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Musikszene auf Wandplakaten unter der Autobahnbrücke

Die musikalischen Gegensätze hätten kaum größer sein können. In den 1980er Jahren nutze ich die neu gewonnenen Freiheiten. Erster Job, erstes Geld, Wohnen in der Großstadt Köln. Das Leben, das im Überschwang pulsierte, zog mich in Konzertsäle und Konzerthallen. Discomusik und die neue deutsche Welle hatten die handgemachte Rockmusik überholt, doch in großen Hallen und kleinen Sälen suchte ich danach, was von ihr übrig geblieben war. Im Kleinen waren es die Sartory-Säle, nahe am Kölner Friesenplatz gelegen. Im nachhinein hört es sich wie eine Unmöglichkeit der Musikgeschichte an, wem ich Anfang der 1980er Jahre in der häuslichen Atmosphäre des eintausendfünfhundert Zuschauer fassenden Saals gelauscht habe: AC/DC, Marillion und Andreas Vollenweider. Die beiden letzteren Interpreten, die vielleicht nicht jeder kennt, faszinierten mit einer sinfonisch angehauchten Rockmusik – Genesis ähnelnd – sowie Harfe und Percussion.

Handgemachte Musik, überschaubare Konzertsäle, ein durchdringendes Klangerlebnis, direkter Kontakt zum Publikum – an einem seltsamen Ort der blassen und grauen Normalität studiere ich bisweilen, welche Musik in Konzertsälen und Konzertarenen hierzulande in unserer heutigen Zeit angesagt ist. Zeitgemäßen Musiktrends bin ich längst entschwunden. Unsere Kinder haben mir Nachhilfeunterricht erteilen müssen, welche Musikstücke einem Cro, Andreas Bourani oder Mark Forster zuzuordnen sind. So bleibt es nicht aus, dass ich mit einem Ritchie Blackmore, Rick Parfitt, David Gilmour, Steve Howe oder John Anderson weitaus mehr anzufangen weiß als mit Avicii, Groovy 69 oder einem Pharell Williams.

Die blasse und graue Normalität verbirgt sich unter einer ganz banalen Autobahnbrücke. Der Ideenreichtum ist erstaunlich, was sich alles zu Geld machen läßt. Wer hätte gedacht, wozu Bauzäune und Mauern, Straßenlaternen und Brückenpfeiler etwas taugen – und Unterführungen. An diesem Ort von Hektik, Streß, Ungeduld und dieser derben, abstoßenden Oberfläche des Betons, fernab von jeglicher Romantik, formen sich Wände von Plakatwerbung. Über den sechs Spuren der Autobahn dröhnt der Verkehr hinweg. Der Motorenlärm rauscht, brummt, schwillt an und hängt virulent in der Luft. Die Vermarktung ist perfekt organisiert, wie Werbeflächen in Unterführungen angemietet werden können. Eine Hotline im gelben Rahmen mit rotem Hintergrund, die zur Stadtkultur Rhein-Ruhr GmbH gehört, ist Teil der Plakatlandschaft und für solche Anliegen jederzeit erreichbar. Das Spektrum der Musik- und Stilrichtungen ist breit. Alt und neu, kleine Konzertsäle und große Hallen, Open Air und Freilichtbühne, Brahms und mittelalterliche Musik.

Große Stars, kleine Stars. Steve Howe und John Anderson: die Rockgruppe Yes ist aus den 1970er Jahren wieder auferstanden, in einigen Tagen spielt sie in derselben Halle, wo kürzlich der Blötschkopp Marc Metzger aufgetreten ist. Yes war Kult: das Album „Going for the One“ hatte mich in den 1980er Jahren gefesselt, die überladene, sinfonisch geprägte Rockmusik, welche die ätherische Stimme von John Anderson in höchste Tonlagen hinweg schwebte, trieb Steve Howes virtuose Gitarrenklänge vor sich her. Dieser hoch angelegte Spannungsbogen hielt durch, vom ersten bis zum letzten Stück. Das hatten nur wenige Alben in der Rockmusik geschafft.

Es war das Gesamtwerk von Yes, welches mich faszinierte. Hits wie „Wonderous Stories“ waren in den Hintergrund getreten. Die Plakatwand in der Unterführung hat weitere Überraschungen parat. So ziehe ich vor Judy Collins meinen Hut. Nie hat mich ihre Musik interessiert, die viel zu langsam geratene Melodie von „Amazing Grace“ brachte mich eher zum Einschlafen, obschon die Geschichte dieses Stückes weit zurück reicht: John Newton, der dieses Stück 1773 als Kirchenlied komponierte, kämpfte mit dieser Melodie bis zu seinem Tod für die Abschaffung der Sklaverei. Nun wagt sich Judy Collins mit ihren 75 Jahren auf die Bühne. Dass sie zu einem Urgestein der Musik geworden ist, sieht man ihrem weißen Lockenkopf gar nicht an.

