Boppard - auf der Suche nach Übersichtlichkeit
Raus aus der Komplexität der Materie, dass alles mit allem zusammenhängt. Die schwere Geburt des Denkens, wie schwierig, wie widersprüchlich und wie überladen die Dinge sind. Mit dem menschlichen Verstand sind die Dinge schwierig fassbar, das gilt vor allem für Stadtlandschaften. Städte sind wahre Konglomerate, die Sinneseindrücke überlagern sich. Reize überfluten unsere Wahrnehmungen, überall ist ständig viel zu viel in viel zu großen Dimensionen in viel zu mannigfaltigen Ausprägungen. kanalisieren sich nicht, anstatt dessen werden die Reize überflutet. Die Dinge sind so schnelllebig und schnell, dass man von der Dynamik überrannt wird. Raus aus der Stadt, dieses Bedürfnis verspürte ich, hinein in die übersichtlichen Strukturen einer Kleinstadt, wo einem die Dinge vertraut sind, obschon man die Stadt überhaupt nicht kennt. Wo die Dinge passen und die aus einem Guß geformte Kleinstadt in einer vollendeten Harmonie zusammensteht.
Um dieses Idealbild vorzufinden, wählte ich eine Kleinstadt, in der ich zuvor noch nie gewesen war: Boppard am Rhein. Meine Recherchen im Internet ermutigten mich, dass diese Stadt mit ihren 15.000 Einwohnern diesem Idealbild möglichst nahe kommen könnte, zumal die Touristenströme in der Winterzeit versiegt waren. Ganz unbekannt war mir Boppard allerdings nicht, denn verschiedene Bahnfahrten durch das Mittelrheintal hatten an Boppard vorbei geführt, ohne dass ich dort jemals einen Zwischenstopp am Bahnhof eingelegt hätte.
Bahnhofausgang (oben links), Marktplatz mit St. Severus (oben Mitte), Deckenmalerei in St. Severus (oben rechts), Rheinpromenade (unten links), Stadtsiegel (unten Mitte), Spruch zwischen Fachwerkgebälk (unten rechts)
Wieso dies nicht nachholen ? Dies tat ich nun an diesem grauen Dezembertag. Der Tag sollte sich einregnen, wobei sich anfangs einige Schneeflocken in den Regen hinein mischten. Der Schönheit der Kleinstadt tat dies keinen Abbruch. Auf der schurgeraden Straße, die in den Stadtkern führte, hockte ich mich zunächst in einem Café nieder, um mich bei Dauerregen bei einer heißen Tasse Kaffee aufzuwärmen.
Wie sehr sich die Stadtbilder und die Stadtgeschichten ähnelten. Ob Andernach, Remagen oder Boppard: rund zwei Jahrhunderte hatten die Römer in ihrem Lager „Bodobrica“ über den Wellen des Rheins gelagert, bis sie germanischen Volksstämmen weichen mussten. Kirchen des frühen Christentums wurden aus oder auf römischen Ruinen erbaut. Der Handel florierte über die Wasserader des Rheins, im Mittelalter wurden die Städte reich. Eindrucksvolle Stadtsiegel besiegelten die Stadtrechte, die kleinen Kirchen der Spätantike gewannen im romanischen Baustil an Größe. Häuser aus Fachwerk verzierten die reiche Stadtgeschichte, und im Verbund von Fachwerk, beschaulichen Plätzen, einem Ensemble von Stadtmauern, überaus schönen Kirchen und einer Rheinpromenade zum Flanieren waren die Strukturen dieser Kleinstädte einfach und überschaubar.
Schlicht und überaus sehenswert: die Karmeliterkirche
Auf dem Marktplatz war ein Fehlurteil oder ein falscher Schluss undenkbar. Nichts hing mit allem zusammen, der Platz hatte genau das bieten, was man an einem solchen zentralen Ort vermutete. Der ganze Stolz der Stadt scharte sich um die romanische Kirche St. Severus, auf dem Rechteck des lang gestreckten Platzes hatten sich nicht nur Kneipen und Weinstuben niedergelassen, sondern auch kleine Geschäfte und eine Bank. Zwischen den seicht abfallenden Gassen sah man den Rhein plätschern, und in der Kirche St. Severus vereinigte sich die römische mit der mittelalterlichen Geschichte. Die Römer beerdigten ihre Toten nicht, wie wir es heute kennen, auf Friedhöfen, die von der Öffentlichkeit durch Mauern oder Bäume abgeschirmt waren. Die Römer beerdigten vielmehr ihre Toten außerhalb des Römerlagers für jedermann sichtbar entlang der Römerstraßen. Römische Grabsteine, die verteilt über das Stadtgebiet ausgegraben worden waren, hatte man in die Innenwände vor dem Westportal eingemauert. Das älteste christliche Zeugnis, ein Grabstein aus der Übergangszeit vom 5. zum 6. Jahrhundert, ließ ein Fehlurteil nicht zu. Die Namen der Eltern eines verstorbenen Jungen belegten, dass der Vater eine germanische und die Mutter eine galloromanische Abstammung hatte.
