Tagebuch August 2021
1. August 2021
Glücklicherweise sind seit Mitte Mai die Zeiten vorbei, dass man nichts unternehmen konnte. Man hatte nichts, worauf man sich freuen konnte, und konnte nichts gemeinsam erleben. Nachdem im letzten Jahr die Karl-May-Festspiele in Elspe im Sauerland wegen Corona ausgefallen waren, freuten wir uns nun darüber, sie in diesem Jahr zu neunt zu besuchen. An Corona geschuldet, war der Papierkrieg im Vorfeld immens. Im Internet mussten die neun Personen registriert werden, die neun Registrierungen mussten wir mit dem dazugehörigen QR-Code ausdrucken. Dazu mussten wir neun Nachweise von Impfung, Genesung oder Negativtest bereithalten. Dementsprechend aufwändig waren die Prüfungen im Eingangsbereich, die Einschränkungen während der Vorstellung und des Rahmenprogramms, um die Corona-Schutzverordnung des Landes NRW einzuhalten, konnte man hingegen vernachlässigen. Die Tiershow und die Stunt-Show fanden im Freien statt, und im Saloon, wo wir das Mittagessen dazu gebucht hatten, standen die Tische in dem vorgesehenen Abstand auseinander. Auf den Sitzplätzen der Freilichtbühne wurde zwischen den Gruppen ein Platz frei gelassen. Da die Verantwortlichen sich Mühe gaben mit all diesen Maßnahmen, war auf der Internetseite des Elspe Festivals nachzulesen, dass noch kein Corona-Fall bei den Festspielen nachgewiesen worden sei. Das Stück „Der Ölprinz“, das gespielt wurde, war identisch zu demjenigen, welches wir vor zwei Jahren gesehen hatten. Wie in all den Vorjahren, wechselten die Inszenierungen, die Handlungssequenzen und die Geschichte, die erzählt wurde. In diesem Jahr hätte ein Investmentbanker die Geschichte erzählen können: eine Luftblase wurde aufgebaut, die sich aufblähte, um jede Menge Geld zu erzeugen. Ölfelder wurden verkauft, die gar nicht existierten. Fässer voller Öl wurde auf Gestein ausgeschüttet, welches nach einer Luftblase von Ölfeldern aussehen sollte. Diese Luftblase von Ölfeldern wurde dann an einen Geschäftsmann verkauft. Aber zum Glück konnten die Helden Winnetou und Old Shatterhand Gauner und Ganoven zur Strecke bringen. Wie bei vergangenen Vorstellungen, erfreuten wir uns an vorbei rauschenden Pferden, an bunt bemalten Indianern, die sich vor Tipis in Pose gesetzt hatten, und an den komischen Figuren eines Sam Hawkens oder eines Kantors, bei denen wir uns vor Lachen krümmten. Dem letzteren, der Kantor, gelang es, den Haufen von Ganoven zu einem Chor zusammen zu stellen. Mittendrin, wenn sich die Bösewichte mit Old Shatterhand & Co prügelten, komponierte der Kantor eine Oper. Die Ganoven verzweifelten an ihm, weil er nicht ernst genommen werden konnte und er brachte die Handlungsstränge grundlegend durcheinander. Es war ein schöner Nachmittag, den wir zu neunt bei den Karl-May-Festspielen erlebt hatten. Nach zweieinhalb Stunden auf der Freilichtbühne schaute ich allenthalben in strahlende Gesichter.

2. August 2021
Dieses chinesische Restaurant, auf dessen Toiletten dieses Foto vom Weihnachtshochwasser 1993 hing, sollte uns höchst positiv überraschen. Zurückgekehrt von den Karl-May-Festspielen, war die Zeit am frühen Abend fortgeschritten, nachdem wir alle Mitfahrer ausgeladen hatten und verabschiedet hatten. Uns fehlte die Lust, etwas zu kochen, und so kurvten wir kurzerhand im Nachbarort herum, dort, wo wir den Freund des Schwagers mit seiner Mutter aus unserem Auto heraus gelassen hatten. Meine Frau hatte die Idee, am Rhein nach einem Restaurant zu schauen, zwei Restaurants standen dort zur Auswahl. Wir wählten das chinesische Restaurant mit dem Foto vom Weihnachtshochwasser 1993. Die Fluten des Rheins hatten das Restaurant vollständig im Griff gehabt, die Gebäudeumrisse verschwanden in mehreren Metern Höhe im Wasser, das Restaurant umgab eine einzige Seenlandschaft. Das Hochwasser war seiner Zeit eine mittlere Katastrophe gewesen, da das Wasser den Restaurantbereich massiv beschädigt hatte. Gerne waren wir früher dort chinesisch essen gegangen, früher, das lag mittlerweile etwa 15 Jahre zurück. Damals war es eine Top-Adresse gewesen, doch dann hatte der Restaurantinhaber gewechselt. Wir hatten uns angewöhnt, Essen abzuholen und nach Hause mitzunehmen. Doch nach dem Inhaberwechsel entsprach die Speisekarte nicht mehr einer gängigen chinesischen Essensauswahl, wir fanden kaum ein Gericht zum Mitnehmen und was wir fanden, schmeckte uns nicht. An unseren letzten Restaurantbesuch im Jahr 2010 erinnere ich mich sehr genau: wir waren von unserem Ostseeurlaub zurück gekehrt, die Fußballweltmeisterschaft in Südafrika war noch in vollem Gange, und am Abreisetag spielte die deutsche Nationalmannschaft gegen Uruguay um den dritten Platz. Der Fernseher lief auf einem Großbildschirm, das deutsche Team gewann mit 3:2 und allenthalben herrschte Freude über das Auftreten der deutschen Nationalmannschaft. Was ich seiner Zeit dort aß, daran erinnere ich mich nicht mehr. Es schmeckte aber nicht herausragend oder hervorragend, eher eine durchschnittliche Qualität chinesischen Essens. Das sollte sich in der Zwischenzeit grundlegend verändert haben. Das Restaurant war voll, gut voll, so dass nur noch wenige Plätze für uns drei frei waren. Eine ganze Zeitlang mussten wir auf das Essen warten, doch dann aß das Auge mit. Ganz filigran, mit dem Blick für Details, in einer gewissen Farbkomposition, bekamen wir das Essen serviert. Unsere Tochter aß Hühnerfleisch süß-sauer, meine Frau Rindfleisch mit Zwiebeln, das in einer Pfanne serviert wurde, ich aß Nasi Goreng, dessen besonderer farbliche Note darin bestand, dass ein kleinerer Fleischspieß der großen Portion obenauf hinzugefügt war. Zu dritt waren wir begeistert, wie sehr es geschmeckt hatte. Ganz bestimmt werden wir bald dorthin wieder kehren.

3. August 2021
Mich erinnernd an das Haus mit dem Haken, stand ein Mensch dahinter, der in seinem Handwerk aufging. Er verkörperte den Handwerkertypen, der alles selber machen wollte. Er schmiedete Pläne, arbeitete die größeren Vorhaben quasi wie ein Projekt ab und ergötzte sich an den Ergebnissen, auf die er stolz war, weil er sie selbst geschaffen hatte. Nun war im Dachgeschoss der Dachstuhl erneuert, und die Neuverlegung des Estrichs verzögerte sich, weil es an Hilfe fehlte. Als wir auf der Terrasse des Hauses mit dem Haken saßen, schauten wir auf Stücke von gebogenen Metallteilen, die darauf warteten, montiert zu werden. Gelernt hatte er Dachdecker, und nun war in einer der Handwerkskammer angegliederten Bildungsbereich tätig und unterrichtete jede Menge Fortbildung. Am Stadtrand von Dortmund trafen wir auf einen Menschentypen, zu dem mir die Augenhöhe fehlte. Bei handwerklichen Angelegenheiten konnte ich weder mitreden noch die Dinge selber machen. Dazu fehlten mir die Skills, so würde man es in der anglifizierten Begriffswelt bezeichnen. Philipp Blom hatte die Verkümmerung von Fähigkeiten in einem seiner Bücher als „Deskilling“ genannt, weil der Mensch in seinen geschichtlichen Epochen ein Alleskönner sein musste, um überleben zu können. Durch die Spezialisierungen und den Taylorismus, der in der industriellen Produktion seine Anfänge genommen hatte und auch die Verwaltungsbereiche einbezogen hatte, war der Mensch in den spezialisierten Bereichen besser geworden, indes war ihm ein ganzes Bündel anderer Fähigkeiten abhanden gekommen, weil man sie nicht mehr können musste. Was die handwerklichen Skills betraf, war mir einiges abhanden gekommen oder erst gar nicht dagewesen, und mit dem Menschen aus dem Haus mit dem Haken wähnte ich mich nicht auf Augenhöhe. Dagegen machten mir die Gespräche – oder vielmehr waren es Monologe – der Mutter eines Behinderten Mut, die wir in unserem Auto zu den Karl-May-Festspielen mitgenommen hatten. Sie war bereits über achtzig, und ihr Schwiegersohn sei ein Kopfmensch oder Schreibtischmensch. Was die handwerklichen To do’s betraf, erledigte er die einfachen bis sehr einfachen Dinge. Ihm würde es aber schnell zu kompliziert, und er hätte keine Geduld. Zum Beispiel einen neuen Wasserhahn montieren, das bekäme er nicht mehr hin. Dies hätte dann ihr Mann erledigt, der handwerklich einiges versierter sei. Bei all dem Schreibkram, da sei ihr Schwiegersohn gut dabei, und dies würde diese Defizite bisweilen ausgleichen. Als sie dies erzählte, fühlte ich mich ermuntert, da ich ähnlich aufgestellt war. Mir wurde bewusst, dass man sich solche Schwächen eingestehen durfte. Auf Augenhöhe wähnte ich mich wiederum dann, wenn mein Gegenüber gleich geartet war wie ich, also viel mit dem Kopf arbeitend und wenig mit den Händen. Ganz intelligent waren natürlich diejenigen, die sowohl mit dem Kopf wie mit den Händen gut dabei waren. Aber solche Höhenflüge würde ich bis auf weiteres nicht starten können.

4. August 2021
Besuch der Ausstellung „Hits und Hymnen“ im Haus der Geschichte. Ich war etwas enttäuscht, weil die Schnittmenge mit meinen musikalischen Vorlieben ziemlich klein war. Anstelle dass weltbewegendes zu Led Zeppelin, Deep Purple, Status Quo, Jimi Hendrix oder den Doors gezeigt wurde, war ich entsetzt, als Schlagergrößen wie Heintje, Nicole, die Capri-Fischer von Gerhard Winkler oder gar Helene Fischer in den Vordergrund rückten. Ein bißchen wurden die Rolling Stones thematisiert, als es nach einem Konzert 1965 in Berlin Schlägereien gegeben hatte, ein bißchen wurde über den 1968er-Krautrock von Amon Düül oder Ton-Steine-Scherben erzählt und ein bißchen über Chuck Berry mit einem Transistor-Radio aus dem Jahr 1955. Bruce Springsteen und Udo Lindenberg, die beide groß gezeigt wurden, waren nie mein Geschmack gewesen. Wolf Biermann war zwar mit seinem 1976er-Konzert hoch politisch gewesen, aber zumindest damals zu meiner Schulzeit hatten mich solche deutsch-deutschen Querelen nicht die Bohne interessiert. Und dennoch, es gab einen tollen Hingucker: die Scorpions hatten nämlich beim Moscow Music Peace Festival am 12. August 1989 Weltgeschichte geschrieben. Ein nächtlicher Spaziergang durch den Gorki Park hatte den Sänger Klaus Meine inspiriert, das Stück „Wind of Change“ zu schreiben. Er sinnierte, dass die Musik soll die Völker verbinden solle und einen Wandel einleiten solle, was er in den berühmt gewordenen Zeilen niederschrieb: “ … Take me to the magic of the moment on a glory night where the children of tomorrow dream away in the wind of change … the wind of change blows straight into the face of time … like a storm wind that will ring the freedom bell for peace of mind …” Die Ausstellung zeigte den Zettel, auf dem Klaus Meine das weltbekannte Stück „Wind of Change“ in einer Nacht getextet hatte. Außerdem war in der Ausstellung eine Lederjacke zu sehen, die ihm Moskauer Fans am 12. August 1989 geschenkt hatten. „East meets West“, das war das Kennzeichen dieser Lederjacke, wo in einem Totenkopf die Flaggen der UdSSR und der USA ineinander übergingen. Ein Rockkonzert sollte weltpolitische Umwälzungen begleiten, was es vorher noch nie in der Rockgeschichte gegeben hatte. „Hits und Hymnen“ in ihrer höchsten Intensität.

