Wiedersehen mit Mönchengladbach
Vier Stunden Zeit nahm ich mir für das Wiedersehen. Mönchengladbach, ein Ort der Kindheit und Jugend, bedeutete für mich genau das, was für unsere eigene Familie die Stadt Bonn verkörpert. Eine Stadt des Einkaufs, vor allem, was Bekleidung und Anziehsachen betraf. Wie oft musste ich als Jugendlicher in den C&A oder Hettlage hinein, weil ich aus Hosen, Hemden, T-Shirts und Pullover heraus gewachsen war ? Mönchengladbach, die Einkaufsstadt: fast nie nahmen wir uns die Zeit, außerhalb von Bekleidungsläden und Modeketten die Stadt kennen zu lernen, das habe ich erst später auf eigene Faust gemacht.
Aus den Erinnerungen war mir bewusst, dass mit einem hübschen Altstadtkern und adrett heraus geputzten Bürgerhäusern nicht zu rechnen war. Da die Kriegsschäden in Mönchengladbach immens gewesen waren, zerschnitten breite Straßenschneisen die Innenstadt, und der bauhausartige moderne Stil der 1950er Jahre überwog. Nicht schlimm, dachte ich mir, da das Stadtviertel rund um den Alten Markt durchaus eine historische Vergangenheit hatte. Es sollte nicht alles schlecht aussehen in Mönchengladbach, doch die ersten Eindrücke lieferten Billigläden ab und lieblos nebeneinander geschmissene Ein-Euro-Läden. Die Cafés schienen in fester Hand von Backwerk & Co zu sein, begleitet von ein paar Kamps-Filialen. Gepflegte, einfallsreich gestaltete Cafés, wo es vielleicht auch eine gewisse Auswahl an Kuchensorten gab, suchte man vergeblich.
Mein zweiter Eindruck haderte mit der deutschen Geschichte. Dass Paul von Hindenburg 1925 als Nachfolger des in demselben Jahr verstorbenen Friedrich Ebert zum deutschen Reichspräsidenten gewählt worden war, hatte die Weimarer Republik geschwächt. Von Hindenburg, der als Oberbefehlshaber die Schlachten von Tannenberg an der Ostfront im Ersten Weltkrieg gewonnen hatte, stand für eine Kehrtwendung zurück zur militärischen Stärke des deutschen Reiches. Obschon er sich neutral zu Adolf Hitler und den Nationalsozialisten verhielt, beförderte er letztlich mit seiner Zustimmung Adolf Hitler am 30. Januar 1933 zum Reichskanzler und zur Machtübernahme der Nationalsozialisten. Nun benannte sich die Haupteinkaufsmeile in Mönchengladbach, die Hindenburgstraße, nach diesem General, der von 1916 bis 1918 die oberste Heeresleitung im Ersten Weltkrieg übernommen hatte und tatkräftige Mithilfe leistete, dass ein Diktator vom Rang eines Adolf Hitler die ganze Welt in einen Zweiten Weltkrieg stürzte. War dies noch zeitgemäß ?
Ein-Euro-Läden auf der Hindenburgstraße (oben links), Rathaus (oben rechts),
Westwerk der Kirche St. Vitus (Mitte links), Heiligenschrein Hl. Vitus (Mitte rechts),
Abteiberg (unten links), Überreste der Stadtmauer (unten rechts)
Nach Jahrzehnten hatten die Geschäfte in der Fußgängerzone gewechselt, was nicht anders zu erwarten war. Dass die sich wandelnden Konsumgewohnheiten und die sich wandelnden Player im Einzelhandel das Stadtbild der Fußgängerzonen veränderten, war mehr als normal. Nichts war kurzlebiger als die Geschäfte, die ansässig waren. Und doch: ich vermisste den Lichthof, eine mit einem halbrunden Glasdach überdachte Einkaufspassage, die ich damals als architektonisch gelungen empfand. Minto – so nannte sich nun das Einkaufszentrum, das nach dem Abriss des Lichthofs einige Dimensionen größer ausgefallen war.
