hauses des verstorbenen Schwiegervaters hatten wir seit diesen Jahres Einnahmen aus Vermietung und Verpachtung und in den Jahren davor jede Menge Ausgaben. Jede Menge Handwerkerrechnungen ergaben ganz viel Ausgaben, die wiederum durch ein Hypothekendarlehen finanziert waren. Wie die Dinge durch die steuerliche Brille genau zu betrachten waren, das war nicht ganz trivial. Dazwischen hingen die Eigentumsverhältnisse, die vorübergehend über das Konstrukt einer Erbengemeinschaft geregelt waren, bis meine Frau ihren Bruder ausgezahlt hatte und zur Alleinbesitzerin geworden war. Da gab es dann Kategorien, die in der Anlage für Vermietung und Verpachtung geltend gemacht werden konnten. Unbekannt war mir bis vor kurzem, dass wir eine sogenannte Feststellungserklärung abzugeben hatten. Darin waren die Besitzverhältnisse der Erbengemeinschaft zu dokumentieren, was sich dann grundlegend veränderte, nachdem meine Frau Alleinbesitzerin geworden war. Heute haben wir ganz viel Papier und Unterlagen ausgedruckt und auch vieles in Excel auf dem Laptop zusammen gerechnet. Auf unserem Esstisch sieht es wild und chaotisch aus. Alles, was ausgedruckt worden ist, muss ich zusammenstellen und in zwei Umschläge stecken, die zur Feststellungserklärung und zur normalen Steuererklärung gehören sollen. Der Papierkrieg ist damit aber noch nicht ganz beendet. Blendet man die Anlage zur Vermietung und Verpachtung aus, hat das Finanzamt noch ein paar weitere Rückfragen gehabt. Die sind aber bei weitem nicht so kompliziert wie diejenigen, die mit Vermietung und Verpachtung zu tun haben.
17. Dezember 2021
Ein ärgerlicher Stau auf der Autobahn A1, zwischen Wuppertal und Hagen. Die Verkehrsnachrichten hatten den Stau im Autoradio gemeldet, was eine Zeitverzögerung von einer Stunde bedeutete, um unsere Tochter von zu Hause nach Dortmund zu befördern. Derweil hatte ich überlegt, wie ich diese eine Stunde auf einer alternativen Strecke umgehen konnte, während sich über Burscheid, Wermelskirchen und Remscheid Wuppertal immer mehr näherte. Ich entschied mich, bei Wuppertal-Langerfeld die Autobahn zu verlassen, über die Bundesstraße B7 bis Hagen zu fahren und dort wieder auf die Autobahn A1 zurück. Weil ich nur über Ortschaften und Städte fuhr, nervte die Fahrt über die Bundesstraße. Ampel reihte sich an Ampel, und an manchen roten Ampeln staute es sich nicht unerheblich. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis ich die 15 Kilometer von Wuppertal nach Hagen auf der Bundesstraße zurück gelegt hatte. So erschien es wie eine Erlösung, als auf Hagener Stadtgebiet ein Schild zur Autobahn wies. Nichts wie hin, so trat ich aufs Gaspedal, und auf der Auffahrt Volmarstein wies der Pfeil auf die Autobahn nach Dortmund. Auf der Autobahn angekommen, war die Frustration groß, denn ich mit einem Mal war ich mitten in dem Stau, den ich eigentlich umkurven wollte. Anfangs ging es über die Mittelspur noch halbwegs voran, aber als sich die Ausfahrt Hagen-West näherte, ging nichts mehr. Die Blechlawine wälzte sich im Fußgängertempo vorwärts. Ich war so sehr enttäuscht und so sehr genervt, dass ich nur noch raus wollte aus diesem eingemeißelten Zustand des Stillstandes, der gelegentlich ein Stückchen nach vorne kroch und nach Befreiung rang, die von Stoßstange zu Stoßstange einfach nicht kommen wollte. Einspurige Verkehrsführung an einer Baustelle, das hatten die Verkehrsnachrichten gemeldet, und so lange wollte ich einfach nicht warten, bis irgendwann in ganz, ganz langer Zeit dieses Nadelöhr passiert sein würde. An der Ausfahrt Hagen-West verließ ich schließlich die Blechlawine, das war ein Akt der Befreiung, welcher mich danach im Dunkeln von Ortschaft zu Ortschaft tasten ließ. Erst Alt-Wetter, dann kam ich an einem Stausee mit einem Kraftwerk vorbei. Dann Herdecke, von wo aus die Auffahrt auf die Autobahn A45 sehr viel Geduld erforderte, weil die Auffahrt auf die ausgebaute Schnellstraße der Bundesstraße 54 ein Nadelöhr darstellte. Die rote Ampel vor der Schnellstraße produzierte einen neuen Endlos-Stau. Nach zweieinhalb Stunden Fahrzeit kamen wir schließlich am Ziel in Dortmund an. Diesmal war es nicht Leverkusen, was uns Zeit und Nerven gekostet hatte, sondern der Abschnitt zwischen Wuppertal und Hagen.
18. Dezember 2021
In der ganzen Vorweihnachtszeit hatten wir es vor uns hergeschoben, den Weihnachtsbaum in unserem Garten herzurichten und zu schmücken. Wir hatten uns nicht wirklich daran gemacht voranzutreiben, was zu tun war, und uns fehlte auch einfach die Energie, uns um alles zu kümmern. Geschenke hatten wir noch keine, allerdings hatten wir im Vorfeld auch viel Geld für die Führerscheine unserer beider Kinder ausgegeben. So gelang es uns endlich, uns an den Weihnachtsbaum heran zu machen. Es war ja auch höchste Zeit sechs Tage vor Heiligabend. Viel Unkraut war um die eingetopfte Fichte in unserem Garten gewachsen, das ich zuerst entfernen musste. Mit hoch geschossenen Brennesseln, dicken Büscheln von Gras, wuchernden Brombeeren und quer gewachsenem Farn war ich eine ganze Zeitlang beschäftigt. Die wichtigen Tätigkeiten erledigte meine Frau, die ein viel besseres Händchen für die dekorativen Elemente hatte. Sie stieg auf die Leiter und brachte die Beleuchtung an, danach verteilte sie die Christbaumkugeln. Macht sich doch sehr hübsch, oder !? Und ist doch ökologisch !? Derzeit hat die Fichte noch die Höhe, dass wir den Nadelbaum in unserem Garten so, wie er gewachsen ist, als Weihnachtsbaum verwenden können. Eine feine Sache, wenn kein Weihnachtsbaum in irgend einer Weihnachtsbaum-Plantage abgeholzt werden muss und nach der Weihnachtszeit auf dem Bio-Müll landet.
