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die Einsturzstelle des Kölner Stadtarchivs

Als ich an jenem 3. März 2009 von einem Vor-Ort-Termin in der Sternengasse in der Kölner Innenstadt zurückkehrte, ereilte mich zu Hause die Nachfrage meiner Ehefrau, ob alles in Ordnung sei. Ja, entgegnete ich wahrheitsgemäß, dass mit mir alles in Ordnung sei. Doch ich war mir dessen bewusst, dass in unserer schnelllebigen und von Schlagzeilen überhitzten Zeit, wenn man vom Nachrichtenfluss abgekoppelt ist, Katastrophen und andere schicksalhafte Ereignisse ihren Lauf nehmen können. Ich hatte keinen blassen Schimmer, dass die Katastrophe oder das andere schicksalshafte Ereignis genau um 13.58 Uhr geschehen war. Wäre ich nach dem Vor-Ort-Termin aus der Sternengasse zu Fuß nicht nach links zum Hauptbahnhof abgebogen, sondern nach rechts auf die Hohe Pforte, dann hätte ich in wenigen Gehminuten den Trümmern der Katastrophe ins Auge geblickt.

Kurz vor 14 Uhr waren es an jenem schicksalsträchtigen 3. März 2009 aufmerksame Bauarbeiter, die ein Gespür für die sich zusammen brauende Katastrophe hatten und weitaus Schlimmeres verhinderten. Die Dinge nahmen ihren Lauf auf der Höhe der neu geplanten Nord-Süd-U-Bahn vom Hauptbahnhof in den Kölner Süden. Massen an Erdreich waren ausgebuddelt worden, Spezialmaschinen hatten Tunnel zwischen den neuen U-Bahn-Stationen Heumarkt und Waidmarkt gegraben. Besonders tief, nämlich 25 Meter, reichte vor der U-Bahn-Haltestelle Waidmarkt die Baugrube in den Abgrund, weil dort eine sogenanntes Gleiswechselbauwerk gebaut werden sollte, eine Kehranlage, auf der U-Bahn-Züge auch unterirdisch wenden konnten. Das Bauvorhaben war so größenwahnsinnig, dass es technisch sehr aufwändig war, den Baustellenbetrieb aufrecht zu erhalten. Grundwasser drückte in das riesige unterirdische Loch hinein, das dann von Schlitzwänden abgehalten wurde, Pumpen liefen im Dauerbetrieb.

Erinnerungstafel

Die beiden Bauarbeiter, vertraut mit der Baustelle im Untergrund, spürten sofort, dass an jenem schicksalsträchtigen 3. März 2009 etwas nicht stimmte. Es gluckste und blubberte im U-Bahn-Schacht, und die Bauarbeiter bemerkten, dass Wasser in der Baugrube stand. Wasser drohte das Erdreich zu unterspülen, und genau auf diesem Erdreich stand das Kölner Stadtarchiv. Geistesgegenwärtig, wie die beiden Bauarbeiter waren, räumten sie das Stadtarchiv. Stockwerk für Stockwerk, Büroraum für Büroraum, und ihnen gelang es sogar, den hinteren flachen Archivanbau mit dem Lesesaal, in dem sich die meisten Mitarbeiter aufhielten, vollständig zu räumen. Es dauerte nicht lange, als alle Menschen im Freien in Sicherheit standen, dass die Fassade zu bröckeln begann. Steine rieselten herunter, sie lösten sich aus dem Mauerwerk, Risse zogen sich über die Fassade. Dann stürzten die sieben Stockwerke des Stadtarchivs ein. Gleichzeitig stürzten die Fassaden von zwei Nachbarhäusern ein, die direkt an das Stadtarchiv angrenzten. Die beiden Bauarbeiter konnten nicht ahnen, dass sie auch die Bewohner dieser beiden Nachbarhäuser hätten warnen müssen. Fast alle Bewohner der beiden Mehrfamilienhäuser waren auf der Arbeit oder anderweitig außer Haus, nur ein 17 Jahre alter Bäckerlehrling und ein 24-jähriger Designstudent hielten sich in ihren Dachgeschosswohnungen auf und wurden unter den Trümmern begraben. Tage später fand man ihre Leichen.

