Besuch der Ausstellung "Touchdown" in der Bundeskunsthalle
Beinahe selbstständig, kommt Julian in seiner Wohnung zurecht, nur bei einzelnen Tätigkeiten hilft ihm ein Betreuer. Damit er sich orientieren kann, dazu braucht er seinen Schlüsselbund. Für Verena ist der Wecker ihr Orientierungspunkt. Er zeigt an, wie viel Zeit ihr noch zur Verfügung steht, welche Dinge sie innerhalb dieses Zeitkontingents erledigen kann, wie viel Zeit sie bereits verbracht hat und wann es Zeit zum Schlafengehen ist. Für Daniel hat der Touchdown-Ball eine spezifische Bedeutung. Beim American Football fängt ein Spieler den Touchdown-Ball, er bringt ihn über die Hinterlinie des Spielfeldes und sammelt so Punkte, so wie Tore ein Fussballspiel entscheiden können. Das Forschungsteam, dem er angehört, benutzt den Touchdown-Ball, damit derjenige, der den Ball festhält, das Wort hat.
Sachsenspiegel aus dem 14. Jahrhundert; Leihgabe aus der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel
Menschen mit Down-Syndrom haben ihre Alltagsgegenstände, an denen sie sich orientieren. In Vitrinen liegen die „Dinge“, wovon sich jeder seine eigene, individuelle Vorstellung macht. Die Dinge helfen im Alltag, sie besitzen tiefe Sinnzusammenhänge und sind ein Stück Normalität, dass Menschen mit Down-Syndrom Bestandteil unserer Gesellschaft sind. Unter diesen Alltagsgegenständen hat der Touchdown-Ball der Ausstellung ihre Überschrift gegeben.
Die Ausstellung beschreibt in sieben Kapiteln die Geschichte der sogenannten Trisomie 21, diesem Gendefekt, bei dem das 21. Gen dreifach anstelle zweifach vorkommt, und entnimmt die Erzählung aus dem Weltraum: eine Mission von Downsyndrom-Astronauten kommt aus der Zukunft und schaut sich das Leben auf der Erde an. "Wir wollen heute wissen, wie man in Deutschland lebt, als Mensch mit Down-Syndrom. Wo will ich hin? Was erwarte ich? Was fordere ich? Was bin ich bereit zu tun, damit mein Leben so ist, dass es mir gut geht?" Auf diese Fragestellungen suchen die Downsyndrom-Astronauten Antworten. Das Geschehen rollt dann in comic-ähnlichen Figuren von den Wänden ab.
Die Ausstellung bezieht Menschen mit Down-Syndrom in die Ausstellung ein, sie beschreibt umfassend Menschen mit Down-Syndrom und vermittelt eine Vielzahl von historischen und wissenschaftlichen Fakten. Ein Holzschnitzer hat eine Holzskulpturen eines Menschen mit Down-Syndrom heraus gearbeitet, eine Fotografin zeigt Großeltern mit ihren Enkelkindern, die das Down-Syndrom haben. Es gibt eine ganz Gruppe von Kunstwerken, die sich mit Themen wie Nähe, Liebe und Partnerschaft beschäftigten.
Der Bogen, den die Ausstellung spannt, ist sehr weit. Was hat der Sachsenspiegel aus dem 14. Jahrhundert mit dem Down-Syndrom zu tun ? Dieses bedeutende Gesetzeswerk aus dem Mittelalter belegt, dass Menschen mit Behinderungen Rechte zustehen: „An Schwachsinnige oder Zwerge erstirbt weder Lehen noch Erbe, auch nicht an ein verkrüppeltes Kind. Wer dann die Erben sind und die nächsten Blutsverwandten, die sollen sie in ihre Obhut nehmen.“ Ein früher Aufruf, sich um solche Menschen zu kümmern. Oder die Austellung sucht in einer Steinfigur aus Mexiko um 1.200 vor Christus die Gesichtszüge eines Kindes mit Down-Syndrom hinein zu interpretieren.