19. Dezember 2021
In einem gewissen Umfeld von Tätigkeiten und Unternehmungen beobachtete unser Kater Oskar das Geschehen. Unsere Tochter wurde am vierten Adventssonntag mit ihrer Wochenendbeziehung zurück gebracht, was bei uns gewisse Aktivitäten auslöste. In seinem Sichtfeld bekam unser Kater mit, dass meine Frau Wäsche gefaltet hatte. Gewaschen und im Trockner getrocknet, hatten mehrere Wäschekörbe in unserem Wohnzimmer gestanden. Diese hatte meine Frau nun für uns alle gefaltet, davon hatte ich meinen Wäschestapel in unser Schlafzimmer gebracht. Unser Kater hatte beobachtet, dass ich die beiden Stapel mit T-Shirts, Pullover und Hosen auf unser Ehebett deponiert hatte. Auf der Bettdecke hatte sich der Kater ausgebreitet, träge hatte er sich in die Länge gestreckt und die Pfoten unter seinen Füßen versteckt. Außerhalb seines Sichtfeldes lagen diejenigen Dinge, die ich erledigte, während meine Frau die Wäsche machte. Ich hatte nämlich das Badezimmer geputzt, in meinen langsamen Bewegungen, die die Putzerei zu einer größeren Maßnahme ausdehnten. Ich brauchte meine Zeit, um Badewanne, Toilette und Waschbecken sauber zu machen. Zuletzt hatte ich den Boden gewischt, wobei dieser Arbeitsschritt vom Mittagessen unterbrochen worden war. Die Dinge benötigten ihre Zeit, ziemlich viel Zeit, sowie sie unser Kater in unserem Bett verbrachte.
20. Dezember 2021
Unter all den Arztterminen muss ich mir in gewissen Zyklen Blut abnehmen lassen. Alle drei Monate steht diese Prozedur an, die Cholesterin- und Blutzuckerwerte zu messen, welche ich dann ein paar Tage später mit der Hausärztin diskutiere. Die Werte hatten stets gestimmt – wohl auch wegen der cholesterinsenkenden Medikamente, die ich einnehme. Empfindlich bin ich stets bei der Blutabnahme. Den Piecks verabscheue ich. Ich schaue weg, kneife die Augen zu, denke daran, wann es endlich vorbei ist. Nicht immer gelingt den Arzthelferinnen auf Anhieb, eine Vene zu finden. Dann pieksen sie in die Haut hinein, der Stich sitzt tief, aber nichts kommt. Kein Blut fließt in die Kanüle hinein, und es wird gerätselt, wie eine geeignete Vene zu finden ist. Wie man sie richtig erspüren kann, dazu meinte eine Arzthelferin, dass dies zu den höheren Wissenschaften gehöre, bei denen übersinnliche Kräfte weiter helfen könnten. Heute lief alles reibungslos und ohne Komplikationen. Die Arzthelferin hatte die Stelle mit dem Zeigefinger richtig ertastet. Mindestens alle drei Monate in den Arm gestochen zu werden, davon in einigen Fällen gleich mehrfach, das ist nicht unbedingt eine beschwingende Perspektive. So bin ich denn doch froh, wenn diese Prozedur vorbei ist.
21. Dezember 2021
Winterliche Stimmung über dem Rheinufer. Erstmals in diesem Jahr ist der Frost eingekehrt. Nach der winterlich kalten Nacht beherrscht der Rauhreif den Uferstreifen. Büschel von Gras, Sträucher und Bäume sind angezuckert, aber nicht von Schnee, sondern von Rauhreif, der die Büschel weiß glitzern läßt. In der frostig kalten Luft kann man durchatmen, das zögernd durch das Astwerk hindurch sickernde Sonnenlicht formt einen festen Bezugspunkt in dieser Winterstimmung. So wie der Rhein in seiner gewohnten Ruhe daher fließt, gibt er ein Stück Heimat ab, ein wiederkehrendes Motiv, das ein bißchen der Spiegel von einem selbst ist. Die Winterstimmung ist konstant und hält durch, auch tagsüber hält sich der Frost, mildere Luft und Regen sind nicht in Sicht. Der Rhein kann in solch einer Stimmung wahnsinnig romantisch sein, er kann verzaubern und mitreißen. Vereinzelt tuckern Lastkähne daher, die den Strom über all die Rheinkilometer in sich vereinigen. Solch ein Strom verbindet in hellem Sonnenlicht die Nationen und Europa miteinander.
