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verrückt, geistig verwirrt, besoffen, drogenabhängig ?

Es war ein undeutliches Lallen, das seinem Mund entwich. Seine Sprache stockte, einzelne Laute sammelten sich in unbeholfenem Wortfluss und brachen dann unvermittelt ab. Das erinnerte ein wenig an unsere Kinder, als sie noch im Babyalter waren: als sie laufen lernten, noch bevor sie sprechen konnten, hatte es ihnen sichtlich Spaß gemacht, Laute zu formen, die sie dann in aller Herzlichkeit hinaus posaunten. Strahlend schauten unsere Kinder im Babyalter uns dann an, wenn diese undefinierbare Abfolge von Lauten aus ihrem Mund entwichen. Eine Improvisation von Sprache, die man noch nicht begreifen konnte und die noch in keinerlei Bedeutung übersetzbar war.

Der junge Mann im besten Mannesalter, der zwischen den Ständen des Weihnachtsmarktes hin- und her streunte wie eine Katze, stieß diese unbeholfene Laute aus, so wie ein kleines Baby. Mitteilungsbedürfnis und Sprache harmonisierten aber nicht zusammen, so dass er in seiner Gestik das zu übersetzen suchte, was seine Sprache nicht zu sagen vermochte.

Er zeigte Mut, als er sich den Passanten zuwandte. Wie wild fuchtelte er mit seinen Händen um sich, dabei drehte er sich, er wendete sich, er zog konzentrische Kreise und stand dann in seinem abgebrochenen Satzbau wie benommen aufrecht. Niemand unter den Passanten konnte ahnen, was er genau wollte. Die Verkäufer am Verkaufsstand mit den Sternen und den Kugellichtern beachteten ihn genauso wenig wie die Passanten.

Szene auf dem Weihnachtsmarkt

Wer war dieser Mann in diesem vernebelten Zustand ? Ein Verrückter ? Ein geistig Verwirrter ? Ein Betrunkener ? Ich ahnte, dass er dem sogenannten Bonner Loch entflohen war, diesem Sammelbecken von Drogenabhängigen, denen man mit ihren entstellten und zusammen gefallenen Gesichtern den Drogenkonsum ansehen konnte.

Ob verrückt, geistig verwirrt, besoffen oder drogenabhängig: an manchen Stellen der Stadt wie im Bonner Loch, wo sich der Schar der Ausgestoßenen regelrecht zusammenballt, kann man glauben, dass ein neues Lumpenproletariat in Lauerstellung liegt. Dabei kann man Lumpenproletariat durchaus so auffassen, wie Karl Marx es getan hat: als eine gesellschaftliche Schicht, die sich absondert und am Rande steht; den Arbeitswelten stehen diese Schichten nicht zur Verfügung, weil sich diese nicht mehr dafür eignen oder weil sie die Arbeitswelten von vornherein ablehnen.

Karl Marx hatte die Personengruppen, die in seiner Theorie des Klassenkampfes zum Lumpenproletariat gehören, abschließend aufgezählt: „Neben zerrütteten Wüstlingen mit zweideutigen Subsistenzmitteln und von zweideutiger Herkunft, neben verkommenen und abenteuernden Ablegern der Bourgeoisie, Vagabunde, entlassene Soldaten, entlassene Zuchthaussträflinge, entlaufene Galeerensklaven, Gauner, Gaukler, Lazzaroni, Taschendiebe, Taschenspieler, Spieler, Zuhälter, Bordellhalter, Lastträger, Lumpensammler, Scherenschleifer, Kesselflicker, Bettler, kurz, die ganze unbestimmte, aufgelöste, hin- und hergeworfene Masse, die die Franzosen la bohème nennen.”

nackter Fuß (Ausschnitt)

Dieses neue Lumpenproletariat mit ihrem inneren und äußeren Selbstzerstörungstrieb mag so eine Art von Bankrott unseres Gesellschaftssystems sein. Unsere sozialen Netze sind erodiert und funktionieren nicht mehr. Die Formen, dass unsere jugend auf Abwege gerät, werden vielfältiger. Das Lumpenproletariat eines Karl Marx setzt sich nun aus Drogenjunkies, Internetjunkies, Hackern, Whistleblowers, der Russen-Mafia, organisierten Formen des Bettelns, Schleppern, Banden von Wohnungseinbrechern, Prostituierten, Zuhältern, Menschenhändlern zusammen.

Der verrückte, geistig verwirrte, besoffene oder drogenabhängige junge Mann mit dem Seitenscheitel setzte sein Spiel fort. Er rückte seine Person auf die Bühne des Weihnachtsmarktes. Ein neuer Versuch, sich dem Publikum zu offenbaren. Obschon es keinerlei Notiz von ihm nahm, suchte er nach seinen schauspielerischen Qualitäten. Eine überraschende Aktion: wohin mit seinem linken Schuh ? Er drückte, quälte, störte vielleicht, und so musste er ihn ausziehen. „Bläck Fööss“ auf dem Weihnachtsmarkt, und so schleifte er seinen, nackten linken Fuß über das Straßenpflaster.

Gleichzeitig präsentierte er dem abwesenden Publikum seinen Schuh. Er hielt ihn in die Höhe, schwenkte ihn hin und her. Dabei verschwamm der Schuh im Dämmerzustand seiner Wahrnehmung.

Machte er sich lächerlich ? Den Ablegern der Bourgeoisie war er entrückt. Er war geradezu revolutionär, auf dem Weihnachtsmarkt dokumentierte er den Auflösungszustand unserer Gesellschaft. Sämtlichen Halt hatte seine traurige Gestalt verloren. Fin de siècle – das Fundament unserer Gesellschaft schwindet.

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