Ein Stück weiter auf der Hindenburgstraße gab es dann doch eine Konstante, die die Zeiten überdauert hatte. Es mochte etwas paradox klingen, dass es Mc Donald’s war, womit unsere Familie ein wegweisendes Ereignis verband. Es war ungefähr zur Zeit, als ich die Oberstufe des Gymnasiums besuchte, als meiner Mutter wahnsinnig schlecht wurde, nachdem wir dort gegessen hatten. Gleichzeitig überfielen sie Kopfschmerzen, die sie zu zerreißen drohten. Die Krankheit war ein Schicksalsschlag und hatte nichts mit der Essensqualität von Mc Donald’s zu tun. Die Diagnose, die erst mehr als ein Jahr später in der Universitätsklinik Köln getroffen wurde, war niederschlagend: es war ein Gehirntumor. Anfangs waren die Ärzte von einer Multiplen Sklerose ausgegangen. Wiederum ein Jahr später die OP, die gut verlaufen war und keine späteren OPs nach sich zog.
Von Mc Donalds über die C&A-Filiale, die noch am selben Standort ihre Eingangstüren geöffnet hatte, war es nicht weit zum Alten Markt, der ungeahnte Entdeckungen ermöglichte. Früher hatte ich Mönchengladbach nie als historische Stadt betrachtet, und außerhalb der architektonischen Sterilität der Nachkriegszeit taten sich Blickwinkel auf, an die ich vor rund 20 Jahren niemals gedacht hätte. Eingeprägt hatte sich aus früherer Zeit der Blickwinkel auf die Pfarrkirche St. Mariä Himmelfahrt und dem gelbgestrichenen Gasthaus St. Vith. Ein Motiv, welches sich oftmals auf Postkarten von Mönchengladbach wieder fand. Zweifelsohne, das Motiv war hübsch, doch ich schritt vorbei an Gasthaus und Kirche, geradewegs auf das Rathaus zu, wo sich zufälligerweise eine Hochzeitsgesellschaft versammelte. Ich erwischte den richtigen Moment, als Braut und Bräutigam sich für ein Fotoshooting unter dem Torbogen zum Innenhof in Position brachten, umringt von zahllosen Gratulanten.
Ich umrundete das Rathaus und machte die Erfahrung, dass ich früher in einen eigentlichen Wesenskern von Mönchengladbach nie vorgedrungen war. So stand ich auf dem Ursprung der Stadt, dem Abteiberg, dessen Namensgebung wesentliche Elemente der Stadtwerdung zusammenfasste. Das war eine Abtei auf einem Berg. Dass eine Abtei auf einem Berg liegt, war mir früher nicht entgangen. Gerne hatte ich unterhalb des Abteibergs geparkt, wobei man die Freifläche des Parkplatzes bis heute belassen hatte. Damals wie heute schlängelte sich der Fußweg vom Parkplatz den Berg hinauf, Treppen strebten seitwärts zur Abteikirche nach oben, und über den Skulpturenpark, der zum Museum Abteiberg gehörte, war ich rechterhand an der Abteikirche vorbei in die Fußgängerzone gelaufen.
Was ich früher geistig nie erfasst hatte, dort stand ich nun. Das Westwerk der Kirche St. Vitus versetzte mich in ein Erstaunen, wie es die großen Kirchenbauwerke vermochten. Bei der Gründung der Abteikirche hatte der Kölner Erzbischof Gero seine Hände mit im Spiel, da er Verbindungen zum römisch-deutschen Kaiser besaß. Aber nicht nur er, Gero, sondern auch Sandradus, der Abt des Trieres Benediktiner-Stiftes gründeten 974 in einer Co-Produktion die Abtei, wobei sie den Coup landen wollten, die Reliquien eines bedeutenden Heiligen an Land ziehen zu wollen. So gelangten – der Legende nach – die Reliquien des Heiligen Vitus von der Abtei in Corvey auf den Abteiberg.
Das Westwerk, vor dem ich stand, war mit der Entstehungszeit um 1180 das älteste Element des Außenbaus. Es knüpfte an große romanische Kirchenbauten an wie etwa St. Pantaleon in Köln oder Maria Laach. Im Inneren bestaunte ich die Glasfenster im gotischen Chor, die zwischen 1265 und 1275 ausgemalt wurden. In der Krypta stand eine Büste der Heiligen Vitus aus dem 18. Jahrhundert.
niederrheinische Ziegelsteinfassaden (oben links), Weißer Turm (oben rechts),
Waldhausener Straße ("Altstadt") (Mitte links), Alter Markt (Mitte rechts und unten links),
Kapuzinerplatz (unten rechts)
Nachdem ich die Treppenstufen den Abteiberg hinab geschritten war, erschloss sich die Entstehung der Stadtbezeichnung „Mönchengladbach“: oben auf dem Abteiberg wohnten Mönche, unterhalb floß der Gladbach, der gleichzeitig den Wassergraben vor der Stadtmauer ausfüllte. Dabei wurde erst mit der Industrialisierung die Bezeichnung „Gladbach“ in „Mönchengladbach“ umbenannt, das man ebenso als „rheinisches Manchester“ bezeichnete, als sich im 19. Jahrhundert die Textilindustrie ansiedelte.