22. Dezember 2021
Es waren Tage, an denen die Verantwortlichen Panik verbreiten konnten. Omikron drohte alles über den Haufen zu schmeißen. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse waren noch halbgar, die nächsten Infektionswelle stand vor der Haustüre, alle paar Tage verdoppelte sich das Monster-Virus Omikron, und es durfte fleißig spekuliert werden. Omikron schmiss die Impfkampagnen über den Haufen, weil der Impfschutz einer normalen Doppeltimpfung gleich Null war, wer geboostert war, hatte ein bißchen Impfschutz. Für Ende März hatte unser Bundesgesundheitsminister einen an Omikron angepassten Impfstoff angekündigt, und danach dürfte dann – wie im letzten Jahr – das große Gerangele losgehen, dass gleichzeitig alle geimpft werden müssten, dass viel zu wenig Impfstoff für alle da wäre und dass sich die Impfung eines großen Teils der Bevölkerung bis in den Sommer hinein ziehen würde. Bis dahin würden die Inzidenzzahlen explodieren, und massive Kontaktbeschränkungen, bis zu einem Lockdown, dürften bei diesem Szenario unvermeidbar sein. Die Stimmen, am besten vorsorglich, so wie die Niederlande es vorgemacht hatten, alles herunter zu fahren und in einem harten Lockdown zu erstarren, waren auch hierzulande nicht zu überhören. Unwissend, was da in den nächsten Wochen auf uns zukommen würde, hatten wir uns mit einer Freundin auf dem Bonner Weihnachtsmarkt verabredet. Unser Bundeskanzler sah das Infektionsgeschehen einiges moderater. Gegen den Trend in unseren Nachbarländern sanken die Inzidenzzahlen, die Kontaktbeschränkungen nach Weihnachten waren eher moderat, von Lockdown wollten die politischen Verantwortlichen vorläufig nichts wissen. So sahen wir es mitnichten als subversiv an, den Bonner Weihnachtsmarkt zu besuchen. Im Gegenteil, es freute uns, dass der Weihnachtsmarkt gegen die Wirren von Corona durchgehalten hatte. In Bundesländern mit besonders schlimmen Inzidenzzahlen mussten die Weihnachtsmärkte wieder geschlossen und abgebaut werden, nicht so in unserer Stadt. An den Ständen wurde verkauft, die Karussels drehten sich, die Glühweinbuden waren gut gefüllt, an den Imbissen konnte man sich verköstigen. Brav trugen die Menschen ihren Masken, und wie sehr die Menschen zusammen standen und die Abstandsgebote ignorierten, das interessierte uns an diesem Abend überhaupt nicht. Wir tätigten auch ein paar Einkäufe. An einem Stand kaufte unsere Freundin zwei Frühstücksbrettchen mit deren Namen für ihre beiden Neffen. Zum Media Markt am Friedensplatz gingen wir, um für den Freund unserer Tochter Kopfhörer zu kaufen. Danach ergriff uns sogleich der Hunger. Wir schritten zum Münsterplatz zurück und aßen in einem abgetrennten, separaten Bereich, der zu einem Imbiss gehörte. Nachdem unsere 2G-Nachweise kontrolliert worden waren, aßen wir Fritten, Currywurst, Champignons mit Knoblauchsoße und Spießbraten. Der Essbereich war gut voll, wir machten uns keinerlei Gedanken zum Infektionsrisiko und maßen die Abstände auch nicht mit dem Zollstock aus. Nach Kontaktbeschränkungen war uns nicht zumute, und gewiss war nur, dass zwei von uns geboostert waren und unsere Freundin noch bis Mitte Januar auf ihre Boosterimpfung warten musste. Alleine schon der Gedanke an einen harten Lockdown ließ uns erschaudern und am Sinn zweifeln, wie wenig die meisten Maßnahmen gebracht hatten, wie schlecht sie kontrollierbar waren, wie die Maßnahmen umgangen wurden und Schlupflöcher gefunden wurden. Wir weigerten uns, dass in unseren Köpfen die Inzidenzzahlen dahin gehend verhaftet waren, dass wir mit ihnen einschliefen und morgens wieder wach wurden. Nachdem wir Fritten, Currywurst, Champignons und Spießbraten verspeist hatten, bummelten wir einmal über den Weihnachtsmarkt vom Münsterplatz auf den Friedensplatz, wo wir in die nächste Runde des geselligen Beisammenseins übergingen. Kurz vor zehn Uhr war es noch früh genug, um in das Lokal des Sudhauses einzukehren. Gesättigt nach dem Imbiss, orderten wir Getränke, wobei ich auf die alkoholische Variante eines Weißweins wechselte. Während wir in der Ecke des Lokals saßen, wo das Bild einer Weinflasche Geselligkeit versprach, nährte sich unser Bewusstsein, Corona zu trotzen. Wir pflegten unseren rheinischen Humor und die Fähigkeit, lachen zu können. Das Leben nicht todernst zu nehmen und dass ein Lachen eine von Grund auf geänderte Lebenseinstellung verlieh, diese Fähigkeit hatten wir in Zeiten von Corona verlernt. Wir lachten über Bewerbungsgespräche, die zur beruflichen Tätigkeit unserer Freundin gehörten. Ein Bewerber aus Südafrika hatte sich vorgestellt, der wie ein Eskimo eingehüllt war, weil es morgens einen Tag gefroren hatte. Sie erzählte über ihre Umschulung, als sie einen ganztägigen Englischkurs besucht hatte. Als sie den Kurs beendet hatte, traf sie an einer Tankstelle ihren Englischlehrer wieder und führte in korrektem Englisch ein Gespräch mit ihm, dass er prüfen müsse, ob seine Kreditkartendaten noch richtig seien – angelehnt an die Gesprächssequenzen im damaligen Englisch-Kurs. Wir repetierten über Fotos, die von Radarfallen geschossen wurden. Ich selbst war zuletzt an einer Autobahnbaustelle im Hunsrück geblitzt worden, und wegen eines Gerichtsurteils waren die Fotos mittlerweile ausgeschnitten, so dass der Beifahrer nicht erkennbar war. Die beiden Damen machten Witze darüber, wer denn mein Beifahrer gewesen sei bei der Fahrt über die Autobahn A61 durch den Hunsrück. Wir erzählten so viele Witze, dass es spät, sehr spät wurde, bis wir das Sudhaus verließen. So etwas brauchte die Menschheit, bloß keine Distanz, wenige Kontaktbeschränkungen und keine virtuellen Begegnungen telefonisch oder über das Internet. Die Panik, was Omikron bringen würde, vermochte uns nicht zu verunsichern. In diesen Zeiten waren allzu viele unterwegs, die diese Panik verbreiteten und die dann auch Gehör fanden.