5. August 2021
Als ich in der Mittagspause im Bistrot am Theater eine Apfelschorle trank, fiel der Blick unwillkürlich auf das Theater, das genau gegenüber dem Bistrot lag. Der Eingang zu dem Bau im 1950er Jahre-Stil, der unter Denkmalschutz stand, kam mir vertraut vor, das aufgeführte Programm hing in den Schaukästen neben dem Eingang. Rechts daneben hing wiederum in einem weiteren Schaukasten die bevorstehende Premiere aus: Unsere Welt neu denken frei nach Maja Göpel. Ihr gleichnamiges Buch hatte ich geradezu verschlungen. Ihre Denkansätze weg vom Konsum, hin zu externen Kosten, die ich im Rahmen der AVWL-Kurse im Hauptstudium BWL einst gelernt hatte. Ich war fasziniert von ihrem Buch, in dem sie ihre Kerngedanken an ökonomischen Leitbildern orientierte, die nicht Gewinnmaximierung oder mehr Profit lauteten, sondern Grenzen des Wachstums, Rohstoffkreisläufe, die Aufgabe der Selbstoptimierung des Menschen oder eine Neudefinition des Wohlstandes. Ihr Entwurf einer neuen Gesellschaft war in vielen Punkten revolutionär, so revolutionär, dass die Umsetzung ihres Entwurfes sicherlich schwierig sein würde. Dazu müsste auch jeder Mensch bei sich selber anfangen, aber wäre jeder dazu bereit, seinen Eigenanteil zu erbringen ? Wären wir dazu zu verhaftet in unserem Konsumverhalten ? Diese Visionen in ein Theaterstück zu übertragen, diese Idee fand ich genial. Theater verband man ja allzu sehr mit irgendwelchen Klassikern, wie etwa Lessing, Schiller, Kleist, Schnitzler oder Brecht. Nun waren es moderne, zeitgemäße Denkansätze, aus denen eine Dramaturgie geschaffen wurde. Ein interessanter Ansatz, wobei allerdings absehbar war, dass mir wohl die Zeit fehlen würde, das Theaterstück anzusehen.

6. August 2021
Wie oft noch ? Heute war das zweite Mal, dass wir unsere kleine Tochter zu ihrem Florian nach Dortmund fuhren, und nach der Ankunft waren die beiden überglücklich, sich zu umarmen. Vor 14 Tagen waren wir mit unserer 16-jährigen Tochter das erste Mal nach Dortmund, und wir wünschten uns, dass sich das Wiedersehen der beiden möglichst oft wiederholen sollte. Zuvor hatten wir mit den Widrigkeiten zu kämpfen, dass die Autobahn A3 auf dem östlichen Kölner Autobahnring voll gestaut war. Mit einigen Zeitverlusten wurstelten wir uns anstatt dessen über den Mauspfad parallel zu Autobahn A3, wir kurvten durch die Stadtteile Schildgen und Paffrath von Bergisch Gladbach, über Odenthal ging es dann zur Autobahnauffahrt Burscheid auf die A1, von dort aus über Wuppertal in Richtung Dortmund. Weil vor dem Westhofener Kreuz erneut Stau angesagt war, ersetzten wir die längere Fahrzeit infolge des Staus durch die Fahrt über Land- und Bundesstraßen durch Hagen und Schwerte. Als wir unser Ziel in Dortmund, das Haus mit dem Haken, erreichten, verschwanden unsere Tochter mit ihrem Florian augenblicklich. Mit dem Vater, Oliver, waren wir schnell per Du, und unser Gespräch streifte dies und das. Er bot uns Kaffee und Käsekuchen an, während seine Frau mit der Tochter, 11 Jahre alt, und einer Freundin uns zum Taek-Wan-Do verließen, an welchem die beiden zweimal in der Woche teilnahmen. Einen Großteil unseres Gesprächs blieb bei unseren Katzen hängen. Unser Kater Oskar ging mit meiner Frau zusammen einkaufen, unser Kater Rambo hatten einen Sprung aus dem Fenster im zweiten Stock des Zimmers unserer Tochter unbeschadet überstanden, unser Kater Jumbo war einmal 24 Stunden im Treppenhaus des Mietshauses gegenüber eingesperrt gewesen. Für Olivers Kater war es ein Paradies, als das Haus mit dem Haken eingerüstet war. Ab und an ließ er sich tagelang nicht blicken, das Maximum war eine Woche, dann wurde Oliver doch ungeduldig. Katzen könnten sich gut gegen Hunde durchsetzen, dazu machten sie ihre Krallen so lang wie es ging und kratzten dann mit all ihrer Kraft zu. Über unsere Kinder, wovon er 5 (aus 2 Beziehungen) und wir 3 hervor gebracht hatten, unterhielten wir uns ebenso, als diese noch klein gewesen waren. Er und seine Frau hatten seiner Zeit gestillt und abgepumpt, und von der Akribie der Kinderärzte, aufzuschreiben, wann die Babys wieviel getrunken hätten, hielt er nichts. Seine Kinder hätten stets genug und ausreichend getrunken, wozu eine genauere Buchführung überflüssig gewesen sei. Wir diskutierten über das Gewicht unserer Kinder bei der Geburt, was bei unserer kleinen Tochter ziemlich hoch war. Die 3,5 Kilogramm überragten die 2,5 und 2,8 Kilogramm unserer beiden zuerst geborenen Kinder bei weitem. Und dann war da noch ein Kuriosum bei unserem Sohn, was das Trinken von Tee betraf. Im Krankenhaus, nach der Geburt, bekam er einige Tage lang Traubenzucker in den Fencheltee. Danach mochte er den Tee nicht mehr, und wir mussten die Krankenschwestern in der Neugeborenenstation wieder überzeugen, Traubenzucker dem Tee hinzuzufügen. Ein wenig unterhielten wir uns über unsere jugendlichen Leidenschaften und Vorlieben. Bei Oliver war es eineindeutig das Motorradfahren. Schon zu Jugendzeiten hatte er an Mofas herum geschraubt, mehr PS aus ihnen herausgekitzelt, als sie eigentlich hergaben und sich an dem Fahrgefühl mit den hoch gepushten PS ergötzt. Das erfreute weniger die Polizei, als sie die Mofas mit ihrem technischen Potenzial kontrollierte. Wie sehr er sein Mofa hoch getuned hatte, war nicht unerheblich: von 15 PS auf 115 PS, damit war er quasi auf einer Rakete unterwegs, wobei die Grundeigenschaften wie die Bremsen nur auf ein langsames Niveau justiert waren. Die Polizei kam nicht umhin, das Gefährt zu beschlagnahmen, es auf der Wache zu deponieren und ein Bußgeld auszusprechen. Zu dieser Zeit war Oliver noch Schüler, so ungefähr im Alter von 15 Jahren. Zu seiner Schulzeit war sein Verstand noch sehr scharfsinnig. Er kannte die unzulässigen Teile, die er montiert hatte, welche die Polizei dann wiederum beschlagnahmen würde. So konnte er vorhersehen, welche beschlagnahmten Teile fehlen würden, die er neu beschaffen musste. Auf dem Rückweg mussten wir uns sichtlich weniger durch Staus hindurch wursteln. Die Autobahn A1 war frei, das Einfädeln vor dem Leverkusener Kreuz ließ nicht allzu lange auf sich warten. Auf den vier Spuren auf der A3 hatte sich der Verkehrsfluss längst beruhigt.

7. August 2021
Ein Tag, an dem ich im Garten fortlaufend die falschen Dinge erledigte. Ziemlich spät kehrten wir zurück von unseren Wocheneinkäufen im HUMA-Einkaufspark, und nachdem ich einen Großteil unserer Einkäufe weggeräumt hatte, wollte ich im Garten ein Stück von dem großen Berg, was dort zu erledigen war, abarbeiten. Am letzten Samstag hatte meine Frau mir mitgegeben, dass das Ernten die höchste Priorität hätte. Unter der Woche hatte ich bereits die Kartoffeln aus dem einen Kartoffelturm geerntet, und ich wollte mit den Tomaten weitermachen. Einige Tomaten waren aufgeplatzt, andere von der Tomatenfäule befallen, und ein kleineres Sieb voller roter Tomaten waren das Ergebnis meiner Ernte. Meiner Frau leuchteten noch einige rote Tomaten entgegen, das meinte sie. Die Tomaten, die sie meinte, waren nicht ganz so knallrot, und ich pflückte sie ab. Danach erntete ich drei Paprika und drei Peperoni, worauf ich ein blankes Entsetzen bei meiner Frau erzeugte. Beide Gewächse hatte ich in einem grünen Zustand geerntet, Paprika und Peperoni hätten aber eine rote Farbe annehmen müssen. So, wie sie jetzt waren schmeckten sie bitter. Als nächstes machte ich mich daran, die Buschbohnen zu pflücken. Ich hatte gerade fünf Bohnen gepflückt, da kam meine Frau dazwischen und meinte, sie könnten auch noch einige Tage hängen bleiben. Daraufhin zog ich weiter zu unserem zweiten Kartoffelturm und holte einige schöne große, dicke Kartoffeln aus der Erde heraus. Ich hatte mich an einer Seite bis zum Erdboden durchgearbeitet, da kreuzte nochmals meine Frau auf. Es seien Spätkartoffeln, meinte sie, und ich hätte noch einige Wochen mit der Ernte warten können. Weil die Zeit fortgeschritten war und meine Frau dabei war, das Abendessen zuzubereiten, ging ich nach drinnen. Es war ein frustrierender Nachmittag im Garten.

