der innere Schweinehund
Die Erkenntnis, dass Materie träge ist, kennt so mancher aus dem Physikunterricht. Das hatte nicht erst Newton mit seinen Gesetzen der Schwerkraft bewiesen. Materie als eine Urform, die es zu gestalten gilt, hatte Jahrtausende vorher Aristoteles beschrieben. Materie ist unselbstständig, sie muss in Werden und Vergehen überführt werden, sie muss agieren, damit die Natur sie in Wachstumspfade überführt. Die Trägheit, eine Aktion oder einen Impuls zu vermeiden, kann beharrlich sein. Wir kennen solche Verhaltensweisen nur allzu gut von uns selbst. Abends sacken wir in unseren Fernsehsessel zurück, unser Gehirn schalten wir auf den Berieselungsmodus um, jegliche Handlung bleibt im Versuchsstadium stecken.
Wozu sich aufraffen ? Meinungen werden vorgedacht, unsere humanistischen und demokratischen Prinzipien leben wir im Alltag mal mehr, mal weniger, mal gar nicht vor. Die Botschaften des inneren Schweinehundes sind im Sog von Flüchtlingsströmen aktueller denn je. Kräfte zerren an unserer Gesellschaft, um uns zu spalten. Unsere ethischen Wertgrundlagen drohen zu zerfließen wie die Flügel des Ikarus im Sonnenlicht, wenn wir nicht handeln.
innerer Schweinehund an der Museumsmeile
Wir blicken zurück auf den Herbst 1993. Eine Gruppe von einhundert Künstlern hatte sich im dänischen Odense zusammengefunden. Im Gegensatz zu anderen Künstlern, begriffen sie Kunst nicht als Selbstzweck. Sie schlossen sich ein, agierten aus dem Untergrund, um Anstöße zu erregen. Ihre Kunst sollte auf keinen Fall schön sein, wie etwa Gemälde der Impressionisten oder im Stil des Biedermeier, sondern sie sollte Elemente des Häßlichen beinhalten und Botschaften vermitteln.
Wie aus dem Nichts und ohne Vorankündigung, schlug in der ersten Novemberwoche des Jahres 1993 die dänische Künstlergruppe zu. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion wagte sie sich an die Öffentlichkeit. Ausgewählt hatte die Künstlergruppe zwanzig europäische Städte, denen sie symbolische Bedeutungen von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit zuschrieb. Aufgestellt auf einem Sockel, gehörten die Kleider auf der zwei Meter hohen Betonskulptur eindeutig zu einem Menschen, während sich die Gesichtszüge in den Charakter eines Schweines verwandelt hatten. Über Nacht hatte das Böse in Form eines Schweinehundes die Bewohner der Städte heimgesucht.
Wie böse er ist, kann man auf dem Sockel nachlesen: ART: Tier mit Instinkten niedrigster Art. WACHSTUMSBEDINGUNGEN: Wächst sich groß, wenn Menschen Opfer der Gewalt, der Erniedrigung und respektloser Verfahren werden. BETRAGEN: Greift die ethische Wertgrundlage des Menschen an, so dass Rassismus, Fremdenhass und Intoleranz die Übermacht bekommen. VERBREITUNG: Kann völlig die Macht über den einzelnen Menschen, über soziale Gruppen und im Extremfall über ganze Bevölkerungen nehmen.
Gesicht des inneren Schweinhundes
Die Künstler beglückten repräsentative Orte der Demokratie mit ihrem unangenehmen Gesellen. In Paris war es der Platz vor der Bastille, wo 1789 die französische Revolution losbrach, in Genf war es das UNO-Gebäude, in Oslo der Reichstag und so weiter. Behörden, Polizei, Bürgermeister ahnten nichts von der Aktion. Fernschreiben flatterten in die Büros und informierten die Verantwortlichen über die Aktion: das Leitmotiv „COGITO“ entwendeten die Künstler dem Aufklärer Descartes: „cogito ergo sum“, ich denke, also bin ich. Der innere Schweinehund sollte die Menschen anstoßen, sich aus der Komfortzone der Bequemlichkeit heraus zu bewegen, als mündigen Staatsbürger mit eigenem Denken und eigenem Verstand. Dabei dehnten sie den Begriff des inneren Schweinehundes sehr weit aus, indem sie Aufmerksamkeit schärfen wollten gegen zunehmende Gewalt, Rassismus und die Verfolgung von Minderheiten. Die Skulptur, ein Geschenk an die Städte, sollte mindestens vierzehn Tage lang in den Städten stehen bleiben.
Die Künstler warteten ab, wie die Städte mit dem inneren Schweinehund umgingen. Häßlich, unangenehm, in den eigenen Spiegel schauend, waren Bürger und Städte gezwungen, sich mit ihrem eigenen Selbstbild auseinander zu setzen. Einige Städte suchten die innere Konfrontation, andere lehnten sie ab. Es gab Städte, die übersahen ihren inneren Schweinehund regelrecht. Oder sie entsorgten ihn auf die Müllhalde des eigenen Gedächtnisses.
In Genf verschwand die Skulptur von einem Tag auf den anderen, wobei niemand wusste, wann genau, wie und wohin diese verschwand. In Antwerpen wurde die Skulptur entfernt und landete zeitweilig auf einem Lagerplatz. In Mailand befürchteten die Verantwortlichen gar einen Terroranschlag, so dass Experten die Skulptur auf Spuren von Sprengstoff untersuchten, was sich dann als Fehlalarm herausstellte.
innerer Schweinehund
Es gab aber auch Städte, die den inneren Schweinehund annahmen, so die damalige Bundeshauptstadt Bonn. Die Nacht neigte sich ihrem Ende zu, als am 8. November 1993 die Künstler aus Dänemark aktiv wurden. Genau um 4:08 Uhr morgens plazierten sie ihn vor der Kunst- und Ausstellungshalle der Bundesrepublik Deutschland. Außer dass die Skulptur so manche Neugierige anzog, tat sich danach nichts bemerkenswertes. Am 13. Dezember 1993 bestätigte das Kunstmuseum, dass die Skulptur, wie gewünscht, über den Vierzehntageszeitraum hinaus stehen geblieben sei. Nach sechs Wochen habe man sich entschlossen, diese seitwärts zur Bundesstraße B9 zu versetzen.
Eine Weile später, am 1. März 1994, hat die Skulptur sich abermals ein Stück vom Kunstmuseum wegbewegt. Seitdem verweilt sie, gut sichtbar für den Betrachter, vor dem Schwindel erregenden Kreisverkehr des Trajektknotens, der erst in den letzten Jahren entstanden ist. Als steinernes Mahnmal überblickt er die Museumsmeile. Mit geöffnetem Maul starrt er uns entgegen, mit unseren niederen Instinkten, unserer Passivität und unserer Handlungsunfähigkeit, uns aufzuraffen und den Gang der Dinge zu verändern. Er fleht uns an, dass alle Trägheit ein Ende nehmen solle.