23. Dezember 2021
Der kürzeste Tag des Jahres war ein paar Tage vorbei, und nun war ich auf der Suche nach dem Tageslicht, das in den vergangenen Wochen immer früher erloschen war und nun, ganz langsam und allmählich, länger durch halten sollte. Die Dämmerung hatte eingesetzt, die Sonnenscheibe hatte sich hinter dem Horizont verkrochen, das restliche Tageslicht verschwamm immer mehr. In der dunklen Jahreszeit hatte ich mich ganz viel drinnen verkrochen, viel zu viel, was die Bewegung anbelangte. Nach drinnen hatten mich genauso die hohen Corona-Inzidenzzahlen getrieben, die Ängste vor einer Infektion gingen um, obschon ich mich zu den mittlerweile Geboosterten zählen durfte. Viel zu lange versteckte sich das Tageslicht in der Nacht, und viel zu spät erhellten die ersten Sonnenstrahlen den beginnenden Tag. Nach der Wintersonnenwende verabschiedete sich der kürzeste Tag des Jahres und die Helligkeit sollte wieder zunehmen. Diese ganz, ganz leicht und ganz, ganz allmählich zunehmende Helligkeit glaubte ich zu erspüren, als ich rund um die Kirche in unserem Nachbarort einen Abstecher gemacht hatte. Über der gegenüberliegenden Rheinseite war die Sonne untergangen, die Uhrzeit hatte sich bis kurz vor 17 Uhr ausgedehnt, und es war noch ein Schimmer von Helligkeit vorhanden, um den Friedhof zu beleuchten. Es war ein Stück Optimismus über dem Treppenaufgang, dass sich die Dinge Bestand haben würden und sich in der Dunkelheit behaupten würden.
24. Dezember 2021
Heiligabend, ein Tag, der mit der Essenszubereitung vor der Bescherung vollkommen entspannt war, den ich als Gesamttag dennoch eher als angespannt wahrgenommen hatte. Viel zu spät waren wir aufgestanden, erst gegen 9 Uhr, so dass meine Frau äußerte, dass Weihnachten ausfallen sollte. Nichts sei aufgeräumt, der Urzustand des Chaos hielte an, ganz schlimm sei der Wintergarten, wo sie eigentlich die Geschenke aufbauen wollte. Den ganzen Tag über fühlte ich mich hilflos, weil das allermeiste meine Frau machen musste und ich nur relativ wenig Produktives beitragen konnte. Sie verstehe nicht, was ich in all den Tagen vor Weihnachten erledigt hätte. Die Steuern seien ein großes Thema gewesen, während all die Unordnung und was es sauber zu machen gäbe, liegen geblieben sei. Was ich wegräumen und wegspülen konnte, das tat ich, um die Mittagszeit holte ich dann unsere große Tochter am Siegburger Bahnhof ab. Ausnahmsweise war der ICE, der von Freiburg nach Siegburg direkt durchfuhr, pünktlich, und als wir zurückkehrten, standen die Maultaschen mit der Tomatensoße fertig gekocht auf dem Tisch. Da sich nach dem Mittagessen ein Berg von Spülsachen in der Küche aufgetürmt hatte, wusste ich, was zu tun war. Mit der Anwesenheit der großen Tochter relativierte sich, was alles noch zu arrangieren und vorzubereiten war. Demgemäß liefen die Vorbereitungen vor dem Abendessen sehr entspannt ab. Meine Frau hatte beim Metzger fünf mal Ente und fünf mal Gans fertig zubereitet bestellt, so dass diese nur noch im Backofen erhitzt werden brauchten. Dies wollten wir im Haus des verstorbenen Schwiegervaters machen, da dort die Küche größer war. Dazu formte meine Frau die Klöße, außerdem schnitt sie Speck klein. Bis es soweit bis zum Abendessen war, konnten wir uns noch etwas Zeit lassen und miteinander quasseln. Gegen 17 Uhr transportierten wir die Sachen herüber, dabei musste ich noch einmal zurück fahren, weil wir die veganen Würstchen für unsere große Tochter vergessen hatten, dasselbe galt für die Klöße und den Speck. Nachdem alle für die Essensvorbereitung nötigen Zutaten vorhanden waren, begann die Essenzubereitung in der großzügigen Wohnküche, wo sich niemand auf den Füßen stand so wie bei uns zu Hause. Weil die räumlichen Gegebenheiten so großzügig waren, kümmerten sich Sohn, die große Tochter und meine Frau allumfassend um das Essen, so dass ich mich geruhsam hinsetzen konnte. Der Tisch war gedeckt für sechs Personen konnte ich mich vollkommen entspannt hinsetzen, eine im Kühlschrank gekühlte Flasche Rosé-Wein hatte ich mitgebracht, und ziemlich schnell, vielleicht in zwanzig Minuten, war das Essen fertig. Gans und Ente mit Rotkohl und Klößen schmeckten bestens und versetzten uns in eine Weihnachtsstimmung an einem anderen Ort, von wo aus wir uns noch zu den Weihnachtsgeschenken bei uns zu Hause bewegen mussten. Geruhsam und entspannt aßen wir zu Ende, wir verabschiedeten uns vom Schwager, und bei uns zu Hause beschenkten wir uns in einem eher kleinen Umfang. Geld für die Kinder, dazu eine Kleinigkeit, und ich selbst freute mich besonders darüber, dass unsere kleine Tochter genau meinen Geschmack getroffen hatte. Sie schenkte mir eine Autobiografie von Jochen Busse, die sich spannend las. Sogleich schmökerte ich in dem Taschenbuch herum, ich war beeindruckt von seiner Kindheit in Iserlohn und vom Schicksal seines Vaters, der als Inhaber eines feinmechanischen Betriebes Pleite ging. Danach hockten wir uns vor unseren Fernseher und entschieden uns für einen Film, in dem der Name unseres Katers eine Hauptrolle spielte: Rambo. Noch nie hatten wir diesen Film mit Silvester Stallone gesehen, und die Verbindungen unseres Katers zur Handlung waren dann doch allzu weit hergeholt. Beim Rachefeldzug des US-Veteranen Rambo in einer Kleinstadt in den USA reihten sich die Action-Szenen nahtlos aneinander. Irgend wann war uns soviel Action zu viel, während sich unser Kater in unserer Essecke kuschelte, und wir zappten weiter zu den nächsten TV-Sendern mit ihrem Weihnachtsfilmen.
