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mit dem Rennrad nach Mehren / Westerwald


Es gibt Landstriche, die verschwimmen regelrecht auf der Landkarte. Die Konturen muss ich suchen, es gibt keine spektakulären Erhebungen, Flüsse und Täler schaffen keine natürlichen Begrenzungen, größere Städte fehlen, die Wildnis der Natur behält die Oberhand. Genauso dachten die Römer über die Gebiete jenseits des Rheins. Der Rhein markierte die Grenze römischen Staatsgebietes, dahinter begann die Wildnis, wo die Germanen hausten. Als die Legionen Cäsars bei Neuwied eine Holzbrücke über den Rhein bauten, waren die germanischen Volksstämme dermaßen verdutzt, dass sie in das Gebiet des heutigen Westerwaldes flohen. Sie verkrochen sich, die Errungenschaften der römischen Zivilisation erreichten sie nicht. Auch später taten sich die Errungenschaften der Zivilisation schwer, denn weite Gebiete des Westerwaldes lagen im Grenzgebiet zwischen den Kölner und Trierer Erzbischöfen. Die Grafen von Wied, Sayn und Diez murksten in kleinen Grafschaften vor sich hin, während Ottonen und Salier nach der Jahrtausendwende in großem Stil das Christentum durchsetzten, indem sie Grundbesitz an Kirchen stifteten. Aus dieser Zeit stammt auch diejenige Urkunde, die den Westerwald als Herrschaftsgebiet erstmals erwähnte. Das war die sogenannte Haigerer Urkunde aus dem Jahr 1048, die dieses Gebiet als Herrschaft westlich des Königshofes Herborn festlegte. Der germanische Volksstamm der Chatten hatte in diesem westlich gelegenen Landstrich gesiedelt. Die Festlegung, wo denn der Westerwald liegt, dehnte sich in den Folgejahrhunderten vom Kerngebiet im heutigen Hessen immer weiter nach Westen aus. Heute sind es die Flüsse, die den Westerwald umreissen, der Rhein im Westen, die Sieg im Norden, die Dill im Osten, die Lahn im Süden.

Auch ich definiere mich selbst gerne über Landschaften. Je rassiger die Steigungen, um so schöner ist das Spektakel, die Landschaften von einem höheren Standpunkt aus zu erleben. Je krasser das Auf und Ab, um so mehr fangen mich die Akzente der Landschaft ein. Ruhige Nebenstraßen beflügeln mich, eigene Radwege schaffen ein Zusatzerlebnis jenseits allen Autoverkehrs. Bei dieser Tour stelle ich fest, dass auch der Westerwald genau diese Kriterien erfüllt.

Ich beschließe, dass der Westerwald an der Landesgrenze zu Rheinland-Pfalz beginnt. Anfangs fahre ich dieselbe Route wie auf der Rennradtour nach Eitorf. Den Rhein entlang über Oberkassel, Königswinter, Rhöndorf nach Bad Honnef. Durch die Fußgängerzone, den Hinweisschildern in Richtung Ägidienberg folgend, durch das Schmelztal das Siebengebirge hinauf. An der großen Kreuzung in Bad Honnef-Rottbitze fahre ich links, hinter der Autobahnauffahrt auf die A3 gleiten die Erhebungen des Siebengebirges aus, dichter Wald kriecht bis auf einen freien Streifen an die Landstraße heran.

Wehrkirche in Kircheib

Gemächlich geht es weiter bergab, und in dem Ort Stockhausen, wo sich einzelne Häuser zaghaft an die Straße heran trauen, lächelt mir auf einem Straßenschild eine Durchschnittsfamilie mit Mama, Papa, Tochter und Sohn entgegen. „Willkommen in Rheinland-Pfalz – wir machen’s einfach“, so begrüßt mich auf dem Schild die Tochter, indem sie auf den Schultern ihres Vaters die Arme in den Himmel reißt.

Herzlicher hätte der Westerwald kaum beginnen können. Die Landschaft trägt ihren Teil dazu bei, indem sie in Wellen hinab fällt, durch viel Grün an versprenkelten Dörfern vorbei führt, bis Buchholz ein Stück ansteigt, dann wieder abfällt und zur Bundesstraße B8 hin in Kurven ein längeres Stück ansteigt. Ich biege nach rechts auf die Bundesstraße B8 ab. Das Schild „Landkreis Altenkirchen“ läßt mich in unbekanntere Tiefen des Westerwaldes eindringen.