8. August 2021
Der Katharinenhof in Bad Godesberg, ein hübsches Anwesen. Wie oft war ich dort mit dem Rennrad vorbei gefahren ? Mächtig steil ging es den Berg hinauf, am Übergang vom Godesberger Stadtgebiet in den Kottenforst flachte die Steigung ab, bevor sich das Waldgebiet des Kottenforstes mit seinem Radwegenetz wunderschön durch radeln ließ. Stets war ich mental zu sehr mit dem Anstieg beschäftigt, um das Hinweisschild zum Katharinenhof wahrzunehmen. Heute war es dann soweit: wir hatten Karten für Konrad Beikircher, dem der Katharinenhof gehörte, und zu fünft bogen wir ab in den schmalen Waldweg, von dem aus über die Buchenhecke hinweg die ersten Skulpturen zu erkennen waren. Wir schritten vorbei an dem Haupttor zu dem Innenhof, der nicht überdacht war und wo Stühle standen, so dass die paar Regenschauer uns nass werden ließen. Es war ein großer Auftritt von Konrad Beikircher, der mit seinen 76 Jahren so viel aus sich heraus holte, dass sein tiefsinniger und mit historischem Fachwissen durchsetzter Humor uns aufs Neue begeisterte. Wir erlebten Konrad Beikircher zum dritten Mal, und diesmal dozierte er über das Thema „Kirche, Pest und andere Seuchen“. Die Liste der Seuchen in der Geschichte ist lang, so dass man Corona über einen Zeitraum von mehreren Jahrhunderten beinahe vernachlässigen könnte. Am bekanntesten ist die Pest, die im Mittelalter die Bevölkerung Europas auf bis zu 60% schrumpfen ließ. Es waren aber auch andere Seuchen, die die Menschen hinweg rafften. Lepra hatte sich im Mittelalter weit verbreitet, wobei die Menschen den Aussatz als Folge von Sünden betrachteten. Leprosenheime wurden vor den Toren der Stadt erbaut, so in Köln das Leprosenheim Melaten, das auf dem heutigen Friedhof mit demselben Namen liegt. An Lepra Erkrankte durften vor dem Dom betteln, das war ein Privileg. Noch bis in das 20. Jahrhundert trieben große Epidemien ihr Unwesen, was durch schlechte hygienische Verhältnisse gefördert wurde. Tuberkulose, Schwindsucht und Ruhr gab es bis in das 20. Jahrhundert hinein. 1920 wütete die Ruhr in St. Petersburg, 1892 brach eine große Choleraepidemie in Hamburg aus. Es gab einen direkten Zusammenhang zwischen dem Ausbau der Kanalisation und dem Ausbruch dieser Epidemien. Selbst der Bau von Toiletten nach heutigem Verständnis setzte sich nur sehr zögernd durch. Dabei kannten bereits die Römer Toiletten. So findet man etwa im römischen Colosseum Toiletten. In einem Abort war in der Mitte ein Pott eingelassen, wo man sich einst mit einem Stöckchen und einem Schwämmchen mit Essig den Allerwertesten abputzen konnte. Unter der Überschrift „Kirchen, Pest und andere Seuchen“ schimpfte er sodann fleißig über die Kirche. Allen voran ritt er auf dem Kölner Erzbischof Woelki herum, auf den Mißbrauchsvorwürfen innerhalb des Erzbistums und auf der Behäbigkeit, an der Aufklärung beizutragen. Es war nicht das erste Mal, dass sein Verhältnis zur Kirche gestört war, was sich bisweilen auch in anderen Ausführungen zur Kirche nieder schlug. Mit seinen 76 Jahren glänzte Konrad Beikircher vor dem Rednermikrofon. Er brachte es sogar so weit, über seinen eigenen Tod zu philosophieren. Er kränkele zwar, aber mit seinem Willen müsse sich die Menschheit bitte doch gedulden. In seiner Verwandtschaft hätten alle ein hohes Alter erreicht. Als wir den Katharinenhof verließen, war ich tief beeindruckt von all seiner Weisheit, die ein Konrad Beikircher in sich verkörperte.

9. August 2021
In diesen Tagen fügt sich einiges zusammen, was über Corona verloren gegangen ist. So hatte ich im Februar letzten Jahres Karten für Wilfried Schmickler im Kölner Senftöpfchen bestellt, dessen Auftritt wegen Corona sich auf dieses Jahr verschoben hatte. Dazu erhielt ich im Juli letzten Jahres einen Anruf einer Mitarbeiterin des Senftöpfchen-Theaters auf meinem Handy, die anfragte, ob mir die Verschiebung auf den 27. August diesen Jahres Recht sei. Ich bejahte, notierte mir aber nicht das Datum, weil wir gerade im C&A unterwegs waren. Ich bekam auch noch eine Mail zu dieser Verschiebung, aber ohne Datum, als Gutschein für eine spätere Verrechnung. Als ich zuletzt in der Mittagspause in der Innenstadt unterwegs war, fiel mir ein Flyer in die Hände mit den Veranstaltungen des Kölner Senftöpfchen-Theaters. Darauf las ich nach, dass Wilfried Schmickler am 26. und 27. August 2021 dort auftrat. Ich erinnerte mich an den Anruf, bekam aber das Datum 27. August nicht mehr auf die Reihe. Corona hatte alles durcheinander geschmissen, und die Terminplanung von Theatern erschien mir wie das blanke Chaos, wenn ständig etwas angesetzt war und dann wieder ausfiel. Ich kramte die E-Mail aus dem letzten Jahr heraus mit dem Gutschein, aber ohne Datum. So schrieb ich eine E-Mail an das Senftöpfchen-Theater, das ab dem 1. August erst wieder telefonisch erreichbar war. Pünktlich zum 1. August erhielt ich eine E-Mail, dass wir mit vier Karten für den 27. August vorgemerkt waren und dass ich die Karten in Köln noch abholen müsse. Dies werde ich gerne tun und wir freuen uns auf Wilfried Schmickler im Senftöpfchen-Theater.

10. August 2021
Beim Gespräch mit der Psychotherapeutin stellte ich fest, wie wenig ich über die Kindheit unserer Kinder wusste. Meine Frau und ich, wir waren beide von der Psychotherapeutin unserer Tochter zum Gespräch eingeladen worden. Um uns kennen zu lernen, sollten wir bei „Adam und Eva“ anfangen, so formulierte es die Psychotherapeutin, die sich in ihrem Stuhl zurück lehnte und ihre bestrumpften Füße auf einen Hocker ablegte. „Adam und Eva“, damit meinte sie unsere Geburtsdaten, unsere Hochzeit, die Geburtsdaten unserer Kinder und ihre Kindheit, worüber wir erzählen sollten. Konzentriert und chronologisch zählte meine Frau wichtige Ereignisse und typische Gegebenheiten auf, und ich war über mich selbst entsetzt, wie wenig von diesen Erzählungen in meiner Erinnerung verblieben war. Kindergarten und Schulzeit, Eckdaten von Beginn und Ende, Kindergeburtstage: daran erinnerte ich mich, der Rest verschwamm, ich erinnerte mich gar nicht oder undeutlich. Vieles dürfte in meiner Abwesenheit, wenn ich etwa im Büro war, geschehen sein. So erzählte meine Frau von unserer großen Tochter, wie schnell sie sich entwickelt hatte. Als sie nicht einmal ein Jahr alt war, fragte sie die Kinderärztin vor Weihnachten, was sie sich so wünschte. Sie antwortete, dass sie in den Kindergarten gehen wollte. Sie entwickelte sich so schnell, dass sie in der Schule ein Überflieger war. Auf dem Gymnasium hatte sie ganz viele Einsen auf dem Zeugnis, nur in Religion stand die Vier. Meine Frau fragte bei der Religionslehrerin, einer Referendarin, nach. Ihr Heft sei tadellos, aber sie beteilige sich zu wenig am Unterricht. Dies alles hatte ich in der Kindheit unserer älteren Tochter nicht mitbekommen. Erinnerungslücken gab es ebenso bei unserer jüngeren Tochter. In ihrer Entwicklung war sie mehr oder weniger normal. Im Mäusetreff, einer Art von Vor-Kindergarten, den sie im Alter von zwei Jahren besucht hatte, war sie eigenwillig, was bis heute eine durchgängige Charaktereigenschaft war. Als die Kinder in den Sandkasten gingen, zog sie ihre Socken aus und folgte später in den Sandkasten. Im Kindergarten fand sie in ihrer Gruppe kaum Anschluss. Drei Jungs zankten sie immer wieder, und unter den Mädchen war nur eines, mit der sie sich traf und spielte. So war sie im Kindergarten fixiert auf dieses eine Mädchen. Um die drei Jungs zu beeindrucken, ließ meine Frau unsere Tochter einmal von ihrem Bruder abholen. Im Kindergarten hatte sie des öfteren von ihrem großen Bruder erzählt. Anscheinend glaubten die drei Jungs nicht, dass sie einen großen, um elf Jahre älteren Bruder hatte. Als er sie abholte, staunten sie und waren sprachlos, wie groß er war. Bei unserer kleinen Tochter gerieten wir in dieses Verwirrspiel von Frühförderung und Ergotherapie hinein. In der Ergotherapie, wohin ich sie einige Mal in den Bonner Talweg fuhr, sollte das gemeinsame Spielen in einer Gruppe von Jungen und Mädchen gefördert werden. An diesem gemeinsamen Spielen beteiligte sie sich nur mäßig, bis irgendwann die Ergotherapeutin schwanger wurde und die Ergotherapie nicht fortgesetzt wurde. Zum Schluss mussten wir unsere Erzählungen abbrechen, weil der Termin bei der Psychotherapeutin auf eine Stunde begrenzt war. Meine Frau hatte bis zum sechsten Schuljahr unserer jüngeren Tochter in der Realschule erzählt, und es gelang uns nicht, im Zeitraffer und im Schnelldurchlauf die Ereignisse mit den beiden Aufenthalten in der LVR-Klinik und während der letzten Schuljahre zu erzählen. Einstweilen musste ich erst einmal Formulare bei der Krankenkasse wegen der psychotherapeutischen Behandlung anfordern.

11. August 2021
Was für ein Papierkrieg. Mit dem Amtsgericht haben wir regelmäßig die Erfahrung gemacht, dass Vorschriften Papier in Hülle und Fülle produzieren und dass man bis ins Detail und haargenau vorgegeben bekommt, was man wie zu machen hat. Je genauer, um so besser. Die Selbstbefriedigung des Amtsgerichts besteht darin, sich an den Stapeln von Papier zu ergötzen, diese zu liebkosen und in Aktenschränken verstauben zu lassen. Das Eigenleben des Betreuungsgerichtes ist erstaunlich, welche Befugnisse sie haben und was sie einem abverlangen. So muss meine Frau einmal im Jahr eine Buchführung für meinen Schwager aufstellen, welche Einnahmen er hat und was er dafür ausgegeben hat. Größere Ausgaben, wobei ich nicht weiß, wo die Grenze liegt, bedürfen der Zustimmung des Amtsgerichtes. Gestern hatte meine Frau den ganzen Tag mit der Auflistung für meinen Schwager zu tun. Die Einzelpositionen sollen möglichst genau aufgelistet und bezeichnet werden, damit nicht irgendwelche Luxusgüter gekauft worden sind, die seine Einkünfte verschwendet haben. Lebensmittel, Körperpflege, Anziehsachen, aber auch Essen gehen, Karl-May-Festspiele, Café-Besuche oder Eisessen. Das war mühselig, all diesen Kleinkram für einen Zeitraum von einem Jahr aufzulisten. Ganze drei Seiten haben sich mit Excel-Tabellen gefüllt. Schlimm ist an der Sache: die Mitarbeiter des Amtsgerichtes ticken gar nicht in Excel, sondern in Formularen. Ein Formular gibt vor, welche Struktur die Tabellen haben sollen: Positionsnummer, Datum, Betrag, an wen gezahlt usw. Die Mitarbeiter des Amtsgerichtes kennen wahrscheinlich kein Excel und haben dieses Programm womöglich gar nicht auf ihrem Rechner. Das ist uns dann doch zu viel bürokratischer Unsinn, die drei Seiten Excel abzuschreiben und in das Formular zu übertragen. Wir werden die Einnahmen-Ausgaben-Buchführung einfach dem Vorblatt beifügen und den Papierstapel in dieser Form an das Amtsgericht schicken. Dann können sich die Kollegen an dem Zahlenwerk befriedigen und gegebenenfalls dumme Fragen stellen, wenn sie es wollen.

12. August 2021
Ein kleiner Ausflug in der Mittagspause in die Café-Welten von Königswinter. Als ich im letzten Sommer mit unserer Tochter den Drachenfels bestiegen hatte, war mir hinter dem Bahnübergang ein Café aufgefallen, das sich „Kaufmannsladen“ nannte. Als ich heute den Kaufmannsladen betrat, entsprach das Innere tatsächlich der Namensgebung. Die Einrichtung war hergerichtet wie ein alter Tante-Emma-Laden. In die alten Schütten konnte man Reis, Mehl, Paniermehl, Haferflocken, Gerste, Korinthen, Hafermehl und vieles mehr einfüllen, alte Dosen standen auf dem obersten Regal. Ob all die Einrichtungsgegenstände von der Export-Firma Du Bois-Mertens aus Oudegem in Belgien stammten, was das Schild über dem Hochschrank vermuten ließ, das glaubte ich nicht so ganz. Der Nachbarraum beherbergte einen Buchladen, aber man konnte auch essen in dem Kaufmannsladen. Mich draußen an einen Tisch hinzusetzen, das war mir angesichts der Baustelle vor dem leerstehenden Bistrot Europa zu abweisend, außerdem war die aufgerissene Straße mit Erdreich zugeschüttet. Drinnen wirkte die alte Kaufmannsladens-Atmosphäre hingegen heimelig und schön. Die Speisekarte orientierte sich an den Ländern, aus denen die Touristen auf den Drachenfels marschierten. Die Schweizer aßen gerne Müsli mit Früchten, die Belgier mochten es gerne herzhaft mit Croissant, Brötchen und Brioche. Die Italiener bevorzugten Panini mit Schinken, Tomaten Mozzarella und Rucola, während die Franzosen auf ihre Quiche mit Brokkoli, Feta, Oliven und Zwiebeln schworen. Ich vermisste allerdings eine wichtige Nation der Drachenfelsbezwinger, das waren die Niederländer. Ohne Stimmen der Niederländer schloss ich mich den Franzosen an und aß eine Quiche. Obschon Oliven nicht unbedingt mein Ding waren, war sie hervorragend, sehr lecker und sättigte großartig. Diese Café-Idee faszinierte mich, Gastronomie und Laden miteinander zu verbinden.