25. Dezember 2021
Nach Tagen und Wochen der Bewegungsarmut ein längerer Spaziergang durch die Wahner Heide. Zu viel war zu tun und zu erledigen, so dass sich Spaziergänge oder anderer moderater Ausdauersport, den mir die Kardiologen empfohlen hatten, nicht dazwischen schieben ließen. Mit dem Schwager war ich zum Parkplatz am Camp Spich gefahren, von wo aus ein Teerweg geradewegs durch die Wahner Heide verlief. Große Findlinge belagerten den Zugang, ein Gittertor mit seitlicher Türe zum Naturschutzgebiet. Bezugnehmend auf die Kasernengebäude der belgischen Armee, deren militärische Nutzung im Jahr 2004 endete, nannte sich der geradeaus führende Teerweg „König-Baudouin-Weg“. Da der Schwager in seiner Mobilität etwas eingeschränkt war, wollten wir eine halbe Stunde lang den Weg geradeaus gehen und dann auf derselben Strecke wieder zurück gehen. Es waren vor allem Kiefern, die den Weg umstanden, seitlich war aber auch eine weitgehend baumfreie Schneise in den Wald geschlagen. Mäßig viele Spaziergänger waren unterwegs, dabei erschien der Anteil von Spaziergängern mit Hunden überdurchschnittlich hoch. Viele Spaziergänger grüßten freundlich, wenige wünschten sogar ein frohes Weihnachtsfest. Die klare Luft unter dem bewölkten Himmel tat gut. Ohne dass es fror, hatte es sich stark abgekühlt, so dass ich mich in meinem Schal warm einpacken musste. Nachdem wir umgekehrt waren, erlangte der Schwager sein gewohntes Gehtempo wieder zurück. Nach vielen Tagen des Sitzens und Tuns waren wir froh, dass wir uns wieder etwas bewegt hatten. Die Natur der Wahner Heide auf uns wirken zu lassen, bildete einen wohltuenden Kontrast zu all denjenigen Tätigkeiten, die wir zuletzt drinnen in unserem Zuhause abgearbeitet hatten. Am diesen ersten Weihnachtsfeiertag hatten wir ein wenig unseren Kopf frei bekommen.
26. Dezember 2021
Der zweite Weihnachtsfeiertag, ein Tag, der zwar ruhig verlief. Einen ausreichenden Ruhezustand hatte ich nach der etwas hektischeren Vorweihnachtszeit dennoch nicht erreicht, so dass ich mich allzu schnell durcheinander bringen ließ. So hatte die Konzentration bei der Buchung von Schnelltests gefehlt. Zunächst hatten wir geplant – was im Endeffekt verschoben werden musste – am heutigen zweiten Weihnachtsfeiertag zu meiner Mutter an den Niederrhein zu fahren. Dazu hatte ich insgesamt fünf Schnelltests in unserem Ort gebucht. Diese hatte ich auf den ersten – und nicht auf den zweiten – Weihnachtsfeiertag gebucht. Als ich heute meine Familie über die Uhrzeiten der Schnelltests informieren wollte, stellte ich fest, dass die Termin bereits gestern gelegen hatten. Wir hatten ohnehin viel zu lange heute Morgen geschlafen. In der Nacht hatte ich geschnarcht, bis in den frühen Morgen hinein hatten meine Frau und ich uns gegenseitig wach gehalten, und auf der Wohnzimmercouch war ich erst nach 10 Uhr wach geworden. Spät, sehr spät hatten wir gefrühstückt, und etwas nach 13 Uhr fiel uns dann doch ein, dass wir etwas zum Mittagessen essen wollten. Dabei fiel uns dann gleichzeitig ein, dass noch Rosenkohl und Pilze im Keller standen und zubereitet werden mussten. Daraus wurde dann eine größere Aktion, zumal unsere Kinder weder Rosenkohl noch Pilze aßen. Für sie bereiteten wir Maultaschen und Pilztaschen mit Tomatensoße zu, während meine Frau Pilze und Rosenkohl putzte, Pellkartoffeln abkochten und diese dann pellte. Gegen drei Uhr aßen unsere Kinder, Rosenkohl, Pilze und Pellkartoffeln deckten wir in Tellern mit Frischhaltefolie ab, weil die Zubereitung als Auflauf im Backofen zeitlich nicht mehr gepasst hätte. Um viertel nach vier wollten wir nämlich unsere große Tochter zum Siegburger Bahnhof bringen, weil sie nach Freiburg zurück fahren wollte. Die Kocherei wurde mir dann doch allzu viel, wie viele Töpfe gleichzeitig in Benutzung gewesen waren und wie sich das Geschirr dann stapelte. Ich war matt, erschöpft, überfordert, und ich war froh gewesen, als die Kinder am Essenstisch saßen. Ein kurzer Übergangszeitraum öffnete sich, nachdem die Kinder zu Ende gegessen hatten bis zu dem Zeitpunkt, als wir zum Siegburger Bahnhof losfuhren. Es war Zeit zum Wegräumen und Wegspülen. Bevor wir losfuhren, verabschiedete sich unsere kleine Tochter sich von unserer großen Tochter, unser Sohn begleitete uns. Als wir am Siegburger Bahnhof ankamen, ereilte mich die nächste Unkonzentriertheit. Ich hatte unsere Abfahrtszeit großzügig bemessen, zu großzügig, wie sich am Siegburger Bahnhof heraus stellte. Fünf nach halb fünf erreichten wir das Parkhaus, und der Zug fuhr erst um 17.09 Uhr ab. Ich hatte mir Punkt 17.00 Uhr gemerkt, und so mussten wir eine Zeitspanne von 35 Minuten überbrücken. Was tun ? Unser Sohn fragte nach einem Plan. Schließlich liefen wir zu Fuß bis zum Siegburger Marktplatz, wo es nicht so aussah, als hätte der mittelalterliche Weihnachtsmarkt statt gefunden. Einmal zu Fuß zurück zum Bahnhof, wo sich die Wartezeit auf akzeptable zehn Minuten reduziert hatte. Der ICE in Richtung Basel kam pünktlich, unsere Tochter hatte nicht reserviert und der Zug war sehr gut gefüllt. Sie musste suchen nach einem freien Platz, und während unserer Autofahrt schrieb unsere Tochter meiner Frau eine Whatsapp, dass sie einen freien Platz gefunden hätte. Die Tage von Heiligabend bis zum zweiten Weihnachtsfeiertag, als unsere große Tochter bei uns verweilt hatte, waren viel zu schnell vorbei gegangen.
