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Jahrgedächtnis

20 Minuten kam ich in den Gottesdienst zu spät, doch irgend wie war es egal. Gähnend leer war es in der Klinkumer Kirche, die Kirchgänger vereinzelten sich zwischen den Bänken. Nachdem ich mich in der allerletzten Reihe auf einen Stuhl gehockt hatte, wohnte ich dem wichtigsten Moment des Gottesdienst bei. Bei den Fürbitten nannte die Gottesdienstleiterin, die genauso wie der andere bärtige Herr im Altarraum kein Priester war, den Namen des vor einem Jahr verstorbenen Vaters. Folglich handelte es sich bei diesem Gottesdienst, der als Wortgottesdienst gehalten wurde, um das Jahrgedächtnis. Messdiener waren abwesend, dennoch wurde eine Kommunion ausgeteilt. Als neugotische Kirche um die 1900er-Jahrhundertwende gebaut, verstärkte das hohe Kirchenschiff die Leere zwischen den Bankreihen. Längst vergangen waren die Zeiten, als zu meiner Schulzeit zur frühen Sonntagsnachmittagszeit die Kirche bei der Christenlehre prall gefüllt war. Die Predigtkanzel, auf der der Pastor damals von einem höheren Ort aus zum wahren Glauben zu bekehren suchte, war indes vom Mittelgang abseits in die Ecke der linken Bankreihe verlagert worden. Neben der Autorität der Kirche verkörperte die Predigtkanzel aber auch Schönheit, da sie mit ihren Schnitzarbeiten ein wahres Prachtstück war. Schön waren auch die Platten mit den Kreuzwegstationen an den Seitenwänden, die hohen Fenster im Stil der Neugotik im Chorraum oder die Blattkapitelle auf den Innensäulen. Beim Gang zur Kommunion sichtete ich, wie übersichtlich sich meine Verwandten zwischen den Sitzbänken verteilten. Meine Tante saß zwei Reihen vor mir, ein Onkel und eine andere Tante weit vorn in der Mittelreihe, mein Bruder plus Mutter plus Schwägerin plus Tochter abseits in der linken Bankreihe.

Pfarrkirche in Wegberg-Klinkum

Als der Gottesdienst beendet war und mir draußen die pralle Hitze entgegen stieß, richtete ich knappe Begrüßungsworte an Onkel und Tanten, die dem Jahrgedächtnis beigewohnt hatten. Mein Onkel, der 87 Jahre alte Bruder meiner Mutter, fehlte, weil sich sein Gesundheitszustand nach zuletzt zwei Operationen verschlechtert hatte. Ein anderer Bruder meines verstorbenen Vaters, der mittlerweile 88 Jahre alt war, fehlte genauso, weil er mit seinem Hüftleiden ein Bein kaum noch bewegen konnte. Zu Hause saßen wir im engsten Familienkreis beisammen. Nachdem ein Gärtner tätig geworden war, sah der Vorgarten mit den zurecht geschnittenen Sträuchern schön und ordentlich aus, während es im Garten an so manchen Stellen wild wucherte. Schnellsalat, so nannte meine Mutter ein loses Gemisch aus Mandarinen, Ananas, Spargel, jede Menge Erbsen und klein geschnittener Fleischwurst, was sie für uns zubereitet hatte. Mit den aufgebackenen Baguette-Brötchen wirkte das Abendessen improvisiert, die Zusammenstellung war bei dem heißen Wetter aber vielleicht richtig und angemessen. Gemeinsam zählten wir die Jahre zusammen, dass unsere Mutter mittlerweile 83 Jahre alt war. Den Wunsch meines Bruders, die Mutter solle noch zwanzig Jahre leben, stuften wir als utopisch ein. Es gab Ärger mit der Krankenkasse, die mehrere Euro Pflegegeld aus dem Jahr 2016 zurückforderte, weil sie sich bei meinem Vater verrechnet hatte. Wir unterhielten uns über Verjährungsfristen und darüber, wann welche Berechnungsformen der Pflegegeldzahlung auf welche anderen Berechnungsformen in 2016 umgestellt worden waren, und ob dies seine Berechtigung hatte. Längst dominierten Krankheitssymptome und Arzttermine den Alltag. Wegen ihrer Lunge wollte meine Mutter am Montag zum Hausarzt. Dazu musste jemand sie begleiten, doch mein Bruder und meine Schwägerin mussten jeweils arbeiten. Nun wollte meine Mutter es versuchen, ob ihr Hausarzt ihr einen Hausbesuch abstatten konnte. Einmal monatlich suchte er sie ohnehin zu Hause auf. Mehr als eine Stunde quasselten wir zusammen, über dieses und jenes, über das Älterwerden und über einen runden Geburtstag, den ich in Kürze feiern sollte. Es war so gegen halb neun, als ich in unserem Auto das Elternhaus verließ. Im Autoradio lauschte ich einem Ereignis, das hätte besser ausfallen können. Die Radioreporterin berichtete über die letzten Minuten des Viertelfinales der Damen-Fußball-Weltmeisterschaft. Unsere deutschen Fussballerinnen verloren gegen Schweden mit 1:2.

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