Alte und junge Künstler mischen das musikalische Geschehen auf. Fünf Jahre weniger als Judy Collins zählt Udo Lindenberg, der mit seinem ausgestreckten Zeigefinger seine Fans im August in die Veltins-Arena nach Gelsenkirchen locken will. Gleich neben Udo Lindenberg laden die Rock-Opas von „The Who“ zum nächsten Open-Air-Konzert in der Oberhausener König-Pilsener-Arena ein.

Bei Damien Rice, Joe Satriani, JJ Grey oder Frank Turner endet mein Horizont zeitgemäßer Rockmusik. Mit ihren Namen weiß ich ganz und gar nichts anzufangen, so dass ich mich aufschlauen muss und in Youtube hinein hören muss. Damien Rice ist mir zu viel Pop, Joe Satriani zu viel Gitarre bei zu wenig Gesang. JJ Grey und Frank Turner laufen ebenso an meinem Musikgeschmack vorbei.

Der Überflug über die hiesige Musikszene verschwimmt auf der Plakatwand zu einem bunten Gemisch aus Strömungen und Zeiten. Auf der Freilichtbühne in Eschweiler vereinigen sich im August Nena, eine große italienische Operngala und Adel Tawil. In der Lanxess-Arena in Köln brechen im Dezember die Urzeiten der Zeitgeschichte an: die Kelten rocken – beziehungsweise die Musikgruppe Exkalibur singt eine „celtic rock opera“. Auf der Festung Ehrenbreitstein in Koblenz wagt man im August einen weiteren Griff in die Geschichte: mittelalterliche Klänge sind auf dem Funkenflug-Festival zu hören. Saltato Mortis heißt die Musikgruppe, ganz im Sinne der Wortbedeutung aus dem Lateinischen. Wie vergänglich das Leben ist, dazu kamen im 15. Jahrhundert in Frankreich Totentänze auf, was auf Lateinisch „saltato mortis“ heißt. Bestandteile dieser Totentänze dürfte in die mittelalterliche Klangwelten von Dudelsack, Schalmei, Sackpfeife, Fidel, Maultrommel, Harfe eingeflossen sein. Andere Stücke sind geprägt durch Elemente des Deutschrock mit E-Gitarre, E-Bass und Schlagzeug. So mancher Text trifft den Zeitgeist haargenau, so das Stück „Wachstum über alles“:

„Wie Pestilenz und Ungeziefer vermehrt sich unser Geld vom Zins. Stillstand heißt Tod - alles muss wachsen, wie die Marge des Gewinns.“

Die Zeit fehlt, mein Interesse hat nachgelassen, bis nach Gelsenkirchen, Oberhausen oder Koblenz durch die Gegend zu fahren, um das Musikerlebnis Live auf der Bühne mitverfolgen zu können. Die Musikszene fasziniert nichtsdestotrotz. So manches hat sich gewandelt. Einige Gruppen haben es von Youtube-Kanälen auf die Bühnen geschafft – so die Lochis. Der Trend zu Open Air ist größer geworden. Früher waren es Fußballstadien, in denen die Zuschauer noch durch eine Laufbahn vom Rasen getrennt waren, so dass die auftretenden Künstler in der Weite des Fußballstadions verflogen. Heute sind es intimere Orte, wie etwa der Kunstrasen in der Bonner Rheinaue.

Großveranstaltungshallen wie die Lanxess-Arena in Köln sind komfortabler geworden, die Vielfalt an kleinen Hallen ist enorm, fast so enorm, dass die Städte über Verlustbringer klagen, wenn diese nicht ausgelastet sind. Es sind auch wahre Schätze der Architektur dabei, wie das E-Werk in Köln-Mülheim. Alte Fabrikhallen des Elektro-Unternehmens Felten & Guillaume sind zu Konzertsälen umfunktioniert worden. Das fest rastende Ziegelmauerwerk aus der Gründerzeit lässt noch ein wenig von der Rastlosigkeit der Maschinen ahnen, die hier einst Schaltelemente zusammen gebaut haben. Neue Musikrichtungen, neue Veranstaltungshallen. Die Landkarte der hiesigen Musikszene unter der ganz banalen Autobahnunterführung läßt mich nicht mehr los.

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