Nachdem ich mir all die Facetten und all den Reichtum der Kirche St. Severus mit ihrer großen Fensterrosette angesehen hatte, die bereits an gotische Kathedralen erinnerte, schritt ich hin und her, auf und ab, kreuz und quer durch den Stadtkern. Zwischen den wechselnden Orten konnte man nie die Orientierung verlieren. Die Örtlichkeiten waren nicht miteinander verstrickt und vernetzt, so dass ich an fest definierten Punkten immer wieder herauskam. Raus aus der Komplexität der Materie, wechselte ich die Standorte, ich bummelte die Rheinpromenade hin und her, die nunmehr in ein Geflecht aus Nieselregen eingehüllt war. Vom Zollhaus aus durchmaß ich die Überreste der mittelalterlichen Stadtmauer, ich passierte das Stadtviertel der Balz, das sich mit seinen Sprüchen inmitten von Häuserwänden und Fachwerk heimatbetont gab. Schlicht, elegant und schnörkellos war das Gefüge von Gassen, und an der Rheinpromenade fehlte mir schlichtweg die Zeit, um von einem höheren Standpunkt die Dinge zu überfliegen. Es war aber auch die winterliche Jahreszeit, die mich daran hinderte, mit der Seilbahn den Gebirgsrücken hinauf zu fahren, von wo aus der Blick auf die Schleife des Rheins wunderbar sein musste. Die Seilbahn machte Winterferien, und so verpasste ich es, dass mein Denken einen höheren Standpunkt einnahm von einer Aussichtsplattform auf das überschaubare Stadtgebiet von Boppard an der auslaufenden Schleife des Rheins.
Zollhaus (oben links), Fachwerkhäuser (oben Mitte), Rheinpromenade (oben rechts),
Reste der Stadtmauer (unten links), Karmeliterkirche (unten Mitte), Grabmal in der Wand (unten rechts)
In dieser auslaufenden Schleife, wo die Uferpromenade menschenleer blieb, weil der Regen auf Stühle und Tische plätscherte, die in der sommerlichen Jahreszeit Tagesausflügler bevölkerten, erhob sich die kleine und markante Gestalt der Karmeliterkirche. Trotz des beachtlichen Alters – die Karmeliterkirche war im 12. Jahrhundert gebaut worden – fristete die Kirche ein Dasein im Schatten des gewaltigen Baukörpers der St. Severus-Kirche. Ihr Inneres war überaus sehenswert. Der Seitenaltar waren in dem pompösen Stil des Barock gefertigt worden, aber darüber hinaus dominierte der weitaus schlichtere romanische Baustil. Die Wände waren in einem weißen schlichten Verputz gehalten. Grabplatten von Rittern und Adligen fügten sich in die Wände ein, im Chor hingen Totenschilde derselben Ritter und Adligen aus dem tiefsten Mittelalter. Hoch nach oben erhoben sich hingegen die gotischen Fenster, die die Kirche vom Chor zum Kirchenschiff umgaben.
Der Regen plätscherte leise weiter, mein Kopf war frei, das Knäuel meiner Gedanken hatte sich entflochten. Den Rückweg zum Bahnhof nahm ich auf kurzem Weg. Die Überreste des Römerlagers hatte ich verfehlt, anstatt dessen waren die Höhepunkte der Stadtgeschichte zwischen den Bruchsteinplatten unter der Bahnunterführung eingelassen. Nachgebildet war das Stadtsiegel der mittelalterlichen Stadt „Bobardia“, römische Grabsteine oder das Wappen der Trierer Kurfürsten. Ein anschaulicher Überflug über die Stadtgeschichte begleitete das letzte Stück bis zum Bahnhof, bis der Regionalexpress mit dem SÜWEX-Logo einfuhr.