Gero, der von 969 bis 976 Kölner Erzbischof war, hat sich der Nachwelt nachdrücklich erhalten, indem der umliegende Park „Gero-Park“ mit seinem „Gero-Weiher“ genannt wird. Von dieser Stelle aus läßt sich das handliche Format der mittelalterlichen Stadt Mönchengladbach erfassen. Zur rechten führte der Ring der Stadtmauer den Abteiberg hinauf, linkerhand kehrten rostbraune Ziegelsteinfassaden die hübschen Seiten des typisch niederrheinischen Stadtbildes hervor. Von unten aus umrundete ich die Benediktinerabtei und schritt den Grünstreifen zurück in die Richtung des Alten Marktes. Der Grünstreifen, der den Verlauf der Stadtmauer markierte, stieß alsbald auf den Weißen Turm, das war ein Überrest der Stadtbefestigung. Das mittelalterliche Relikt aus dem 15. Jahrhundert lag an einer Kreuzung, wo sich hinter dem Weißen Turm die Stadtmauer erneut aufbaute. Die Waldhausener Straße, die die Turmstraße kreuzte, umfasste früher das Kneipenviertel von Mönchengladbach. Im Zuge der Zeit hatte sich das Bild der Mönchengladbacher Altstadt, wie wir die Kneipenansammlung früher nannten, stark verändert. Ich erinnerte mich an Kneipen, die dicht an dicht standen, und an Pizzerien und Restaurants, wo man sich durch die internationale Küche hindurch essen konnte. Da ich oftmals alleine und selten gemeinsam mit Freunden unterwegs war, war die Mönchengladbacher Altstadt eher eine Verzweiflungsaktion, der Langeweile zu entkommen und an dem allgemeinen Vergnügungsangebot teilhaben zu können. An einen ernüchternden Abend kann ich mich erinnern, als ein Date in der Mönchengladbacher Altstadt zustande gekommen war. Die Auserwählte hatte ich auf der hiesigen Kirmes kennengelernt, als ich viel zu tief in die Biergläser hineingeschaut hatte. In nüchternem Zustand, als ich die Auserwählte zu Hause abholte, traf mich der Schlag. In meinem alkoholisierten Zustand hatte ich nicht wahrgenommen, dass die Dame dick und kugelrund war und zudem mit Pickeln übersät im Gesicht. Auf Dicke stand ich überhaupt nicht, und das sollte sich beim Kneipenbummel durch die Mönchengladbacher Altstadt auch nicht ändern. Da ich keine Lust verspürte, sie näher kennen zu lernen, starrten wir uns während des ganzen Abends schweigend an.
Es sah so aus, als habe das Kneipenangebot seinen Glanz von früher verloren. Lokale, Cafés und Kneipen hatten sich rar gemacht, ein undefinierter Mischmasch aus Geschäften, Kneipen und Wohnbebauung überwog, und beinahe sah es so aus, als seien Einzelhandelsgeschäfte und Kioske zahlreicher vertreten als Kneipen.
Zurückgekehrt zum Alten Markt, konnte ich mir von anderer Stelle ein Bild machen von der mittelalterlichen Stadt Mönchengladbach. 1183 erhielt Mönchengladbach das Marktrecht. Die Pfarrkirche St. Mariä Himmelfahrt stand im Zentrum, die einstige Stadtmauer verlief von Dicken Turm zum Rand des Kapuzinerplatzes, der ein Stück hinter dem Alten Markt lag. Nach einem alten Kapuzinerkloster benannt, hinterließ Platz am Verlauf der einstigen Stadtmauer mit monotonen Wohnbauten eine abscheuliche Leere. Die Wohnarchitektur war brutal, und die Straßenbezeichnung „Wallstraße“ wies den Weg, wo einst die Stadtmauer verlaufen war. An der Ostseite war davon freilich längst nichts mehr zu sehen. „Im Kabuff“: die schmale Straße machte einen wenig beschaulichen Eindruck, ich konnte in Hinterhöfe hinein schauen, und die Kneipe „Im Kabuff“ mit dem roten Anstrich auf der verputzten Ziegelsteinfassade beschrieb eine der wenigen Farbakzente. Vieles stand hier im Zeichen der Kapuziner, so der Kapuzinertreff, und die Hindenburgstraße zurück, war die Wallstraße die nächste große Kreuzung, die bezeichnenderweise an die nicht mehr vorhandene Stadtmauer erinnerte. Um das System der Stadtmauer und der Stadttore zu erfassen, dazu musste ich mein Vorstellungsvermögen bemühen. Drei Stadttore umfassten die mittelalterliche Stadt: das Judentor auf der Hindenburgstraße, das Weihertor unterhalb des Abteibergs und das Viersener Tor am Ausgang des Alten Marktes.