13. August 2021
Königswinter, ein Städtchen, das nicht unbedingt so aussieht, als läge der Ursprung im Mittelalter. Klar, weithin sieht man das, wofür Königswinter bekannt ist: das ist der Drachenfels, dessen Erbauungsjahr 1149 eineindeutig dem Mittelalter zuzuordnen ist. Danach tut man sich aber schwer, Zeugnisse aus dem Mittelalter zu entdecken. Die sollten sich eigentlich finden lassen, da in einer Urkunde aus dem Jahr 1015 ein Ort namens „Winetre“ genannt wird, als der römisch-deutsche Kaiser Heinrich II. einem Grafen im Auelgau einen Gutshof geschenkt hatte. Mehrere Jahrhunderte später, im Jahr 1342, erscheint in einer anderen Urkunde der Ortsname „Kuoningwinteren“. Außerhalb des Drachenfelses muss man suchen nach diesen Resten und Überresten. Eines ist der Tomberger Hof aus dem 15. Jahrhundert auf der Tomberger Straße. Ein anderes Überbleibsel ist die Gaststätte „Im Tubak“ in der Fußgängerzone, die 1689 nach der Brandschatzung französischer Truppen neu aufgebaut worden war. Von der Stadtmauer, die existiert hat, ist nichts übrig geblieben, ebenso nichts von den Stadttoren. Die romanische Kirche wurde abgerissen und durch einen klassizistischen Kirchenbau ersetzt, das ist die Pfarrkirche St. Remigius, so wie man sie heute vorfindet. Das Schloss Drachenburg ist sowieso viel jünger, als man denkt. So muss man sich Hinweistafeln bedienen, um auf die Sachen aus dem Mittelalter hinzuweisen, wovon null und gar nichts übrig geblieben ist. Vieles muss man sich zusammendenken. Wo eines der vier Stadttore stand, daran erinnert nun eine Bronzetafel im Asphalt. Im Jahr 1843 wurde das letzte Stadttor abgerissen. Wo einst die Stadtmauer gestanden hat, das bleibt der Phantasie überlassen. Nicht einmal ein Modell veranschaulicht dies.

14. August 2021
Am Supermarkt in der Nähe traf ich einen Freund, mit dem ich früher ein paar Mal mit dem Rennrad gemeinsam durch die Wahner Heide gefahren war. Als ich mein Fahrrad abgestellt hatte, quasselten wir miteinander. Ob das mit Corona alles seine Richtigkeit habe. Home Office fand er scheußlich, während ich mittlerweile entspannt damit umgehen konnte. Er war im Vertrieb einer Firma tätig, die Aufzüge baute. In den Büros durften nur 3 Mitarbeiter auf 30 Quadratmeter arbeiten, so dass die meisten Kollegen von zu Hause aus arbeiteten. Bis in den September hinein hatte seine Firma eine Home Office-Empfehlung ausgesprochen. Zumeist arbeitete er mit anderen zusammen in Projekten, und immer dann, wenn er seine Mitarbeiter dringend brauchte, waren diese nicht erreichbar. Gestern hatte er seine zweite Impfung erhalten, seine Frau wartete noch auf die zweite Impfung, indes stiegen die Inzidenzzahlen deutlich an. Wie bei vorangegangenen Wellen der Pandemie, fehlte es an einer klaren Kommunikation, wer sich wann und wo bei welcher Gelegenheit angesteckt hatte. Darunter, wer sich infiziert hatte, obschon er geimpft war. Das konnte all die Konzeptionen einer 3G-Strategie zum Kippen bringen, wenn behauptet wurde, dass von Geimpften keine Gefahr ausgehe. Die Zahlen mussten vorliegen, aber niemand kommunizierte sie. Zu tief steckte das Misstrauen, dass die Interpretation des Zahlenwerks beim Staat und seinen Experten lag und dass sich das Zahlenwerk gegen die Bevölkerung gewendet hatte. Schließlich trennten wir uns, ich erledigte meine Einkäufe und kehrte nach Hause zurück. Dort rechnete ich nach, was die Zahlen im Internet hergaben. Ich setzte die Anzahl der Impfdurchbrüche, die ich im Internet fand, in das Verhältnis zu der Anzahl der Geimpften. Ich kam auf eine verschwindend niedrige Prozentzahl von 0,001591%, das waren die Menschen, die sich trotz Impfung infiziert hatten. Das beruhigte erst einmal.

15. August 2021
Zuletzt diskutierten wir am Arbeitsplatz, wer wann wohin in Urlaub gefahren war. An diesem Gespräch konnte ich kaum teilnehmen, da wir zum einen in den Sommerferien nicht in Urlaub gefahren waren und ich zum anderen ein Verfechter war von Ausflugszielen in der näheren (oder auch etwas weiteren) Umgebung. Dabei sind unsere Ideen reichlich unkonventionell. So hatten wir uns zuletzt mit Freunden Duisburg angeschaut. Andere dürften diese Idee für höchst ungewöhnlich halten, da Duisburg in ganz Deutschland wegen der No-Go-Areas im Stadtteil Marxloh verschrien ist. Den abweisenden Charakter von Duisburg fasste die Schweizer Kabarettistin Hazel Brugger in der Heute-Show in dem Satz zusammen: „Das schöne an Duisburg ist, dass man schnell wieder raus ist.“ Unser Besuch von Duisburg hinterließ komplett andere Eindrücke. Zuerst besichtigten wir den Landschaftspark Duisburg-Nord, das war die Industrieruine eines Stahlwerkes, in dem bis 1986 noch Stahl hergestellt wurde. Im Rahmen der Führung musste ich beim Besteigen des Hochofens 5 allerdings auf halber Höhe kapitulieren, da ich nicht schwindelfrei war. Danach fuhren wir in den Innenhafen und nahmen an einer Hafenrundfahrt teil. Die Zwischenzeit nutzten wir, um uns das anzuschauen, was von der historischen Substanz der mittelalterlichen Stadt übrig geblieben war: das waren die Stadtmauer, die zu einem überraschend großen Teil erhalten war, der Rathausplatz mit seinen Ausgrabungen aus der fränkischen Epoche, das Rathaus und die Salvatorkirche. Das Dreigiebelhaus und die Karmelkirche hatten nicht auf unserer Wegstrecke gelegen. Nach der Hafenrundfahrt aßen wir im König Pilsener-Wirtshaus am Innenhafen, dabei beeindruckten all die Speicher-, Lager- und Umschlaggebäude am Innenhafen, die eine neue Funktion erhalten hatten und im hinteren Abschnitt das historische Bild des alten Duisburger Hafens gewahrt hatten. Es war ein rundum schöner Tag in Duisburg, der gezeigt hatte, dass Ruhrgebietsstädte ihren eigenen, schönen Charme haben können.

16. August 2021
Die Haufenrundfahrt durch den Duisburger Hafen erzeugte einen gewissen Gesinnungswandel, was fest verwurzelte Einstellungen betraf. Die chemische Industrie hatte ich, so lange sie ins Blickfeld der Wahrnehmung gerückt war, als dubios, hinter Formeln verschlüsselt, für Außenstehende nicht einsehbar, behaftet mit Schadstoffen und der Gefahr von Chemieunfällen wahrgenommen. Eine unangenehme Industrie, die niemand vor der eigenen Haustüre haben wollte. Eine Industrie, die häßlich, entstellt und unmenschlich aussah. Bei der Hafenrundfahrt sah ich das etwas anders. Chemische Industriebetriebe folgten den Waren, die über den Rhein angeliefert wurden, dabei eignete sich der Rhein besonders für die Anlieferung chemischer Rohstoffe in großen Mengen, was ansonsten stückweise über LKWs und verstopften Autobahnen transportiert werden musste. Am Ende der Verarbeitungskette wurden chemische Produkte vom Verbraucher auch abgenommen: Kunststoffe ersetzten bei unterschiedlichsten Werkstoffen Holz oder Metall. Die Sinnfrage entbrannte allenfalls beim Plastikmüll oder Mikroplastik, die Fragestellung unnützer Verpackungen abstrahierte ich freilich bei der Hafenrundfahrt. So gehörten Chemiefabriken notwendigerweise dazu, um Produkte des Alltags herzustellen, Lego-Steine, Rührschüsseln, Wasserkocher, Gartenmöbel und vieles mehr. Die ablehnende Haltung zerbröselte, das monstermäßige Aussehen der chemischen Anlagen wich einer Akzeptanz. Man vertraute darauf, dass die Abgase gründlich gereinigt waren und keinen Schaden anrichteten. Die negative und destruktive Sicht verwandelte sich ins Positive.

17. August 2021
Die morgendliche Tasse Kaffee als der Versuch, aus dem Gedankenkäfig heraus zu kommen. Zwischen all den Zahlen fühle ich mich gefangen, die Fülle zu durchdringen. Das Gesamtkonstrukt muss in sich stimmig sein, ein ganzes System von Quervergleichen und Augenintegralen habe ich angelegt. Um die ganzen Verknüpfungen von Quelle zu Quelle zurück zu verfolgen, bin ich gestern wahnsinnig geworden. Es war stets eine Zahl dabei, die nicht stimmte. Aber wie sollte ich sie korrigieren ? All die ganzen Zahlenwelten blockieren. Sie belagern die Gehirnzellen, die für nichts anderes mehr aufnahmefähig sind. Abgestumpft und ohne Inspiration gleitet die Umgebung vorbei, es fehlt der Blick für Nebensächlichkeiten, die gleichzeitig die wichtigeren Dinge verkörpern. Die morgendliche Tasse Kaffee soll nun helfen, aus diesem Hamsterrad heraus zu kommen. Der Versuch, all die ganzen Zahlenwelten aus meinem Kopf zu verscheuchen. Meistens funktioniert dies, weil eine dampfende Tasse Kaffee an andersartigen Eckpunkten auf meinem Gemüt ruht. Ein wenig finde ich zu Entspannung und innerer Ruhe zurück.

