der Karnevalszug in unserem Ort
Zu der Schar der Jecken auf dem Bürgersteig hatten wir uns dazu gesellt, als die Karnevalsstimmung in Schüben anschwoll. Eine fünfköpfige Gruppe von Jecken querte die Straße, aus der das Schwergewicht eines verkleideten Engels heraus stach. Das Engelskleid betonte die dicke, schwere und runde Körpergestalt, auf dessen Kopf die gelockte Perrücke das Alter schwer erraten ließen. Wenn wir das Alter der übrigen vier Jecken als Maßstab heran gezogen hätten, hätte er Ende vierzig sein können, doch seine Gesichtszüge waren noch zart und jugendlich. Spontan und improvisiert, noch bevor das Polizeiauto und der erste Wagen „Dr Zoch kütt“ auflief, benötigte man nicht viel, um Karneval zu feiern. Das Transisterradio im Schlepptau hingen sie an seinem Trageriemen über das Markierungsschild einer Straßenlaterne, die Stiummungsmusik dudelte los, das Dosenbier floss und die Gruppe sang zusammen los.
Als wir unserer Tochter einen Stoffbeutel für die Kamelle aushändigten, den ich als „Büggel“ bezeichnete, diskutierten wir mit ihr über das Kölsch und den Dialekt. Wir, die wir selbst nur einige Wortbrocken des Dialektes mächtig waren, suchten ihr das Kulturgut des Dialektes zu vermitteln. Das Selbstverständnis das Dialektes habe sich gewandelt. Noch in unseren Schulzeiten galt es als verpönt, Dialekt zu sprechen. Hochdeutsch war Pflicht, und Dialekt galt als eine Sprache der Unterschicht. Der Karneval hat den Dialekt wieder höher bewertet. Die Menschen verbinden Heimat und Bodenständigkeit mit dem Dialekt. Karneval ohne Dialekt – da würde das Salz in der Suppe fehlen.
Aufmunternde Worte „wir begrüßen Euch alle am Straßenrand und wir wünschen Euch vill spass“ eröffneten den Karnevalszug am Karnevalssonntag. Auf dem Bühnendach einer Lokomotive positioniert, hielten die beiden Herren des Festkommittees ein Mikrofon in der Hand. Rote Schals mit der weißen Aufschrift „Festkommittee“ baumelten um ihre Hälse, mit ihrer schwarzen Schaffnermütze hatten sie das Geschehen auf ihrer Lokomotive vollkommen im Griff.
D'r Zoch kütt (oben links), Trommler- und Pfeifencorps aus den Niederlanden (oben rechts),
geflügeltes Zebra (Mitte Links), Kaffeefahrt Vürjebirch (Mitte rechts), Brings (unten links), Pegasos (unten rechts)
Karneval ist ja bekanntermaßen international. Das demonstrierte eine Fußgruppe mit ihrer Maskerade, die sie den Karneval in Venedig miterleben ließ. Das Trommlerkorps aus den Niederlanden, welches dem Festkommittee folgte, demonstrierte die Weltoffenheit des Karnevals ebenso. Über Jahrzehnte waren sie Teil des Karnevals in usnerem Ort geworden, und in den Vorjahren hatte ich gelesen, dass sie aus Hendrik-Ido-Ambacht kamen, einer protestantischen, vom Karneval vernachlässigten Gegend in der Nähe von Rotterdam. Bei uns im Rheinland suchten und fanden sie den Karneval, so wie er in den Niederlanden nur in den südlichen Landesteilen in der Grenzregion zu Deutschland erlebbar war.
Ordentlich ging die Post ab bei den Abiturientinnen und Abiturienten des Kopernikus-Gymnasiums Niederkassel. Ihr Abi-Motto „BACABI – alles ist Rum“ hatte auf dem Anhänger ihrer Schulzeit definitiv ein Ende gesetzt, und so schwarz wie die Fledermäuse, die ihr Abi-Motto umgaben, waren auch ihre Umhänge, in denen sie ihr noch zu bestehendes Abitur in 2018 vorfeierten. „Sieben Tage lang“ dröhnte es aus dem Lautsprecher. Das Volkslied, das kurzerhand in einen Gassenhauer umfunktioniert worden war, versetzte sie in eine vor-abiturliche Feierstimmung. Voller Extase, hoben sie ihre Arme, sangen mit und tanzten sich ihren vor-abituriellen Stress von der Seele.