27. Dezember 2021
Die Fahrt zur Mama an Weihnachten gehörte einfach dazu. Allerdings war es schade, dass wir den Besuch in diesem Jahr auf den Tag nach dem zweiten Weihnachtsfeiertag verschieben mussten. Das lag an unserer großen Tochter, weil sie uns am Vortag mit den ICE um 17.09 Uhr ab Siegburg verließ. Mein Bruder war mit seiner Familie über Weihnachten in den Bayrischen Wald verreist, so dass unsere Familie am heutigen Tag mit unserer Mama alleine war. Ein merkwürdiges Gefühl sei es gewesen, an Heiligabend und über die Weihnachtsfeiertage allein zu sein, das meinte die Mama, wobei aber meine Tante mit ihrer Tochter vorbei geschaut hatte. Mit dem Rollator war meine Mama die Straße auf und ab gefahren, mit dem Elektromobil zum Friedhof und zu meiner Tante, so dass sie doch ein bißchen menschlichen Kontakt gehabt hatte. Man spürte ihre Freude, dass wir da waren, und die Gespräche entwickelten sich ein wenig in die Richtung, dass unsere große Tochter in Freiburg eine neue Wohnung suchte, wie das WG-Leben bei meinem Schwager aussah, wie die Fernbeziehung bei unserer kleinen Tochter aussah oder dass der Fernseher bei der Mama überhaupt nicht funktionierte, wie er sollte. Wir tranken Kaffee und aßen aufgetauten Kuchen von Coppenrath & Wiese und irgend wie war es sehr nett und gemütlich und alle freuten sich, mit den 85 Lebensjahren meiner Mama beisammen zu sein. Die in sich gekehrte Harmonie vervollständigte die Katze meines Bruders, die sich gerne streicheln ließ. Als Rassekatze war ihr Fell flauschig und seidenweich. Als wir so zusammen saßen, dass wir uns alle lieb hatten, hörten wir Schritte und mit einem Mal stand mein Bruder inmitten von uns. Da er noch im Urlaub verweilen wollte, hatten wir nicht mit ihm gerechnet. Der heutige Tag war aber der Abreisetag, so dass er mit Tochter und Ehefrau die 660 Kilometer vom Bayrischen Wald – fast an der tschechischen Grenze – nach Hause zurück gelegt hatte. Wohl wissend, dass die lange Autofahrt ihn gestresst hatte, verschwand in die Wohnung im Obergeschoss. Einige Zeit später kreuzte er wieder auf, und wir fragten ihn, ob er sich zu uns setzen könne, um sich etwas zu unterhalten. Fünf Minuten, meinte unsere Mama, und dabei fühlte er sich sogleich herum kommandiert, dabei bezeichnete er unsere Mama als „Kommandeur“. So ziemlich genau fünf Minuten nahm er sich Zeit, dann verschwand er wieder. Nachdem wir uns eine Zeitlang ohne ihn unterhalten hatten, fragte unsere Tochter, ob er deren Tochter, die zwei Jahre jünger war als wir, ein frohes Weihnachtsfest wünsche könne. Wir gingen hoch zum Zimmer deren Tochter, wir klopften an, öffneten die Türe und wünschten ein frohes Weihnachtsfest. An ihrem Schreibtisch sitzend verlief das Gespräch kurz und knapp. Der Urlaub war schön gewesen, ihr Zimmer sei schön, das Weihnachtsfest war schön, alles um sie herum war schön. Außer so viel schönem kam ein Gespräch nicht in Gang. Wir wünschten alles Gute, schlossen ihre Türe, dabei hörten wir im benachbarten Badezimmer Wasser zum Duschen laufen – ihre Mutter beziehungsweise meine Schwägerin stand offensichtlich unter der Dusche. Danach redeten wir im Wohnzimmer weiter miteinander, wobei wir auf die Verhaltensweisen meines Bruders mit seiner Familie nicht weiter eingingen. Irgendwann nach diversen Streicheleien der Katze war für uns die Zeit gekommen, das Haus meiner Mama zu verlassen. Nachdem wir uns in die Arme genommen hatten, ließ sich mein Bruder im Treppenhaus vor unserem Abschied blicken. Mit einem ganz normalen Tschüss sagten wir den beiden „auf Wiedersehen“, während die Schwägerin noch unter der Dusche stand und die Nichte in ihrem Kinderzimmer verweilte. Wir führten die etwas merkwürdigen Verhaltensweisen auf einen allgemeinen Stresszustand nach solch einer langen Autofahrt zurück, wir dachten uns nichts weiter dabei und fuhren selbst alsbald in die Richtung unserer Heimat zurück.
28. Dezember 2021
Die Planänderung ereilte uns mitten auf der Autobahn. Die Cousine meiner Frau wollten wir in Oberhausen besucht haben, von Burscheid aus befanden wir uns auf der Anfahrt auf die Auffahrt Leverkusen-Opladen, wir hatten die Autobahn A3 im Visier nach Oberhausen. Wieder einmal war es das Virus, das alle zum Teufel wünschten, das unser Vorhaben über den Haufen schmiss. Nach 16 Uhr hatten wir uns in Oberhausen verabredet, heute Morgen war der Enkelsohn der Schwester der Cousine positiv auf Corona getestet worden, über Weihnachten war die ganze Familie in geselliger Runde zusammen gewesen, und vom Prinzip her hätte die ganze Familie mit Corona infiziert sein können. So fanden wir es richtig, uns zu informieren und den Besuchstermin abzusagen. Was tun ? Nach Hause zurück zu kehren, dazu fehlte uns die Lust, zumal wir etwa die Hälfte der Strecke zurück gelegt hatten. Wir diskutierten, zum Oberhausener Centro zu fahren, dort zu bummeln und vielleicht die Ausstellung im Gasometer zu besuchen. Das Centro war rappelvoll, so wie wir es kaum erwartet hatten. Anscheinend verbrachten viele Menschen die Zeit zwischen den Feiertag mit Shoppen, hinzu kam der Lockdown in den Niederlanden, der so manchen Niederländer auf das nahe Deutschland ausweichen ließ. So drängelten sich die Menschen dicht an dicht, was so manche Virologen sicherlich nicht gerne gesehen haben. Ebenso dicht und filigran waren die Weihnachtsdekorationen zwischen den Laufwegen der Shopping Mall. Zu viel Volk knubbelte sich zwischen ganz viel weihnachtlichen Lichtern, so dass uns unser Hungergefühl nach draußen auf die Promenade zog, um ein Restaurant zu finden. Mit dem „König“ hatten wir eine ganz gute Auswahl gefunden. Das Restaurant hatte nichts mit der Biermarke „König-Pilsener“ aus Duisburg zu tun, wie wir zunächst vermutet hatten, jedenfalls war das Logo der Biermarke nirgendwo im Lokal zu sehen. Bevor wir unser Essen serviert bekamen, hatte meine Frau die Idee, anstelle der Cousine eine andere Freundin aus Oberhausen oder Freunde von uns in Düsseldorf zu besuchen, doch beide Kontaktadressen waren anderweitig verhindert. Wir beide aßen Jägerschnitzel, quasselten lange Zeit miteinander, während vier Niederländer am Nachbartisch saßen. Wie wir unseren Nachmittag in Oberhausen fortsetzten, dabei setzte ich mich durch. Inzwischen war es ungefähr 15 Uhr, als wir uns auf die windige Promenade trauten, wo uns der Wind um die Ohren wehte und einige Regentropfen Ungemach verbreiteten. Der große Kessel des Gasometers reckte hinter dem Bahndamm seine runde Gestalt nach oben. Wie das Industriedenkmal zu finden war, das versprachen die Hinweisschilder hinter den verschlossenen Ständen des Weihnachtsmarktes.