Es gab aber nicht nur Tote und Obdachlose, deren Wohnungen eingestürzt waren, sondern mit dem Einsturz ging eines der größten Kommunalarchive Europas in Trümmern unter. Zum Bestand gehörten Herrscherurkunden und Handschriften, darunter 65.000 Pergamenturkunden, 104.000 Karten, wertvolle Schriften und eine halbe Million Fotos. Bereits im Jahr 1406 beschloss der Kölner Stadtrat, dass städtische Urkunden und Privilegien sicher im Rathausturm aufzunehmen seien. Der Bestand an Urkunden und Schriften wuchs ordentlich, so zum Beispiel, als der Hansetag 1593 beschloss, einen großen Bestand von Urkunden und Akten der Hanse in die sicheren Mauern Kölns zu bringen. Das Stadtarchiv, das 1971 zum Waidmarkt verlegt worden war, beherbergte zudem zahlreiche Familiennachlässe, darunter die Briefe des Schriftstellers Heinrich Böll, Briefe von Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Karl Marx und Friedrich Engels sowie die Nachlässe der Komponisten Jacques Offenbach, Max Bruch und Ferdinand Hiller.

Pfusch am Bau, Klüngel, Schlamperei ? An der Grube, die sich in Tiefendimensionen öffnet, führen tonnenschwere Rohre vorbei. Baucontainer stapeln sich in zwei Reihen übereinander, Bautreppen weisen, hoch in der Luft schwebend, wagemutig in die Tiefe hinab, Gerüstkonstruktionen kleben an den Innenwänden.

Besichtigungsbauwerk

Fahrlässige Tötung, Fälschung und Betrug ? Der Einsturz wurde rasch zu einem Fall für die Staatsanwaltschaft. Doch die Beweislage gestaltete sich schwierig. Die Aufsicht des U-Bahn-Baus hatte die Düsseldorfer Bezirksregierung an die Stadt Köln übertragen, welche sie weiter an die Kölner Verkehrsbetriebe deligierte, die gleichzeitig Bauherr waren. Die Bauherrentätigkeit wurde dann im Tagesgeschäft von Architekturbüros, Ingenieuren und Architekten übernommen. Die Staatsanwälte mussten die Herausforderung bewältigen, über all diese bürokratische Strukturen und Verantwortungen eine saubere Argumentation zu Straftatbeständen über zu leiten. Die Beweisführung gestaltete sich wie bei der Reise nach Jerusalem: jeder schob Schuld und Verantwortung von sich weg, weil andere, neue Handelnde beteiligt waren. Die Beweiskette der Handelnden, wovon niemand Schuld war, wuchs dann zu einem endlosen Rattenschwanz von Beteiligten an, wozu dann neben Ingenieuren, Architekten und Bauleitern auch jede Masse von Firmen, Einzelgewerken, Unternehmer, Subunternehmer und Arbeiter gehörten. Um einen Griff an die Beweisführung zu bekommen, wurde im letzten Jahr das Besichtigungsbauwerk fertiggestellt. Dort konnten Taucher in den Untiefen der Baugrube das Eindringen von Grundwasser untersuchen. Eine Undichtigkeit in einer Schlitzwand könnte das auslösende Moment für die Katastrophe gewesen sein. Erdreich und Untergrund wurden untersucht, das Eindringen von Wasser wurde simuliert. Der Staatsanwaltschaft steht ein höchst schwieriges Unterfangen bevor, gegen das Spezialwissen von Ingenieuren auf einer höchst komplexen, technischen Ebene argumentieren zu müssen. Auch wegen der Verjährungsfrist könnte es geschehen, dass die Staatsanwälte im Endergebnis mit leeren Händen dastehen: nach zehn Jahren, im März 2019, müssen die Urteile gefällt sein, denn dann läuft diese Frist gnadenlos ab.