Bodenständigkeit und Heimat – das beschworen all die anderen Karnevalslieder, die Fußgruppen und die Karnevalswagen in das Volk hinein schmetterten. Dass Köln der Nabel der Welt war, das Maß aller Dinge, wohin sich alles orientierte, das war schier unüberhörbar. „Mer losse der Dom in Kölle“, „Viva Colonia“, „Us de Stadt met K“, in einer Stimmungsmusik und zum Mitsingen verpackt, machte sich Köln zum selbst ernannten Zentrum der Welt. Was lag näher, als diesen Mittelpunkt der Erde als Herz zu identifizieren ? „Et hätz bliev in Kölle“, so hatten die Höhner gesungen. Noch viel schöner konnten die „Bläck Fööss“ dieses Herz besingen, indem sie es mit dem rheinischen Grundgesetz verbanden. „Et hätt noch immer jot jejange .. selvs wenn die welt ens ungergeiht … mir han e Hätz für Kölle“, die Kölsche Eleganz und das Kölsche Selbstwertgefühl schallte mit der butterweichen Stimme des Sängers Mirko Bäumer aus Lautsprecherboxen auf dem Karnevalswagen des Theatervereins, der in die Zeit des Rokoko zurück führte. Ein Pferdegespann mit zwei weißen, aus Holz nachgebauten Schimmeln schritt dem Wagen voran. Eine rot-gelbe Front von Papierblumen rahmte die Ladefläche ein, wo die Frauen weiße Perrücken trugen, während die Männer jede Menge Strüßcher unter die Menge schmissen.
Wagenbauer und Fußgruppen hatten sich manches einfallen lassen, um „jecke“ Stimmung aufkommen zu lassen. Mit dem Bus gingen die als alte Damen getarnten Teilnehmerinnen auf Kaffeefahrt. Aber nicht an einen prominenten und viel besuchten Ort, sondern ins „vüürjebirch“. Dabei saßen die Kaffeetanten nicht bequem, sondern mussten im Fußmarsch den Holzrahmen ihres Busgefährts noch antreiben zu ihrem Ziel, das gerade einen Katzensprung über den Rhein entfernt lag.
Irgendwo zwischen der Bonner Kennedybrücke und der Kölner Hohenzollernbrücke hatten die „Laachdüüvjes“, das Damenkommittee im Karneval, ihre Idee her geholt und Liebesschlösser um ihren Oberkörper gehängt. Wie auf den richtigen Liebesschlössern, zierten sie sich mit ihren Vornamen, die von lauter kleinen Herzen umgeben waren.
Etwas abgegriffen war das Wagenmotiv eines Piratenschiffs, welches allerdings verriet, dass hinter dem abgerundeten Schiffskörper jede Menge Arbeit steckte. Wie viele Mannstunden waren wohl gebraucht worden,um Bug, Heck, Segel und Rahmast zusammen zu zimmern ? Wie viel Mühe steckte dahinter, um die abgerundete Form der Holzdielen von Bug und Heck hinzubekommen ? Auf dem Piratenschiff wurde der Gassenhauer von Kasalla zum Dauerbrenner. „Piraten Ahoi, dree mol Kölle Ahoi“, schmetterte es aus Lautsprechern.
Eine musikalische Gestaltung als Fußgruppe hatte sich der Wassersportverein einfallen lassen. Unter dem Motto „der WSV bringts“ hatte sich die Fußgruppe in ihrem schwarz-rot karierten Outfit als „Brings“ verkleidet. So wie man Brings Live auf der Bühne erleben konnte, prägten vor allem Hosen, Krawatten und Schlapphüte mit ihrem Viereckmuster die Fußgruppe.