18. August 2021
Gestern Treffen mit einem früheren Arbeitskollegen von der Deutschen Post. Wir trafen uns in Troisdorf, da die Züge wegen S-Bahn-Bauarbeiten von Mönchengladbach nur bis Troisdorf fuhren. Bei seiner Frau war Darmkrebs diagnostiziert worden, so dass sie rund vier Monate lang mit einer Chemotherapie behandelt worden war. Mittlerweile ging es ihr wieder besser, so dass sie rund vierzig Kilometer Fahrrad fahren konnte. Ein Handicap war, dass ihr ein Stück des Darms entfernt worden war. Wegen des kürzeren Verdauungstraktes konnte es passieren, dass der Stuhlgang plötzlich bis sehr plötzlich kam. Einmal gelang es nur mit sehr großer Mühe, nach einem Essen in einem Restaurant den Stuhlgang während der Autofahrt so zu unterdrücken, bis sie zu Hause angekommen waren. Daher verließ sie das Haus nur dann, wenn sie vorher Stuhlgang gehabt hatte. Wenn sie unterwegs waren, vermied sie es, etwas zu essen. Beide zusammen waren somit deutlich weniger unterwegs als vor der OP. Im Herbst hatten sie eine Kur in Wyk auf Föhr geplant. In der nächsten Woche wollte sie zu ihrer Tochter nach Mallorca fliegen, die dort mit ihrem Mann ein Ferienhaus besaß. In dem Ferienhaus sollte der 16. Geburtstag seiner Stief-Enkelin gefeiert werden. Sie lernte gerne und viel, sie wollte nach ihrem Abitur auf eine Botschafts-Schule gehen und danach Botschafterin werden. Da ihm der Freundeskreis seiner Stief-Tochter zu versnobt war, da ihm der Freundeskreis zu sehr von Reichtum und Luxus redete, blieb er lieber zu Hause. Dort hatte er sich vielfältige Aktivitäten und Besichtigungen vorgenommen. Er erzählte von früheren Aktivitäten, deren Schnittmenge mit meinen Interessen sehr hoch war. Er mochte es, Ziele in der näheren Umgebung zu besichtigen. Er erzählte vom Wipperkotten, von Wuppertal, von einer Schwebefähre, von seinem Interesse an Schiffshebewerken in Kanälen. Auf flachen Etappen fuhr er gerne mit dem Fahrrad, dabei orientierte sich an den Bahnlinien. Er nahm sein Fahrrad im Gepäckwagen mit, dann radelte er bis zur Endstation und fuhr von dort aus nach Hause zurück. Aktuell hatte er eine Route durch das Münsterland im Visier, von Lüdinghausen aus ein paar Wasserschlösser besichtigen und von Münster ohne Umsteigen nach Mönchengladbach zurück. Mein früherer Arbeitskollege war auch in den Niederlanden gewesen, wo es ihn nach Dordrecht verschlagen hatte. Einmal im Jahr fand dort ein Dampffestival statt, mit Raddampfern und Dampflokomotiven. Bei dieser Gelegenheit hatte er an einer Bootsfahrt durch den Biesbosch teilgenommen, das war ein Naturschutzgebiet in der Struktur eines Flussdeltas innerhalb des sich verzweigten Rheins. Dordrecht, das war ein weites Stück in die Niederlande hinein. Noch weiter war er vor einigen Jahren nach Südfrankreich gereist. Es besaß einen Bootsführerschein und mit einem Motorboot waren sie die Kanäle entlang gefahren. Er nannte mir Städte, die mir von längst entlegenen Radtouren bekannt vorkamen: Sète, Agde, Beziers, aber auch Toulouse und Carcassonne auf dem Canal du Midi, wo ich nicht mit dem Fahrrad herum gekurvt war. Auf dem Kanal vom Elsass nach Lothringen waren sie ebenso unterwegs gewesen, wo sie das merkwürdige Erlebnis hatten, dass am Kanal von Saverne bis Sarreguemines kein Ort lag, wo sie in einem Supermarkt einkaufen konnten. Auf ihrem Boot mussten sie sich verpflegen. Wir kamen auch auf das Saarland zu sprechen. Wir hatten Freunde in Saarbrücken, bei denen wir mehrere Jahre vor uns herschoben, sie zu besuchen. Natürlich war zuletzt Corona dazwischen gekommen. Wir hatten einmal die Idee gehabt, die Völklinger Hütte zu besichtigen. Dort hatte mein früherer Arbeitskollege erlebt, dass er während einer Radtour entlang der Saar mit dem Taxi von Saarlouis nach Völklingen gefahren werden musste, das waren fünfzehn Kilometer. Nach der Völklinger Hütte befragt, die immerhin Weltkulturerbe ist, kannte der Taxifahrer die Völklinger Hütte gar nicht und er wusste sie auch nicht zu verorten. Das Navi führte schließlich zum Ziel. Wie gewohnt, ging es bei seinem Familienanhang ziemlich kunterbunt durcheinander. Seine Ex-Frau hatte wieder geheiratet und wohnte in Schleiden. Zum Glück 500 Meter hoch auf dem Berg, denn im Tal hatte das Hochwasser zuletzt schrecklich gewütet. Als seine Tochter in MG-Rheydt ihren 30. Geburtstag etwas größer gefeiert hatte, war er seiner Ex-Frau samt neuem Ehemann begegnet. Man erzählte sich das Notwendigste, auf möglichst flachem Niveau, zum Ehemann hatte er eine größtmögliche Distanz gepflegt. Seine Ex-Frau hatte jede Menge Geschwister, die alle auf demselbem Fleck nicht unweit von Jülich wohnten, wo sein Ex-Schwiegervater mehrere Häuser nebeneinander für seine große Familie gebaut hatte. Solange er dort gewohnt hatte, empfand er es als stark einengend, weil die Sippschaft der Familie sich quasi mit einer Mauer umgeben hatte, nichts von außen an sich heran zu lassen. Ein Schwager war nach Thüringen weggezogen, sein Schwiegervater war verstorben, und sonst hatte sich dort wenig verändert. Nun war er von einem Neffen zu seiner Hochzeit eingeladen, wo er auch gerne hingehen würde. Aus der Familie seiner Lebensgefährtin besaß die eine Tochter mit ihrem Mann ein Ferienhaus auf Mallorca, die andere Tochter hatte zuletzt ihren Job gewechselt zu einer Firma namens DKV, bei der es sich nicht um die Deutsche Krankenversicherung handelte, sondern um eine Firma, die Kreditkarten und Kundenkarten vertrieb. Diese Firma ging sehr freizügig mit Home Office um, die Tochter musste nur selten Präsenz in der Firma zeigen und es war so ziemlich egal, von wo aus sie arbeitete. So konnte es auch vorkommen, dass sie sich bei ihnen zu Hause einquartierte und von dort aus im Home Office arbeitete. Und dann hatte er zuletzt von einem wesentlichen Hobby Abschied genommen. So ungefähr sein ganzes Leben lang war er gerne Motorrad gefahren. 30 Jahre lang war sein Motorrad nun alt, es stand nur noch in der Garage herum, mehrere Jahre war er keine Tour mehr gefahren, weil zu Fuß, mit der Bahn und dem Fahrrad unterwegs war. Er hatte sich entschlossen, es über Ebay-Kleinanzeigen zu verkaufen. Der Käufer kam aus dem Salmtal, das war ein Seitental der Mosel, und er erwarb das Motorrad trotz einer Angst, er könne dadurch eine Ehekrise auslösen. Als wir uns gegen 21 Uhr am Troisdorfer Bahnhof trennten, hatte er noch eine abendliche Beschäftigung vor sich. In einer der Häuser seiner Lebensgefährtin musste er die Mülltonnen an die Straße stellen, weil der Hausmeister sich verletzt hatte. Der Hausmeister hatte in der Nacht, als er schlief, einen Alptraum geträumt. Dieser war so heftig gewesen, dass er aus dem Bett gefallen war seitlich auf die Hüfte, die er sich verstaucht hatte. Die Prellung war so schlimm gewesen, dass er im Krankenhaus gelegen hatte. Derweil hatte ich das Vorderlicht an meinem Rennrad montiert, damit ich bei der einbrechenden Dunkelheit sicher durch die Felder nach Hause gelangen würde.

19. August 2021
Unter den Bahngleisen sah alles so viel anders aus. Um nach Hause zu gelangen, musste ich mit dem Rennrad durch die Fußgängerunterführung des Troisdorfer Bahnhofs, und dieser war seit eh und je zum Objekt von Malereien und Kunst geworden. Waren es bislang dicke Bäuche und lange Striche, die man mit Strichcodes und Überwachung assoziieren konnte, so waren es nun großflächige Fotografien. Nun sollte nicht mehr die Kunst die Denkprozesse anregen, sondern das Heimatgefühl sollte belebt werden. Allesamt waren es großflächige Fotos aus Troisdorf und dessen Stadtteilen. Fotos, die von schönen Orten gemacht worden waren. Fotos, die zeigten, dass Troisdorf nicht nur eine Industriestadt war, die einst jede Menge mit der Verhüttung, mit der Eisenverarbeitung und mit Sprengstoffen zu tun gehabt hatte. Die großflächigen Fotos zeigten ausnahmslos die schönen Seiten von Troisdorf, von denen es so einige gab. Die Siegaue, Wasserburgen und die Wahner Heide. Gerade das letztere Naturschutzgebiet hatte ich während des Lockdowns an unterschiedlichen Stellen erkundet, und ich war begeistert. Die blühende Heide, die ich so noch nicht gesehen hatte, zierten gleich mehrere Abschnitte der Bahnunterführung. Über die ganze Unterführung hinweg war Troisdorf so grün, so bunt, so schön, wie man es kaum vorfand, wenn man einmal quer durch die Stadt kurvte. Aber geografisch lag Troisdorf an einem Übergang von der Kölner Bucht in die Bergische Heideterrasse, durchflossen von Sieg und Agger, so dass die Topografie wahrhaft abwechslungsreich war. Im Detail gaben die Fotos genau die Abwechslung wieder.

20. August 2021
Am nächsten Morgen hatte ich einen Friseurtermin, und die Friseuse meinte, sie besäße nicht die Ausdauer, dem Kabarettisten Christoph Brüske lange zuzuhören. Sie müsse sich zu sehr konzentrieren, der Christoph verlöre sich bisweilen zu sehr in Details, die Verästelungen seien ihr zu kompliziert und er sei zu langatmig. Den Laachovend hätte sie auf dem Dorf – oder was noch von den dörflichen Strukturen übrig geblieben ist - kennt man sich. Seine Mutter, die regelmäßig bei seinen Auftritten anwesend war, war ihr Kunde. Noch in den letzten Tagen hatte sie sich in ihrem Friseursalon aufhübschen lassen. Ihr Sohn, der Kabarettist, war nicht ihr Kunde, aber man kannte sich. Wie er denn nach der langen Corona-Zwangspause drauf gewesen sei, danach erkundigte sie sich. Es habe nur so aus ihm heraus gesprudelt, antwortete ich ihr. Die Zwangspause hätte man gemerkt, denn er sei breit gefächert gewesen in seinem Programm „Willkommen in der Rettungsgasse“. Die Pointen seien gut gesetzt gewesen, er habe viel gesungen und das Publikum hätte viel gelacht. Naturgemäß lästerte er über Corona, das seine Existenz bedroht habe. Auf ganz neue, ungewöhnliche Ideen sei er gekommen. Er habe Bügeln gelernt, und dabei eine gewisse Leidenschaft entwickelt, was er in einem Lied ausdrückte. Corona drückte er erneut in einem Lied aus, welches er der Berufsgruppe der Apotheker widmete, weil die Schnelltests eine Goldgrube sein konnten. Es war aber nicht nur das Ventil von Corona, er zeigte Plakate der politischen Parteien zum Bundestagswahlkampf, dabei legte er seine Position klar fest, dass er SPD-Mitglied sei. Aber in dem politischen Reigentanz bekamen alle ihr Fettnäpfchen weg, so auch Olaf Scholz. Die Themen verwischten sich, und Christoph Brüske sprang. Persönlich hatte er eine Ehescheidung durchleben müssen, und so war er bei Paarship gelandet und berichtete über seine Erfahrungen, um eine neue Partnerin kennen zu lernen. Er erzählte den Witz, dass er mit einer Partnerin auf einem Ballon flog, der abzustürzen drohte. Auf dem Erdboden beobachtete dies ein Jurist. Er rief hinüber: Sie fliegen auf einem Ballon. Dieser neigt sich zum Erdboden. Wir wissen nicht, wohin er fliegt, so dass wir nichts veranlassen können. Das war es. Juristen halten sich heraus, Verantwortung zu übernehmen und mit anzupacken. Der Abend mit Christoph Brüske war unterhaltsam und schön, vielseitig und lustig, so dass wir uns vor Lachen krümmten. Anders als bei meiner Friseuse, war unsere Aufmerksamkeit geschärft. Es war ein schöner Abend, mit einem Kabarettisten, der genau aus unserem Ort stammte und gegenüber derjenigen Bäckerei wohnte, wo wir regelmäßig unsere Brötchen kauften.