An der Einsturzstelle wurde das Versagen und die Fehler der Verantwortlichen wieder lebendig. Hat die Stadt Köln jemals einen Skandal in einem solchen Ausmaß erlebt ? Schon das Projekt an für sich verriet Größenwahnsinn. Unter einem sandigen Untergrund in der Nähe des Rheins, wo die Römer sich nicht getraut hatten, ihre Häuser sicher zu bauen – nämlich in der Kölner Altstadt – wurde nun der Neubau einer U-Bahn realisiert. Während des U-Bahn-Baus sollen Eisenbügel in einer nicht unerheblichen Größenordnung von der Baustelle geklaut worden sein, um diese gewinnbringend zu verscherbeln. Bauprotokolle waren gefälscht worden, statt genehmigter 4 Brunnen wurden 23 Brunnen zum Abpumpen von Grundwasser betrieben. Im Oktober 2004 hatte sich der 44 Meter hohe Turm der Kirche St. Johann Baptist, unter dem Versorgungsleitungen zur U-Bahn gebuddelt worden waren, um 77 Zentimeter zur Seite geneigt – deshalb erhielt er den Spitznamen „der schiefe Turm von Köln“. Im September 2008 war erstmals Grundwasser in die Baugrube vor dem Magazingebäude des Stadtarchivs eingedrungen. Schon während der Bauarbeiten hatte sich das Gebäude des Stadtarchivs zwischen 17 und 20 Millimeter abgesenkt, davon alleine im Februar 2009 um sieben Millimeter innerhalb von 24 Stunden. Seit Sommer 2008 haben Mitarbeiter im Magazin des Stadtarchivs Setzrisse festgestellt, die sie der Stadtverwaltung mitgeteilt hatten – jedoch ohne eine adäquate Reaktion. Im Dezember 2008 hatte ein Ingenieurbüro aus Leverkusen diese Setzrisse untersucht, deren Anzahl sie auf acht bezifferte. Sie erklärte die Setzrisse für unbedenklich, diese Setzrisse sollten aber ein Sachverständiger für Bauwerksschäden begutachten. Was dann nicht geschah. Dem folgte dann im März 2009 die große, mithin vorhersehbare Katastrophe.

Derweil setzt sich das Aufarbeiten und das Aufräumen mit der Vergangenheit fort. Erst vor kurzem, im Mai diesen Jahres, ist es der Staatsanwaltschaft gelungen, Anklage gegen sieben bauausführende Personen zu erheben. Die Staatsanwälte glauben beweisen zu können, dass die Schlitzwand, die das Eindringen von Grundwasser verhindern sollte, fehlerhaft war. Durch einen sogenannten hydraulischen Grundbruch soll das Wasser in die Baugrube eingedrungen sein. Angeklagt sind zwei Arbeiter, die die Baugrube an dieser Stelle zu tief ausgehoben haben sollen, sowie fünf Bauleiter, die Kontroll- und Überwachungsaufgaben ausübten. Ihnen seien die Fehler in der Schlitzwand nicht aufgefallen.

Stadtarchiv vor dem Einsturz

Die Wiederherstellung des Archivgutes schreitet indes nur sehr langsam voran. Es konnten zwar 95% der Dokumente und Urkunden geborgen werden, aber davon ist eine Hälfte schwer beschädigt und ein Drittel sind zerstört worden. Die Fundstücke wurden ausgelagert auf zwanzig Asylarchive in ganz Deutschland. Der Aufwand ist enorm, Papierschnipsel und Papierfetzen zu den Originaldokumenten zusammen zu fügen. Wie in der Kölner Stadtgeschichte, ziehen sich die Zeithorizonte in die Länge. Dreißig Jahre soll es wohl dauern, bis die Dokumente in einem Zustand sind, die mit demjenigen vor dem Einsturz vergleichbar sind. Man schätzt den Aufwand auf 6.300 Personenarbeitsjahre.

Immerhin: ein wichtiges Dokument aus der Kölner Stadtgeschichte, nämlich der historische Verbundbrief aus dem Jahr 1396, konnte gerettet werden. In diesem Verbundbrief gab sich Köln zum ersten Mal eine eigene Verfassung, die sich die Gaffeln und Zünfte selbst ausgearbeitet hatten und die 400 Jahre lang in Kraft bleiben sollte. Gaffeln und Zünfte gaben Macht und ihre Befugnisse an den Rat der Stadt Köln ab, wobei aber umgekehrt die Stadtverordneten einer Gaffel oder Zunft angehören durften. Die Kölner Bürgerschaft hatte so das Sagen übernommen, mit dem Bürgermeister als höchsten Repräsentanten der Stadt.

Bedeckt halten sich alle, was die Kosten betrifft. Allgemein kursiert ein mit dem Einsturz zusammen hängender Schaden von 1,2 Milliarden Euro, ein Betrag, bei dem ein mittelständisches Unternehmen Konkurs anmelden müsste, wenn dieser in der Kasse fehlen würde. Über weitere Kosten des U-Bahn-Baus will niemand etwas wissen. Mit dem Einsturz sind bauliche Aktivitäten zum Erliegen gekommen. Die Verantwortlichen reden vielleicht über eine Fertigstellung der Nord-Süd-U-Bahn im Jahr 2023. Schaut man in die Ursprungsplanungen hinein, hätte dies längst geschehen sollen. In diesen Planungen steht das Jahr 2011.

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