29. Dezember 2021
Ganz viel Warterei vor dem Eingangsbereich und vor dem Aufzug, der auf die Aussichtsplattform des Gasometers auf 117 Metern führte. Wie zu erwarten, hatte ich Probleme mit der Schwindelfreiheit auf 117 Metern Höhe, wenngleich der Ausblick auf das Revier in der regenverhangenen Stimmung gigantisch war. Dieser Ausblick folgte dem Rhein-Herne-Kanal über die Städteansammlung von Duisburg bis an den Niederrhein. Bis wir zu dem eigentlichen Kern der Ausstellung „das zerbrechliche Paradies“ gelangten, der Nachbildung der Erdkugel im Inneren des Gasometers, hatten wir bereits viel zu viel Zeit aufgewendet. Und die Ausstellung ging noch weiter: in den beiden Stockwerken unterhalb der Erdkugel war opulentes Bildmaterial zu sehen, welches belegte, wieso unsere Erde ein zerbrechliches Paradies war. Zunächst waren die Visualisierungen der Erdkugel gigantisch. mussten wir in Kauf nehmen, bis wir zum eigentlichen Kern der Ausstellung gelangten. Viel zu viel Zeit hatten wir aufgewendet, bis wir die frei schwebende monumentale Skulptur der Erdkugel im Inneren des Gasometers zu sehen bekamen und in den beiden Stockwerken darunter das opulente Bildmaterial zur Ausstellung „das zerbrechliche Paradies“. Zunächst waren die Visualisierungen der Erdkugel waren gigantisch. Hoch auflösende Bilddarstellungen zeigten, wie die Erde aus den tektonischen Platten entstand. Die Eiszeit wurde in der prähistorischen Zeit simuliert, aber auch Phasen mit tropischen Palmenwäldern und lebensfeindlichen Hitzephasen. In der Gegenwart beobachteten Satelliten die Erde und projizierten die Phänomene des Windes und Windfelder auf unseren Planeten. Dieser wechselte vom Tag in die Nacht, welche durch Lichtquellen jeglicher Art erhellt wurden. Die Drehbewegung der Erdkugel war ein endloses und wiederkehrendes Phänomen, wie etwa in der Verdichtung der Routen von Flugzeugen oder Schiffen auf den Weltmeeren. Als wir in den beiden Stockwerken darunter die Zerbrechlichkeit unseres Paradieses begutachten wollten, waren wir von der Fülle des Bildmaterials geradezu erschlagen. Die großflächigen Fotografien befassten sich damit, wie der Mensch unseren Planeten veränderte. Diese Veränderungen geschahen im Namen des Fortschritts. Wälder wurden abgeholzt, Ozeane verschmutzten. Die Temperaturen stiegen, das Eis an den Polen schmolz, Unwetter und Extremwetterlagen nahmen zu. Weil der Klimawandel unstrittig und bewiesen war, arbeiteten die Menschen an Ideen und Lösungen, diesen Prozess zu stoppen. Die großflächigen Fotografien zeigten die Facetten des Raubbaus an der Natur: ausgedörrter Erdboden, Megacities mit ihren Skylines, das explodierende Bevölkerungswachstum in diesen Megacities, Großstädte in der Wüste, den Braunkohletagebau oder Förderanlagen für Erdöl. Wie Tornados entstanden, sich formierten und über einen hinwegzogen, das flößte Furcht und Schrecken ein, barg aber auch eine Faszination, welche Energie die Natur zustande bringen konnte. All diese Energie war in Filmsequenzen zusammengefasst, in denen ein Tornado den nächsten jagte. Um all die Fotografien in Ruhe zu betrachten, dazu hatte unsere Aufmerksamkeit zu sehr nachgelassen. Gerade im untersten Stockwerk, das Fotografien der Artenvielfalt zeigte, hatten wir uns nur einen Bruchteil angeschaut. Das Fotomaterial war geradezu überwältigend. Die Ausstellung im Gasometer „das zerbrechliche Paradies“ erzeugte Lust auf mehr, es war allerdings die Frage, wann es uns noch einmal ins Ruhrgebiet nach Oberhausen verschlagen würde.