Der erste Ort im Landkreis Altenkirchen, Kircheib, gibt ein chaotisches und uneinheitliches Bild ab. Die direkte Lage an der Bundesstraße B8 stößt mich ab. Kein Radweg, Auto reiht sich an Auto, LKW an LKW. Der Verkehr donnert vorbei an den Kolossen einer Fertighausausstellung, an existenzbedrohten Bauern, die als landwirtschaftliches Lohnunternehmen Fuß fassen wollen, an einer wüsten Parkerei vor einer Imbißbude und an einem Verkaufsbüro, dessen abenteuerliches Warenangebot von Futtermitteln bis zur Bild-Zeitung reicht.

Es geht aber auch anders in Kircheib. Der Ort liegt so abgelegen, dass sich die Einwohnerzahl über die Jahrhunderte kaum verändert hat. So hat sich die romanische Kirche aus dem 13. Jahrhundert in unsere Gegenwart hinein konserviert. Stil, Bauform, Fassade wirken wie aus einem Guß. Im Mittelalter gelegen in einer Art von Dreiländereck, kamen sich die Grafen von Berg, die Kölner Kurfürsten und die Grafen von Sayn gerne in die Quere. Eine Festung um die rund 300 Einwohner herum zu bauen, war vermessen und nicht zu bezahlen. Also musste die Kirche herhalten. Soldaten kletterten den Glockenturm hinauf, und die kleinen Rundbogenfenster dienten als Schießscharten, was die Soldaten auch eifrig nutzten. In Kircheib stritt man sich gerne darüber, wer den Wegezoll erheben durfte. Die heutige Bundesstraße B8 verlief über eine der Hauptrouten des europäischen Warenverkehrs, nämlich von Antwerpen nach Konstantinopel.

Westerwaldlandschaft vor Mehren

Rasch lasse ich die vom Verkehr umrauschte Bundesstraße hinter mir, indem ich noch vor dem Ortsausgangsschild nach rechts abbiege. Dahinter beweist mir der Straßenverlauf, dass die Konturen des Westerwaldes durchaus anspruchsvoll sind. Buchenwald drängelt sich mächtig bergauf auf die Erhebung des Leuscheid, so dass ich fast in den kleinsten Gang hinunter schalten muss. Und hinter dem Bergkamm purzele ich gleich wieder den Berg hinunter. Am Waldrand schaue ich hinunter auf diese Hochfläche, wo die Straße ziellos zwischen abgeernteten Feldern verläuft. Kurven schwingen sich auf und ab, Häuser markieren die Tallagen. Es gibt keine Zweifel, dass der Westerwald so seine Konturen hat, denn das Auf und Ab hält an bis zum Tal des Mehrbaches, wo ich Mehren erreiche. Bach und Ort waren gleichbedeutend, das steht jedenfalls in den Urkunden. 1265 nannten sich beide „Mirne“, 1274 „Merne“, 1359 „Merin“, 1430 „Meirren“, Ende des 15. Jahrhunderts „Miern“. Danach begannen sich Bach und Ort sprachlich zu trennen, doch der Westerwälder Dialekt, das „Wäller Platt“ will davon bis heute nichts wissen: Bach und Ort vereinigen sich in der Gegend „än de Mihr“. Das Wäller Platt kann auch böse sein, wenn Nachbarorte, die sich nicht grün sind, Mehren als „Mihedscher Loch“ bezeichnen.

Ich erkenne, dass ich die sprachlichen Grenzen des Rheinlandes nun überschritten habe. Ungefähr ab Kircheib befinde ich mich im Territorium der moselfränkischen Dialekte, die innerhalb des Westerwaldes vor allem durch das rollende „r“ geprägt sind. Dabei brauche ich keine Angst zu haben, mir wie im Englischen die Zunge zu verbiegen, denn im Wäller Platt wird das gutturale „r“ nur angedeutet.

Mehren sieht verschlafen aus und ist nicht auf Anhieb eine Touristenattraktion, wenngleich es mit einer Vielzahl von Fachwerkhäusern glänzen kann. So nennt sich Mehren stolz das schönste Fachwerkdorf des Westerwaldes. Die Denkmalschützer und der Verschönerungsverein haben Fakten geschaffen. Während anderenorts der Denkmalschutz systematisch unterlaufen wurde und die Abrißbirne kreiste, wurde 1996 der komplette Ortskern zur Denkmalschutzzone erklärt.