21. August 2021
Weil es vieles nachzuholen gab nach den Monaten des Lockdowns, knubbelten sich die Termine allzu sehr. Am Samstagabend war ein solcher Termin, an dem Zuschauer zu einer Fernsehaufzeichnung von Oliver Geissens ultimativer Chart-Show wieder zugelassen waren. Zwei Karten hatten wir für den Mai des letzten Jahres gehabt, wegen Corona war die Fernsehaufzeichnung in den MMC-Studios in Köln-Ossendorf ausgefallen, dann auf den Herbst verschoben worden, dann wieder ausgefallen, und nun fand die Aufzeichnung endgültig statt. Das Fernsehstudio war einige Nummern kleiner geraten als bei früheren Aufzeichnungen, die Plätze waren nummeriert und den personalisierten Tickets zugeordnet. Das Publikum trug Masken, die der Veranstalter in gelben, grünen und orangen Farben zur Verfügung gestellt hatte, und auf den Plätzen saßen die Menschen dicht an dicht, ohne Abstand, nebeneinander. Stückweise war das Niveau der Sendung abgerutscht, wenngleich der Unterhaltungswert und das gemeinsame Erlebnis mit dem Schwager immer noch gut war. Das Thema waren die größten 25 Skandal-Hits aller Zeiten, getrennt nach Singles und LPs, worunter sich dann Interpreten wie die Sex Pistols, Marilyn Manson, Donna Summer, Jane Birkin oder sogar die Rolling Stones wieder, weil sich Fans nach einem Konzert in Hamburg geprügelt hatten. Sogar die Scorpions kamen vor, weil auf dem Cover von „Love Drive“ eine Hand mit einer klebrigen Masse nach einer Frauenbrust griff. Als Gäste waren der Travestit Olivia Jones dabei und ein hübsche junge Dame mit schulterlangen blonden Haaren, dessen Name ich nicht verstand. Die Live-Auftritte, wovon die Sendung so sehr atmete, pendelte zwischen Höhen und Tiefen auf und ab. Peter Maffay, der ein Stück aus seinem neuen Album sang und in den 1970er-Jahren mit seinem Hit „Es war Sommer“ wegen der Beziehung zwischen einem 31-jährigen und einer 16-jährigen einen Skandal produzierte, war ein Schwergewicht der Musikszene. Milli Vanilli, die zum Skandal geworden waren, gefiel mir ebenso. Die Musikgruppe war zum Skandal geworden, weil der Sänger nie gesungen hatte, sondern nur über Playback. Der wahre Sänger, der damals nur bei den Plattenaufnahmen gesungen hatte, stand nun leibhaftig auf der Bühne. Mittelmäßig bis nicht schlecht war eine Cover-Version von „Am Tag, als Conny Kramer starb“, elektronisch aufgemischt und fetzig daher gesungen von einer jungen Berliner Gruppe, bei der die Sängerin ihre Haare knallgrün gefärbt hatte. Das Publikum wurde mit einbezogen. Lutz van der Horst war in Köln unterwegs und stellte an zufällig ausgewählten Orten musikalische Quiz-Fragen. Er suchte eine Familie in ihrer Wohnung auf, begab sich in ein Box-Studio und er gesellte sich im Belgischen Viertel zu Kneipengästen, die draußen saßen. Sie bekamen einen Ausschnitt von Platten-Covern zu sehen und mussten raten, um was für eine Schallplatte es sich handelte. Dass er Live unterwegs war, bekamen wir mit, als es draußen vor der Kneipe stärker zu regnen begonnen hatte. Kurze Zeit später hörten wir den Regen auf das Dach des Fernsehstudios prasseln. Die Zuschauer durften raten. Abgeschaut hatte sich Oliver Geissen das Ratespiel vom härtesten Radioquiz der Welt bei WDR2. Nacheinander und zeitversetzt, wurden die Intros von Queens Bohemian Rhapsody, von Nirvana, von Cold Play und Blue Monday von New Order eingespielt, und die Zuschauer durften die Gemeinsamkeit dieser vier Musikstücke erraten. Welche Gemeinsamkeit die vier Stücke vereinte, das verstand ich schlichtweg nicht, weil der Applaus während des Telefongesprächs mit der Zuschauerin dermaßen laut war. Der Tiefpunkt der Sendung war der Auftritt eines Sängers, dessen Namen ich mir nicht merken konnte. Die Zuschauer sollten per Mail abstimmen, ob er ein Stück von Depeche Mode singen sollte, obschon er Depeche Mode verabscheute, ob er in einem beinahe nackten Outfit singen sollte oder ob er eine unglaublich scharfe Sorte Peperoni während des Gesangs essen sollte. Am Ende war das Abstimmungsergebnis unerheblich. Er zog sich aus und ein schmalstes Kleidungsstück an, das gerade seinen Penis bedeckte. Dann nahm er das Mikrofon in die Hand, er aß den Flammenwerfer von Peperoni und sang bruchstückhaft und verzerrter, ausspuckender Stimme Depeche Mode. Eine Zeitlang später sang er ein Skandal-Stück, dessen Skandal-Inhalt ich nicht zugeordnet bekam. Es war aber schön zum Mitsingen in einer gängigen Melodie, was vollkommen im Gegensatz stand zu seinem vorherigen Auftritt, dabei schlich er sich mit seiner Gitarre durch die Reihen des Publikums. Den nächsten Tiefpunkt markierte Ross Anthony, der mir mit seiner schrägen Frisur, seinem Outfit eines dunkelrot-schwarz karierten Rocks und dem vereinnahmenden Wesen eines Platzhirschs missfiel. Er durfte auf die Bühne, dabei war die Hitliste bereits bis auf Platz 3 heruntergespielt worden. Anscheinend zählte „Marmor, Stein und Eisen bricht“ von Drafi Deutscher ebenso zu den Skandal-Hits, weil die Rechtschreibung nicht stimmte. Die Mehrzahl lautete „brechen“, aber da fielen mir ganz andere Sachen ein. Die britische Gruppe Slade schrieb die Titel ihrer Stücke in den 1970er Jahren, wie sie lustig waren, in einem völlig falschen englischen Vokabular – Slade kam nicht vor in dieser Hitliste. Während Ross Anthony sang, setzten sich die Zuschauer kleine, runde, spitze Hütchen auf und verteilten dabei Luftschlangen. Das war nicht ganz meine Welt, aber dem Schwager gefiel es und er sang mit – das war die Hauptsache. Der Bespaßer mit dem norddeutschen Tonfall, der das Publikum in den Werbepausen unterhielt, fragte zwischendurch in die Menge hinein, wer denn die Nummer eins sein könne. Es kam sogar eine richtige Antwort: Ami Winehouse. Sie war skandalträchtig, weil sie stets unzuverlässig und unpünktlich war. Wegen zu viel Drogen und zu viel Alkohol mussten Konzerte abgesagt werden. Die andere Nummer eins bei den Singles war Eminem, der bei einem Konzert in Detroit das Publikum dazu aufforderte, ihre Mittelfinger in die Höhe zu strecken und „Fuck you Debbie“ zu grölen. Debbie war seine Mutter, mit der er sich zerworfen hatte. Die Aufzeichnung der Fernsehsendung mit Oliver Geissen geschah in versöhnlichem Ton. Lutz von der Horst, zuvor noch im Belgischen Viertel unterwegs, stand in weißem Outfit auf der Bühne und war ganz wie Eninem zurecht gemacht. Die Frisur und die Gesichtszüge ähnelten sich stark, und Lutz von der Horst ließ keine schrägen Töne heraus. Einige Zeilen sang er, bis er sich in der Rolle des Bösewichts unwohl fühlte und es vorzog, sich zu Oliver Geissen und seinen Gästen zu gesellen. Mit all den Werbepausen dauerte die Fernsehaufzeichnung sehr lange bis spät in die Nacht. Um zehn Minuten vor ein Uhr war die Veranstaltung zu Ende, und gegen halb zwei waren wir endlich zu Hause.

22. August 2021
Inzwischen war es das dritte Wochenende, dass unsere kleine Tochter ihre Koffer gepackt hatte und wir sie nach Dortmund gefahren hatten. Nun holten wir sie mit ihrem zusammengepackten Koffer wieder ab, und neue Horizonte taten sich auf, was neue zwischenmenschliche Kontakte betraf. Es war so ein bißchen wie in der Grundschule, wenn die Eltern sich über ihre Kinder gegenseitig kennen lernten und neue Freundschaften entstanden. Wobei wir diesmal allerdings nicht wussten, wie lange dieser Zustand andauern würde, zumal uns nach Dortmund so einige Kilometer trennten. Dortmund, das war ganz viel Patchwork. Beziehungen wurden beendet, neue Beziehungen hatten sich gebildet. Es war ein Geflecht aus Patchwork, Halbgeschwistern und Stiefeltern. Der Freund unserer Tochter lebte bei seinem Vater, der eine neue Lebensgefährtin hatte mit einer gemeinsamen Tochter. Alle vierzehn Tage verbrachte der Freund unserer Tochter das Wochenende bei seiner Mutter, die mit ihrem neuen Lebensgefährten zusammen lebte, gemeinsam mit dem jüngeren Bruder des Freundes. Der neue Lebensgefährte hatte wiederum drei Kinder, die bei seiner Ex-Frau wohnten. Ganz entspannt unterhielten wir uns im Haus der Mutter mit ihrem Lebensgefährten, das sie gemietet hatten. Mit den 85 Quadratmetern am Stadtrand von Dortmund reichte es gut für die dreiköpfige Familie, zu der alle 14 Tage am Wochenende eine vierte Person dazu kam. Das Zimmer des Freundes unserer Tochter befand sich im Keller, außerdem reichte die Wohnfläche für einen Home Office-Arbeitsplatz, da die Mutter bei der AOK und ihr Lebensgefährte im Polizeipräsidium arbeitete. Wir redeten über allerlei Umbau- und Renovierungsmaßnahmen, und wir alle stellten fest, dass wir die Ziele und Sehenswürdigkeiten in der näheren Umgebung viel zu wenig kennen würden. Nach dem – erneut – sehr schmerzlichen Abschied der beiden Teenager machten wir uns wieder auf den Rückweg über die Autobahn A1 und hofften, dass wir rund um Leverkusen möglichst wenig mit Stau zu tun haben würden.

23. August 2021
Es sollte sich einige Tage verzögern, dass unsere Tochter das erste Mal nach den Sommerferien in die Schule gehen sollte. Letzten Dienstag hatte sie aus Dortmund eine ordentliche Erkältung mitgebracht, so dass der Kinderarzt sie krank geschrieben hatte. Heute war nun ihr erster Schultag, und wir vermuteten, dass sie ihr Schuljahr so beginnen würde, wie sie die letzten Schultage im alten Schuljahr beendet hatte. Sie war mit Klassenkameraden fleißig unterwegs gewesen, zum Teil bis in den späten Abend hinein. Dabei war sie auf ihrem Handy nicht erreichbar, sie reagierte nur sporadisch auf Textnachrichten. Wir wussten nicht, wo sie sich aufhielt, irgendwann kehrte sie dann doch mit dem Bus nach Hause zurück. Als sie gegen 15 Uhr noch nicht zu Hause war, rief mich meine Frau aufgebracht an. Unsere Tochter zeigte dieselben Verhaltensweisen, sie drückte Anrufe auf ihrem Handy weg und antwortete nicht auf Textnachrichten. Daraufhin schrieb ich unserer Tochter, packte Worte wie „unverzüglich“ in eine SMS und drohte mit einem Besuchsverbot ihres Freundes in Dortmund am nächsten Wochenende. Danach befasste ich mich mit meinen Themen am Arbeitsplatz und fasste nicht nach, was mit unserer Tochter los war. Ich hätte auch keine Lust gehabt, bei ihr ins Leere zu laufen, so dass ich schließlich mit dem Rennrad vom Büro nach Hause zurück fuhr. Dort gegen 18 Uhr angekommen, saß unsere Tochter mit meiner Frau am Tisch in der Essecke. Nachmittags hatte sie Förderunterricht in Mathe gehabt, und auf dem Nachhauseweg hatte sie es verpasst, aus dem Bus eine Haltestelle früher auszusteigen, weil die normale Haltestelle wegen einer Baustelle nicht angefahren wurde. Es sah so aus, als wäre alles in bester Ordnung und die Aufregung vergeblich gewesen.