30. Dezember 2021
Ein Nachmittag, an dem ich die Flucht suchte ins Café in unserem Nachbarort. Die letzten beiden Tage waren stark bestimmt vom Einkaufen und vom Menschengedrängele, weil die Menschen anscheinend nichts anderes im Kopf hatten als Einkaufen. Wir selbst hatten uns allerdings auch in diesen Sog hinein begeben – durch Payback. Bei REWE gab es bis Jahresende zweimal für Einkäufe ab fünf Euro jeweils 390 Extrapunkte. Real lockte ebenso – mit Zehnfachpunkten am gestrigen Tag ab einem Einkaufswert von 50 Euro. So waren die letzten beiden Tage vom Rhythmus bestimmt: aufstehen, frühstücken, einkaufen, wegräumen, kochen, wegspülen und spät zu Bett gehen. Der Schar der Einkaufenden hatten wir uns somit angeschlossen, den Neujahrstag und den nachfolgenden Sonntag, wenn wir nicht einkaufen konnten, suchten wir zu überbrücken, und in dem Turnus des Einkaufens fiel mir zu Hause langsam die Decke auf den Kopf, dazu lief der Fernseher im Dauerbetrieb. Sicher, ich hätte leicht Abwechslung finden können, indem ich etwa Regale im Keller beim verstorbenen Schwiegervater aufgehängt hätte. Oder im eigenen Garten hätten sehr viele Ecken Ordnung nötig gehabt. Ich suchte allerdings nicht solche Orte der Betätigung, sondern verlangte eher nach Bewegung, wozu mir all die Kardiologen mit vier Stunden pro Woche als moderatem Ausdauersport geraten hatten. So pochte ich darauf, mit dem Fahrrad ins Café in unseren Nachbarort zu fahren. Dort den Stecker zu ziehen, war einiges effektiver als mich mit Gartenarbeit oder Regale aufhängen zu betätigen. Bei einer Tasse Kaffee konnte ich dort meine Zeitung lesen und an meinem Laptop arbeiten. Ich lauschte den Gesprächen, die allesamt Corona verfluchten. Die Kellnerin eines Restaurants klagte darüber, dass von den ursprüngliche gebuchten Weihnachtsessen die Hälfte wieder storniert worden war. Für die Silvesterfeier gab es nur zehn Anmeldungen – eine Größenordnung, wofür sich solch eine Feier nicht mehr lohnte. Die Tochter der Caféinhaberin wollte im Dezember geheiratet haben. Einen Saal hatte sie gemietet, dann hatte sie den Saal wieder storniert, weil nur im engsten Familienkreis gefeiert wurde. Die Caféinhaberin selbst klagte genauso über Corona, sie hätte deutlich weniger Hochzeitstorten verkauft wie üblich. Zusammenfassend konnte man sagen: verglichen mit dem Vorjahr, waren wir alle viel glimpflicher davon gekommen. Alleine dass wir in dem Café sitzen konnten und einen Kaffee trinken konnten, das war eine wahre Errungenschaft. War man im Vorjahr noch wahrhaft schnell dabei mit einem Lockdown als Allheilmittel, das letztlich doch nichts taugte, so war man in diesem Jahr vorsichtiger unterwegs. Der Impfschutz war nicht weg zu diskutieren, die Infektionswelle von Omikron stand allerdings noch vor uns. Alles in allem, hatte die Fluchtbewegung gut getan. Mit dem Fahrrad fuhr ich durch die Baustelle über die Landstraße zu unserem Ort zurück, und zu Hause sollten uns unsere Freunde bald erwarten, mit denen ich gemeinsam deren Steuererklärung anfertigen wollte.
31. Dezember 2021
Same procedure as every year – diesen Spruch aus “Dinner for one” hätte man in diesem Jahr auf das Feuerwerksverbot an Silvester anwenden können. Bedingt durch die Pandemie, war manches nicht so schlimm wie im letzten Jahr, aber auf Böllerei und Feuerwerk stürzten sich in diesem Jahr genauso wie im letzten Jahr die Verantwortlichen. Anscheinend sahen sie den großen Hebel, die Pandemie eindämmen zu können, wenn Menschenansammlungen beim Feuerwerk verhindert wurden. Zudem sollten die Krankenhäuser durch eine Minimierung von Verletzungen beim Feuerwerk entlastet werden. Das Verbot sollte nichts als eine Luftnummer sein – das war meine persönliche Meinung. So übten wir uns am Silvesterabend in einem kollektiven Verzicht. Wir feierten nichts, zumal wir lediglich zu dritt – Frau, Sohn und meine Wenigkeit – zu Hause waren. Dem allgemeinen Silvester-Stimmungsprogramm im Fernsehen suchten wir über die Mediathek zu entkommen. Wir fanden einen Krimi, der im Harz spielte, mit Hinnerk Schönemann, den wir als Schauspieler sehr schätzten. Es ging um viel Geld in einem Rucksack, um Schüsse, die vor einer Berghütte fielen, und Blut, welches dort floss, und weitere Schüsse, die in der Walpurgisnacht auf dem Hexentanzplatz fielen. Derweil nutzte ich den ereignisarmen Abend, um mich mit Dingen zu befassen, wozu mir ansonsten die Lust fehlte. Ich sichtete die Differenzen bei den Erstattungen der Postbeamtenkrankenkasse, welche Positionen mit welchen Begründungen nicht erstattet wurden und wie ich dies gegenüber den Erstellern der Rechnungen kommunizieren konnte. Über die Vielzahl der Einzelpositionen war dies eine Sisyphos-Arbeit, die Differenzen nachzuvollziehen, um dies belastbar begründen zu können. Später hockte ich mich vor den Fernseher, um den Harz-Krimi anzuschauen. Dabei las ich zwischendurch in der Autobiografie von Jochen Busse, die mir unsere Tochter zu Weihnachten geschenkt hatte. Indes schritt die Uhr stetig voran, und schnell stand der Uhrzeiger auf viertel vor zwölf. Daraufhin wechselten wir von der Mediathek auf das Silvester-Stimmungsprogramm, um den Countdown auf das neue Jahr mitzubekommen. Wir stellten die Sektgläser bereit, um 12 Uhr prosteten wir uns zu und stellten fest, dass es 2022 eigentlich nur noch besser werden konnte, wenn man auf die Pandemie schaute. Draußen wurde einiges weniger geböllert, aber immerhin: ein Glanz von Feuerwerk hatte überdauert, die Verbote hatten Risse bekommen. Es war so wie zu den Zeiten des Lockdowns, als alles schließen musste. Die Menschen suchten nach Auswegen, die Verbote zu umgehen, wo man schummeln konnte, wo der Staat keinen Zugriff hatte oder sich in diesen dunklen Pfaden nicht einmischen konnte. Die Feuerwerkskörper stießen in den Nachthimmel, sie zeichneten Sterne, Raketen explodierten. Batterien von Böllern knallten über den Erdboden. Wir beobachteten die Reste des Feuerwerks und prosteten einander zu.
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