Eigentlich hatte der Alte Markt seinen Namen gar nicht verdient. Nach den Kriegszerstörungen waren alte Gebäude eine Seltenheit, und unauffällige in Weiß-, Gelb- und Blautönen gehaltene Häuserreihen, hier und da von rotem Ziegelmauerwerk unterbrochen, umstanden den schmalen und um so mehr in die Länge gestreckten Platz. Historisch war nur eine Erinnerung: auf dem Pflaster des Marktplatzes war der Grundriss des kleinen Rathauses zu sehen, das zu Beginn des 19. Jahrhunderts einstürzte. Ein kleines Stück war der Alte Markt historisch, was die jüngere Fußballgeschichte betrifft. Mönchengladbach verbindet man ja gemeinhin mit Fußball, und eine Hinweistafel, die auf der sogenannten deutschen Fußball-Route liegt, erinnerte an die großen Fußball-Zeiten von Borussia Mönchengladbach. Obschon Schönheit und Atmosphäre fehlten, stand der Alte Markt im Zentrum meiner persönlichen Leidenschaften. Wenn ich verliebt war, verbrachte ich mit meinen Angebeteten schöne Abende in Restaurants und Cafés am Alten Markt, so auch mit meiner Ehefrau.
zum Museum Abteiberg (oben links), Wasserturm auf der Viersener Straße (oben rechts),
Kaiser-Friedrich-Halle (Mitte links), Hindenburgstraße (Mitte rechts),
niederländischer Imbiss (unten links), Hauptbahnhof (unten rechts)
Als ich den Alten Markt zur Aachener Straße verließ, stieß ich dann doch auf ein einsames, historisches Gebäude. Das Torwärterhaus war vom Prinzip her so alt wie die Stadtmauer, denn es war vor die Stadtmauer gebaut worden, um Personen und Waren, die das Stadttor passieren wollten, zu kontrollieren. Das Torwärterhaus war nicht immer so bezeichnet worden, so zum Beispiel in einer Urkunde aus dem Jahr 1589, die das Gebäude als „Pfortzener“ – was für „Pförtner“ steht – beschreibt.
Da ich den Wasserturm mit seinen Jugendstilornamenten auf der Viersener Straße in Augenschein nehmen wollte, verließ ich das Stadtgebiet, welches einst den mittelalterlichen Stadtkern umfasste. Über die große Kreuzung hinweg schritt ich und kam an de Bethesda-Krankenhaus vorbei, wo meine Mutter eine Augenoperation über sich ergehen lassen musste. Die Viersener Straße, über dessen geradlinigen Verlauf der Wasserturm von der Ferne zu sehen war, umstanden Gebäude aus der 1900er-Jahrhundertwende, deren Fassaden sich schön heraus geputzt hatten. Der Wasserturm begeisterte mich mit Allegorien und Symbolen, die mit dem Wasser zu tun hatten: ein Krebs, ein Wassermann oder ein Walroß waren auf die Ziegelsteinfassade aufgesetzt. Über den botanischen Garten und an der Kaiser-Friedrich-Halle tändelte ich zum Hauptbahnhof zurück. Um meinen Hunger zu stillen, schlenderte ich an der niederländischen Frittenbude, am Ende der Hindenburgstraße zum Hauptbahnhof gelegen, vorbei.
Super-lecker schmeckten die Fritten, zum Essen hockte ich mich draußen an die Tischgarnitur, wobei ich lauschen konnte, wie eine vierköpfige Familie ihre Leidenschaft für Computerspiele untereinander teilte. Sie diskutierten über die Levels, die sie erreicht hatten. Welche Grafikkarten optimale Farbeffekte ermöglichten. Über Spiele, die mir überhaupt nichts sagten, mit Ausnahme des Spiels „rain man“. Dustin Hoffmann ließ mit seinem Film grüßen, den ich vor sehr langen Zeiten im Kino gesehen hatte.