oben: von John Langdon Down geführte Krankenakte, Susanne Kümpel "mon chéri für Dich", Ausstellungsplakat,
Mitte: Rentnerehepaar, leere Gläser, in denen Gehirne konserviert wurden, Holzskulptur
unten: Fotogalerie, Alltagsgegenstände, Foto aus dem Jahr 1880
Die Ausstellung veranschaulicht die Trisomie 21 mit Hilfe eines riesigen Chromosomenteppichs, den die Künstlerinnen Jeanne-Marie Mohn und Elizabeth Coleman-Link gestrickt haben. Ein sogenanntes Karyogramm stellt die Chromosomen in der Reihenfolge ihrer Nummerierungen zusammen. Am 8. April 1965 richteten neunzehn Menschen Menschen mit Down-Syndrom einen Brief an die Zeitschrift „The Lancet“, in dem sie den damals gebräuchlichen Begriff „Mongoloid“ anprangerten. Der Verweis auf die Mongolei sei inhaltlich falsch, da Menschen aus der Mongolei dieselben Gene besitzen wie diejenigen in der übrigen Welt. Unterschiedlich sei das Erbgut, was jeden Menschen auf der Welt betreffen könnte. Mit derselben Begründung beschwerte sich die Mongolei 1965 bei der Weltgesundheitsorganisation, den Begriff aus dem Vokabular zu streichen. Daraufhin verfügte die Weltgesundheitsorganisation, fortan nur noch den Begriff „Down-Syndrom“ zu verwenden.
Die Bezeichnung „Mongoloid“ geht auf den britischen Arzt John Langdon Down zurück, der das Aussehen um 1860 wie sein Vorgänger Friedrich Blumenbach 1789 mit den Mongolen in Verbindung brachte. Down’s Studien, der das Down-Syndrom systematisch erforschte, bilden einen Schwerpunkt der Ausstellung. Er beobachtete Aussprache und Wortwahl, Anatomie und Bewegungen, Lernverhalten und kognitive Fähigkeiten. Er beobachtete, wie und mit was Kinder spielten, er hielt die Gesichtszüge auf Fotos fest. Details notierte er in Patienten-Akten. 1859 gründete er ein Heim für Menschen mit den von ihm beobachteten Behinderungen.
Es mag allgemein irritieren, dass Menschen mit Down-Syndrom vom Prinzip her sehr intelligent sein können. Weitgehend können sie lesen, schreiben, rechnen. Merkfähigkeit und Gedächtnis sind fast normal ausgeprägt. Sie lernen langsamer und haben Schwierigkeiten mit komplexen, abstrakten Denkprozessen. Es gibt Menschen mit Down-Syndrom, die das Abitur geschafft haben. Ein Spanier hat mit Down-Syndrom sogar einen Universitätsabschluss erlangt und unterrichtet als Lehrer.
Lange Zeit hat die Gesellschaft Menschen mit Down-Syndrom diskriminiert. „The mental affections of children: idiocy, imbecility and insanity“, unter diesem Titel, der als „idiotisch, geistesschwach und schwachsinnig“ übersetzt werden konnte, erschien 1898 in England ein Buch, welches Menschen mit Down-Syndrom in entwürdigenden Fotografien zeigte. Unter den Nationalsozialisten sollte es allerdings noch schlimmer kommen. In deren Rassewahn wurden Menschen mit Down-Syndrom zu Ballast-Existenzen und zu Untermenschen. In Kliniken wurden so manche im Rahmen des Euthanasie-Programms ermordet. Die Angehörigen erreichten dann Briefe, die den Tod diffus mit einer schweren, unheilbaren Krankheit umschrieben. Aus diesem düsteren Kapitel der deutschen Vergangenheit zeigt die Ausstellung leere Gläser, in denen die Gehirne begutachtet und konserviert wurden. Die Gehirne wurden mittlerweile bestattet.
Chromosomenteppich
Die Ausstellung, die noch bis zum 12. März zu sehen ist, öffnet dem Besucher die Augen für eine Menschengruppe, die allzu gerne an den Rand unserer Gesellschaft geschoben wird. Maßgeblich mitgewirkt haben die Autoren des Bonner Magazins "Ohrenkuss" und Vertreter des Forschungsprojektes "Touchdown 21". Die Ausstellung vermittelt einen objektiven Wert dieser Menschen mit Down-Syndrom und wie wir mit der Abweichung und der Differenz dieser Menschen umgehen sollen.