24. August 2021
Als ich den Hauptbahnhof verließ, spürte ich den Unterschied zu anderen Städten. Köln war weltoffen, bunt, ein Vielvölkergemisch. Touristen kamen aus aller Herren Länder, Einheimische standen niemals alleine für sich, Gruppen und Grüppchen hatten sich quer aus den Bevölkerungsschichten gemischt. Köln war mehr: in der Umgebung von Dom, auf der Domplatte, auf dem langen Band der Treppenstufen zum Dom oder um das Wallraf-Richartz-Museum herum verteilten sich die Nationen aus aller Welt. Das Gemisch von Sprachen war genauso vielfältig, so vielfältig, dass Städte wie Siegburg oder Troisdorf zur Provinz degradiert wurden. Das war die Stadt Köln, so wie ich sie mochte. Die Eindrücke luden ein, über den eigenen Tellerrand hinaus schauen zu wollen. Die Stadt war grenzenlos, niemand kapselte sich ab oder umgab sich mit Mauern. Ich ließ mich von der Menge treiben, schaute hier, schaute da. Ich nahm Notiz von den Büchern über Kunst in den Schaufensterauslagen des Wallraf-Richartz-Museums. Die Epoche der Römer blitzte auf am Römisch-Germanischen-Museum, das seine Ausstellungsstücke und seine Ausstellungsräume wegen Renovierungsarbeiten verlagert hatte. Die Altstadt und der alte Markt waren nahe, und die Menschenmenge sammelte und zerstreute sich zwischen der Rheinpromenade und dem Brauhaus Früh, zwischen der Domplatte und dem Brauhaus Sion, alles Orte, die ein gewisses Heimatgefühl aufkommen ließen, wie es im Karneval besungen wurde. Im Senftöpfchen-Theater holte ich schließlich die Karten für das Gastspiel von Wilfried Schmickler ab, das wir in zwei Tagen besuchen würden.

25. August 2021
Ungewöhnliche Perspektiven taten sich auf, als ich über die Domplatte zum Senftöpfchen-Theater schritt. Die Türme des Kölner Doms hatten Konkurrenz bekommen. Nicht nur der Dom schraubte sich in die Höhe, sondern auch die beiden Baukräne, die die Baustelle des Dom-Hotels umgaben. In der Perspektive in den Himmel hinein sah es sogar so aus, als wüchsen die beiden Kräne so sehr in die Höhe, als wollten sie den Dom überragen. Die Baustelle auf der Domplatte hatte ein wahrhaft gigantisches Ausmaß angenommen. Das altehrwürdige Dom-Hotel, in dem einst Kaiser Wilhelm II., die Queen oder Sophia Loren übernachtet hatten, wurde einer gründlichen Renovierung unterzogen. Die Bausubstanz war entkernt worden, das Gerippe des Gebäudes hielt die historische Fassade aus dem Jahr 1893 fest, die neu aufpoliert werden sollte. Eingehüllt von einer Staubschutzwand, war die Großbaustelle in den frühen Abendstunden zur Ruhe gekommen. So nackt, hohl und entkernt das Innere der einstigen Nobel-Herberge bloßgelegt war, war zu vermuten, dass der Baustellenzustand noch längere Zeit andauern würde. Die Türme des Kölner Doms störte das freilich nicht. Dort strömten die Passanten hinein in der Gewissheit, dass die Baustelle und der Dom noch für längere Zeit zusammen gehören würden.

26. August 2021
Kurz und knackig ging es zu in der Klassenpflegschaftssitzung in der Realschule, wo unsere kleine Tochter zur Schule ging. Corona-bedingt konnte nur ein Elternteil teilnehmen, welcher einen Nachweis nach den allgemeinen 3G-Regularien erbringen musste. Gerade fünf Elternteile hatten sich eingefunden. Das war bereits im letzten Jahr so, und eine Mutter meinte dazu, dass man sich bei einer solchen Übersichtlichkeit im nächsten Jahr am besten in einem Restaurant treffen könnte. Die Hauptaktion solch einer Veranstaltung, die Wahl der Klassenpflegschaftsvorsitzenden, kürzte die Klassenlehrerin auf wenige Momente zusammen. Die Handzeichen blieben unten, was bedeutete, dass niemand etwas dagegen hatte, die Pflegschaftsvorsitzende und ihre Vertreterin wieder zu wählen. Später waren wenige Unterschriften erforderlich, um das zu bestätigen, und in der Zwischenzeit konnte die Klassenlehrerin wichtige Termine und Meilensteine erzählen. Corona habe sich auf die Klassenzusammensetzung ausgewirkt: mit dem Distanzlernen seien manche Schüler gut, aber andere sehr schlecht klar gekommen. Nun müssten etliche Schüler aus der Klasse 9 das Schuljahr wiederholen, was auch für andere Schüler der bisherigen Schulklasse zuträfe. Die Anzahl der Wiederholer sei ziemlich hoch, was sich auf die Verteilung von Jungen und Mädchen auswirkte. In der bisherigen Schulklasse seien die Jungen in der Überzahl gewesen, nun sei das Verhältnis ausgeglichen. Nach der langen Phase des Distanzunterrichtes und den kürzeren Phasen von Wechsel- und Präsenzunterricht im letzten Schuljahr befindet sich der Schulunterricht momentan noch in einer Anlaufphase. In Englisch wird ein Diagnosetest geschrieben, um den Bedarf für einen Corona-bedingten Förderunterricht festzustellen. Für Förderunterrichte in den Hauptfächern stellt das Land Geld zur Verfügung. In der Klasse 9 würde sich das Lernniveau erhöhen, weil der Abschluss der Klasse 9 gleichwertig sei zu einem Hauptschulabschluss. Wesentliche Termine waren die Lernstandserhebung in einigen Wochen, vor den Herbstferien würden die ersten Klassenarbeiten in den Hauptfächern geschrieben. Im März nächsten Jahres würde ein dreiwöchiges Praktikum anstehen, wozu die Klassenlehrerin wenig sagen konnte, wo Praktikumsplätze verfügbar seien. Sie verwies auf die Lehrerin, die Berufswahlvorbereitung unterrichtete, dass ihr womöglich näheres bekannt sei. Eine Mutter meinte dazu, dass Praktika in Kindergärten oder in Krankenhäusern nahezu aussichtlos seien, weil sie mehrfach nachgefragt habe und die ganzen Corona-Auflagen so streng seien, dass Praktikanten quasi unerwünscht seien. Ein paar Informationen gab die Klassenlehrerin noch zu Corona: momentan seien drei Schüler an Corona infiziert, im letzten Jahr habe es auch in ihrer Klasse einen Fall gegeben. Alle Lehrer sind geimpft, und in Summe sei die Realschule vergleichsweise gut davon gekommen. Während des Unterrichtes müssen alle eine Maske tragen, in den Gängen und Fluren der Schule ebenso, die Maskenpflicht entfällt auf dem Schulhof. Kurz und knackig erzählte die Klassenlehrerin die Termine herunter, Fragen wurden selten gestellt, nur bei einem Punkt wurden die Diskussionen ausgiebiger: die Klassenfahrt in der Klasse 10. Gerne wollten die Schüler möglichst weit ins Ausland fahren, die Lehrer favorisierten hingegen die inländischen Reiseziele, wozu Berlin oder Hamburg häufig gehörten. Diese Diskussion erweckte eine gewisse Sehnsucht, als die Eltern nacheinander von ihren Abschlussfahrten erzählten, wohin es gegangen war und welche Erlebnisse sich in den Erinnerungen festgesetzt hatten. Ganz genau nach einer Stunde, als der Kirchturm der nahen evangelischen Kirche zwanzig Uhr schlug, erklärte die Klassenlehrerin die Klassenpflegschaftssitzung für beendet. Auf dem Weg zum Schulhof faszinierte mich dieses Bild: Striche von Farben, die den Regen gemalt hatten. Auf dem Regenschirm hörten dann diese Striche auf, so dass die beiden jungen Menschen unter dem Regenschirm trocken blieben. Wie der Zufall es wollte, war dieses Bild eine Anspielung auf das Wetter draußen. Es regnete tatsächlich, und im Nassen durfte ich mit dem Fahrrad nach Hause fahren.

27. August 2021
Nie habe ich ihn wirklich gemocht, zu sehr ließ er den Choleriker heraus hängen, zu sehr war er ein Moralapostel. Sein Zynismus war nicht mein Ding, so dass ich etwa bei den Mitternachtsspitzen selten bei den Auftritten von Wilfried Schmickler hinschaute. Wilfried Schmickler, der sich so sehr in Rage reden konnte, dass man den in einer wahnsinnigen Schnelligkeit aufblitzenden Wortfolgen kaum noch folgen konnte. Erst sehr spät habe ich diesen rheinischen Choleriker, der zudem aus der verschrienen Chemiemetropole Leverkusen stammt, für mich entdeckt. So empfand ich seinen Auftritt im Kölner Senftöpfchen als fulminant. Es gab nie einen Zweifel, dass ich seine Einstellungen und seine Botschaften teilte: das Wohlstandsgefälle in unserer Republik, die fehlende Solidarität in unserer Gesellschaft, dem eigenen Ich einen Spiegel vorhalten, die Ablehnung populistischer Strömungen, gnadenlose Kritik an den politischen Machern. Nach dem heutigen Abend im Senftöpfchen war er einer der ganz Großen des Kabaretts. Wie er sich durch diverse Alltagsthemen lavierte und seine Pointen schärfte, das war brilliant. Er nahm das Fernsehprogramm ins Visier und wetterte, dass bei gewissen Endlos-Wiederholungen irgendwann der „Blaue Bock“ wieder auf dem Programm stünde. Er befasste sich mit den Essgewohnheiten unserer Mitmenschen und zählte auf, wie sich der Fleischkonsum in einer Stückzahl von Rindern, Schweinen, Geflügel umrechnete, dabei stellte er sich vor, dass all diese Tiere auf seinem Balkon stünden. Die Maßlosigkeit des Konsums warf Probleme auf, dessen Lösung er in dem Refrain sah: „Wir fressen den Planeten leer, dann haben wir wieder Platz“. Wilfried Schmickler konnte grenzenlos zynisch sein in einer gekonnten Mischung aus Wortgewalt und Liedern, wo er seine Moral in Versen ausdrückte. „Weine nicht wenn der Regen fällt, wenn der Pegel steigt, sorge dich nicht“ und „es gibt noch immer einen auf der Welt, den hat es noch schlimmer erwischt“, das waren Worte, welche die Klimakrise und die Hochwasser-Katastrophe in Ironie und Bitterkeit anklingen ließen. Sein Programmsequenzen waren bunt gemixt, ein durchgängiges Thema ließ sich nicht erkennen, allenfalls die Freude am Auftritt nach mehr als einem halben Jahr aufgezwungener Abstinenz infolge Corona. Er lästerte über dies und das – aber vollkommen zurecht und legte den Finger in die Wunde. Er stocherte herum in der Identitätslosigkeit deutscher Städte: seine Heimatstadt Leverkusen lag voll im Trend einer „betonierten Hölle“, wie er es formulierte; er malte sich aus, wie hübsch Kassel in 100 Jahren sein würde, wenn alles Altstadt sei; die Ludwigshafener machten ihre Stadt daran fest, dass man nach Heidelberg fahren solle; die Büttelborner sahen ihre Stadt ähnlich, dass man schnell heraus komme. Die Hölle war ein großes Thema, ebenso Sprech- und Denkverbote. An diesem Abend fand ich Wilfried Schmickler Extraklasse. Mit dem Holzhammer hatte er drauf gehauen auf allerlei Missstände, er hatte uns Menschen den Spiegel vor unsere Augen gehalten. Seine Rolle als nimmermüden Rufe hatte einst Supertramp in ihrem Stück „Crime of the Century“ auf den Punkt gebracht: „Who are these men of lust, greed and glory? Rip off the masks and let's see, but that's not right, oh, no, what's the story?But there's you and there's me …”. Draußen vor dem Senftöpfchen-Theater, gab sich Wilfried Schmickler nach seinem Programm publikumsnah. Er trank eine Flasche Kölsch und mischte sich unter die Zuschauer. Jedermann und jederfrau konnte mit ihm ein Schwätzchen halten.