Das Pferdegespann hatten die „Kaasler Mädche“ sich vom Wagen des Theatervereins abgeschaut, doch diesmal verlief die Zeitreise ambivalent. Das war eine zündende Kombination, wie einerseits ein Pferdegespann mit springenden Hufen und Flügeln als Pegasos aus der griechischen Antike dargestellt war. Andererseits war aber die Staubwolke, die das Pferdegespann aufwirbelte, dermaßen dick, dass sich in einem Beschleunigungsvorgang ein Düsenantrieb anschloss. Flog das Zweiergespann von Pegasos mit dem Düsenantrieb in unserer Gegenwart etwa weit in das Weltall hinein ?
Liebesschlösser (oben links), Popcorn-Fußgruppe (oben rechts), Feuerwehr (Mitte links), Aras bunt wie et läve (Mitte rechts), Karnevalsprinz (unten links), Aufräumen (unten rechts)
Überhaupt waren es die Vereine, die dem Karnevalszug auf die Beine halfen. Verschönerungsverein und Kolpingfamilie, Sportverein und Cheerleader, Feuerwehr und Knochenbrecher, kein Verein durfte fehlen. Der Zug zählte an die tausend Teilnehmer, darunter verkörperten die Freizeitkicker vom Abtsberg die Lebensphilosophie der Papageien, die gleichzeitig auf den Karneval anzuwenden war. Einfach nur bunt sollte es zugehen. „Aras bunt wie et läve“, so betonten sie ihr Motto, wozu neben ganz viel Farben auch ein Fass Kölsch gehörte. Auf ihrem Mottowagen hockte die blau-gelb gemalte Gestalt des Papageien auf dem Fass, womit er so fest verbunden war wie die Karnevalsjecken mit dem Kölsch. Die Fußgruppen ließen nicht nach, den Karnevalszug mit ihren Einfällen und ihren Kostümen zu beleben. Mit der Showtanzgruppe Rhythmocada wurden die Verkleidungen extravagant. Popcorn war ihr Thema, eine Tüte Popcorn steckte auf ihren Köpfen, vom Tütenrand quollen die aufgeblasenen Maiskörner heraus. Rot-weiß-gestreift waren ihre Kostüme, passend zu den Farbstreifen der Popcorn-Tüte.
Bevor der Karnevalsprinz als Abschluss des Karnevalszuges die Besucher mit Kamelle überschüttete, ließen es sich Fußgruppen von Bläser-, Trommler- und Pfeifengruppen, die in abstinenten Gebieten des Karnevals beheimatet waren, nicht nehmen, an dem Karnevalszug in unserem Ort teilzunehmen. Auf diese Art und Weise durfte ein Musikcorps aus dem Saarland, genau gesagt aus Boxberg, den Geist des Karnevals miterleben.
Als wir unseren Standort verlagerten, nachdem uns der Wagen des Karnevalsprinzen mit Süßigkeiten zugeschmissen hatte, merkte man den Zugteilnehmern die Anstrengungen an. Nicht allzu weit vom Ort der Auflösung des Karnevalszuges entfernt, verlangsamten sich die Bewegungen, das Gefolge von Wagen und Fußgruppen geriet immer häufiger ins Stocken. Der Karnevalszug dehnte sich in die Länge und die großen Fußgruppen kostete es Mühe, ihre Einheit zusammen zu halten. Am Wegesrand wurde so viel Schnaps vertilgt, dass es einigen Zugteilnehmern an einer klaren Orientierung und einer klaren Marschrichtung fehlte. Auch die Kinder, die in bestimmten Fußgruppen mitmachten, stand die Müdigkeit bei ihrem Gang in ihren Gesichtern.
Doch ein wirklicher Karnevalist zeigt in solchen Situationen ein unglaubliches Durchhaltevermögen. Der Alkohol weckt nicht für möglich gehaltene Lebensgeister. Es gab Zugteilnehmer, die blühten in solchen Zeiten von Pausen, Stillstand und Verzögerungen erst richtig auf. Das gab Gelegenheit, die Musik voll aufzudrehen und Karnevalsschlager von vorne bis hinten auf derselben Stelle mitzusingen. Tanzgruppen waren in ihrem vollen Element und tanzten drauf los, was das Zeug hielt.
Die Ordnung war zwar verloren gegangen, aber das Karnevalstreiben wurde noch bunter, noch fröhlicher und noch ausgelassener. Alle Jecken vereinigten sich und schworen auf den Karneval.