28. August 2021
Heute wieder Köln, das dritte Mal innerhalb von fünf Tagen. Das erfreute mich, da ich die Abwechslung mochte und mich Köln jedesmal aufs Neue faszinierte. An diesem Wochenende hatten wir Besuch aus Dortmund, dem wir Bemerkenswertes, Schönes und Außergewöhnliches von Köln zeigen wollten. Bei der reichen Geschichte Kölns, die wir zu den interessantesten Städten in ganz Europa zählten, konnten wir ohnehin nur einen Ausschnitt zeigen und erzählen. Wir konzentrierten uns auf die Altstadt. Wir wollten in den Dom hinein, doch dieser war nur bis 17 Uhr zu besichtigen – diese Uhrzeit von 17 Uhr hatten wir knapp verpasst. Es gab aber genug zu zeigen und zu erzählen, denn Köln war überreich an Geschichte, die bei den Germanen und der Römerstadt begann, im Heiligen Köln mit dem Dreikönigsschrein im Dom und all seinen romanischen Kirchen einen Höhepunkt erreichte. Die mittelalterliche Stadt hatte es mit der Wasserstraße des Rheins zu großem Reichtum gebracht, die Preußen hatten in der Rheinprovinz den Schwerpunkt zu der militärischen Bedeutung verlagert. Und so weiter. Wir versuchten uns, an den Ausprägungen der rheinischen Mentalität entlang zu hangeln und erzählten vom Hänneschen-Theater und der Schmitz-Säule. Beim Denkmal von Tünnes und Schääl hielten wir inne und charakterisierten die beiden Figuren aus dem Puppentheater, die man mit Dick und Doof vergleichen konnte. Auf dem Alten Markt sichtete ich den Kallendresser und erzählte das ablehnende Verhältnis zur Obrigkeit, namentlich zur Stadt Köln. Zum Denkmal von Jan von Werth auf dem Alten Markt erzählten wir die Geschichte von Jan und Griet aus dem dreißigjährigen Krieg, wozu es einen eigenen Karnevalsverein gab, der sich Jan von Werth nannte . Überhaupt: dem Rheinland-fremden Westfalen aus Dortmund erzählten wir vieles über das Wesen des Karnevals, welches diese Plätze in Köln – den Alten Markt und den Heumarkt – vom 11.11. bis zum Karneval wesentlich prägte. Vieles mochte dem Freund unserer Tochter verborgen bleiben, weil der Karneval in Dortmund nur rudimentär statt fand, aber wir versuchten ihm so viel wie möglich aus Köln zu vermitteln. Dass uns der Besuch des Kölner Doms verwehrt wurde, war enttäuschend, anstatt dessen erzählten wir über die Römerstraße vor dem Römisch-Germanischen-Museum. Sie sollte rekonstruiert werden, aber die mit Kreide gekennzeichneten Steine, in welcher Anordnung diese wieder zusammengelegt werden sollten, verwischte der Regen. Nun wurden sie nach bestem Wissen und Gewissen verlegt, was danach sehr chaotisch und unrealistisch aussah. Obschon das Römisch-Germanische Museum geschlossen war, konnten wir einen Blick werfen auf das Dionysosmosaik im Museum. Den Dom umkurvten wir, dann begaben wir uns in das Parkhaus unter den Dom, wo Teile der römischen Stadtmauer zu sehen waren. Ein Brunnen mit einer Endlostiefe war ebenso noch zu sehen, und dann bewegten wir uns oberirdisch auf einer absolut konventionellen Strecke. Von der Stelle, wo die Nachbildung der Kreuzblume des Doms stand, gingen wir zur Hohen Straße, wo wir der Aneinanderreihung der Geschäfte folgten. Gleich zu Beginn der Hohen Straße, stoppten die beiden Teenager an dem Süßigkeitenladen „Kingdom of Sweets“, der mir noch nie aufgefallen war, so dass er demzufolge neu eröffnet sein musste. Unsere Tochter kaufte sich Lollys und eine Zuckerstange und schleckte diese, während die beiden weiter bummelten. Ein ganzes Stück weiter auf der Hohen Straße, trotteten wir in den Lego-Shop hinein. Den magischen Momenten der Lego-Steine gelang es immer noch, die beiden Teenager zu faszinieren. Sie verweilten einigermaßen lange, bis wir …. Kauften. Von dort aus schritten wir einen einigermaßen geradlinigen Weg durch die Kölner Altstadt zurück zum Brauhaus Sion, wo wir zu Abend aßen. Dort war es sehr heimelig, vieles erinnerte an Karneval, Fotos hingen an den Wänden, das Dreigestirn nahm auf einer Großfotoaufnahme am Ende des abgetrennten Raumes das volle Blickfeld ein. Die drei aßen Schnitzel mit Fritten, ich selbst aß indes das erste Mal das Kölner Nationalgericht: einen „Halve Hahn“. Es schmeckte es uns bestens, und es sah so aus, als sei uns die Symbiose von Dortmund und Kölner Brauhaus perfekt gelungen.

29. August 2021
Bei den freitäglichen oder sonntäglichen Fahrten nach Dortmund suchte ich, mit dem Finger über die Landkarte fahrend, Ziele abseits der Fahrstrecke auf der Autobahn A1 ins Visier zu nehmen. Dabei waren die Städte Hückeswagen und Wipperfürth Orientierungspunkte, wo ich mit dem Fahrrad herum gekurvt war, als ich meine Frau gerade einige Wochen oder Monate kennen gelernt hatte. Der typisch bergische Baustil mit verschieferten Hausfassaden, viel Fachwerk und grünen Farbelementen war in meiner Erinnerung hängen geblieben. Heute hatten wir einen ersten Ansatz gewagt, die Autobahn zu verlassen. Unser Ziel hatte alles ganz und gar nicht mit einer Fachwerkromantik in Hückeswagen oder Wipperfürth gemein, es lag allerdings auch nicht so weit weg von diesen beiden Städten. Die Taktung unserer Mahlzeiten hatte sich am Sonntag so ergeben, dass alle lang geschlafen hatten und demnach spät frühstückten. Unsere beiden Teenager nahmen dieses Frühstück erst nach 11 Uhr zu sich. Da wir nur unwesentlich früher gefrühstückt hatten, ließen wir das Mittagessen ausfallen. Spätestens um 17 Uhr musste aber der Freund unserer Tochter in Dortmund wieder zurück sein, so dass wir es vermeiden wollten, ihn mehr oder weniger verhungert wieder abzuliefern. So suchte ich auf der Wegstrecke der Rückfahrt nach einem Mc Donald’s – oder auch alternativ nach einem Restaurant in einem Ort, welcher nicht so weit weg liegen sollte von der Autobahn A1. In Google suchte ich in Remscheid, Wuppertal, Gevelsberg. In Remscheid entdeckte ich auf Anhieb einen Mc Donald’s wenige hundert Meter von der Autobahnausfahrt entfernt. Ich googelte auch nach Restaurants in Remscheid oder Lennep, doch die Uhrzeit wurde zu unsicher. Um 14 Uhr brachen wir auf in Richtung Dortmund, vor dem Autobahnkreuz Leverkusen nervte uns der obligatorische Stau, und war effektiv unsicher, inwieweit die Küche in Restaurants um die frühe Nachmittagszeit noch geöffnet sein würde. So fuhren wir, ohne es auszuprobieren, sogleich an der Abfahrt Remscheid ab von der Autobahn A1 und landeten bei Mc Donald’s. Wir versorgten uns mit Burger und Chicken Nuggets, und alle wurden satt. Das war ein pragmatischer Weg, etwas zu essen jenseits der Autobahn A1.

30. August 2021
Auf der Suche nach der morgendlichen Tasse Kaffee in einem Café, wenn ich von zu Hause aus im Home Office arbeite. Die Suche gestaltet sich einigermaßen schwierig, wenn ich zur Aufmunterung – am besten vor 9 Uhr – den Kaffee trinken möchte, dabei Menschen und das Geschehen in dem Café beobachten möchte. Ähnlich wie in Bonn, kommen quasi nur Bäckereien in Frage. Egal, ob REWE oder Netto: die anhängenden Großbäckereien bieten nichts als Ausblicke auf Parkplätze. Ich könnte auch nach Schell, aber alleine sitzend käme ich mir zu einsam vor. Anscheinend ist das Bedürfnis, nicht zu Hause in den eigenen vier Wänden, sondern um diese Uhrzeit außerhalb einen Kaffee zu trinken, nicht besonders ausgeprägt. So schaue ich nun auf diesen Parkplatz. Die Karrosserien auf vier Rädern überwiegen die in den Supermarkt und die Bäckerei trippelnden Menschen, die Einkaufswagen vor sich herschieben oder mit Brötchentüten heraus kommen. Es ist nicht so, dass sich der Blick an die graue Pflasterfläche und den Asphalt nicht gewöhnen kann. Auch wenn die Natur und das Grün merklich unterdrückt werden, mangelt es nicht an Bewegung auf dem Parkplatz. Die Blinklichter blinken auf, wenn die Autos entriegelt werden. Die Einkäufe werden in den Kofferraum verladen, und die Menschen kaufen nicht nur mit ihren Autos ein, sondern sie kommen auch auf Fahrrädern, und Gehbehinderte parken ihr Elektromobil auf dem Behindertenparkplatz. Nach einer geraumen Zeit stelle ich fest, dass solch ein Parkplatz voller Leben steckt. Und dennoch gehört er nicht zu meinen Lieblingsplätzen. Parkplätze haben keinen Wohlfühlfaktor, die Qualität des Beobachtens und der Ideenfindung fehlen. Die Auswahl von geeigneten Orten, um diese Uhrzeit einen Kaffee zu trinken, ist in der näheren Umgebung leider sehr beschränkt.

31. August 2021
Wenn ich mit der Stadtverwaltung zu tun hatte, dann hatte mir der Besuch jedesmal einen Kulturschock verpasst. Berge von Akten wurden gehortet, der Mensch wurde in ein Korsett von Verordnungen und Paragrafen gepresst, einfache Vorgänge waren zu einem Staatsakt aufgebläht, von einem kundenorientierten Denken waren die Beamten so weit weg wie die Erde vom Mond. Daher steckte jeder Gang zur Stadtverwaltung voller Skepsis und Misstrauen. Nun ergab sich wieder eine Gelegenheit, die Stadtverwaltung aufzusuchen. Mehr als ein Jahr lag der neue Personalausweis bei der Stadtverwaltung, wobei Corona die Hände im Spiel hatte, was die extreme Zeitverzögerung betraf. Online hatte ich einen Termin im Bürgeramt gebucht, und mit der Terminreservierung in der Hand schickte mich die Stadtverwaltung zum Gebäude der früheren Sparkasse, weil das Bürgeramt umgezogen war. Mit Stellwänden teilten sich die Arbeitsplätze in dem quadratischen Bau auf, und zunächst schickte mich eine Mitarbeiterin mit der Terminbestätigung zu einem Terminal direkt am Eingang. Auf einem Ziffernblock musste ich dort die Reservierungsnummer eingeben. Kurze Zeit durfte ich warten, bis meine Reservierungsnummer angezeigt wurde – dann durfte ich zu der Mitarbeiterin an dem angezeigten Arbeitsplatz gehen. Der Kulturschock blieb diesmal aus. Es sah so aus, als hätte das papierlose Büro Aktenschränke voller Akten abgelöst. Die Aushändigung des Personalausweises begleitete ein Tablet. Zweimal musste ich dort unterschreiben. Die erste Unterschrift bestätigte, dass ich das Schreiben zum digitalen Personalausweis erhalten hatte, die zweite Unterschrift den Erhalt des eigentlichen Personalausweises. Zwei elektronische Unterschriften ohne Papier, ein getauschter Personalausweis neu gegen alt, das waren die Ergebnisse beim Bürgeramt. Es sah so aus, als hätte das digitale Bürgerbüro Fortschritte gemacht.

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