Fachwerkdorf Mehren

Ich bestaune, wie sehr sich Denkmalschützer und viele helfende Hände Mühe gegeben haben, einen homogenen Baukörper von Fachwerk in dem kleinen Ortskern zu erhalten. Alles schart sich um die Dorfkirche, die im 12. Jahrhundert aus Bruchsteinen als dreischiffige Basilika gebaut wurde. Der Kirchenbau ähnelt demjenigen von Kircheib, wobei die schwere Bruchsteinfassade mit den kleinen Rundbogenfenstern durchgängig die Kirche umgibt. Alleine der Fachwerkaufbau über dem Chor, der mit seinem spitzen Dach besonders hervor sticht, wurde im 18. Jahrhundert angebaut. Die Schule, ein repräsentativer Bau mit kleinen weißen Fensterchen, stammt noch aus der Zeit vor dem 30-jährigen Krieg, ebenso das Gefängnis gegenüber dem Schulgebäude. Die Wortbezeichnung „Bulles’je“ vermittelt mir tiefstes Wäller Platt, ganz weit weg von der Rheinischen Mundart. Die meisten Fachwerkbauten sind ehemalige Gehöfte und Handwerksbetriebe, Sägewerk, Zimmerei, Backhaus, Gerberei. Im „Eulerhaus“, erbaut 1720, wurde getöpfert. In Anlehnung an die Traditionen im Kannenbäckerland wurde grau-blau gemustertes Steinzeug hergestellt. Steinzeug und Krüge wurden im 18. Jahrhundert sogar an das britische Königshaus geliefert. Eine Freilichtbühne, die in verkleinerten Proportionen das antike Theater von Ephesos nachbildet, rundet das Ortsbild von Mehren ab.

Ich verlasse Mehren, indem ich dem Mehrbach abwärts folge und einen Kilometer später nach rechts abbiege. Rasch geht es steil bergauf, so dass ich fast auf den kleinsten Gang herunterschalten muss. In Kurven und Kehren windet sich die schmale Straße hinauf, wobei sich die Fachwerkhäuser noch ein Stück fortsetzen. Bisweilen ist der pure Familienstolz in den Fachwerkbalken über den Eingang eingeritzt „das Haus wurde erbaut anno 1719 durch Julius Lommler God schütze es vor Feuer und Sturm.“

Nebenstraße in Ziegenhain

Oben auf der Höhe angekommen, überblicke ich den Westerwald mit seinem buckeligen Relief. Die Nachsilbe „-wald“ hat dieser Landstrich hier weniger verdient, denn Wiesen und ganz viele Felder ziehen sich über Buckel und Hügel, während Waldstücke eher zarte Tupfer in der Landschaft darstellen. Zuerst waren es die Klöster im Mittelalter, die Flächen für Ackerbau und Viehzucht rodeten. Später verschlang die Eisenerzeugung im Siegerland enorme Mengen an Holzkohle, um Schmelzöfen und Eisenhütten zu befeuern.

Der Kahlschlag schuf Ackerfläche, aber dennoch verarmte der Westerwald, als sich im 19. Jahrhundert Missernten und Hungersnöte ausbreiteten. Schnee lag bis in den Mai hinein, den Sommer über regnete es ununterbrochen, und an Klimaerwärmung dachte noch niemand. Der Preußische Staat, der nach 1815 im Rheinland das Sagen hatte, reagierte zwar und schickte Brot, Weizen und Mehl in die Notstandsgebiete. Doch ähnlich wie bei Spenden in Katastrophengebiete der Dritten Welt, kam es zu Verteilungsproblemen oder die Hilfeleistungen versickerten in dunklen Kanälen.

In diesen Zeiten höchster Not verbündete sich die Bevölkerung, und so kommt in diesen Teilen des Westerwaldes niemand an der Geschichte des Friedrich Wilhelm Raiffeisen vorbei. Eines vorweg: gewisse Marketing-Konzepte versuchen, die Idee des Genossenschaftswesens gleichzusetzen mit Volksbanken und Raiffeisenbanken. Das eine hängt vom anderen ab, doch das ist aber nur die halbe Wahrheit.

Sein Wirken begann ganz anderswo, im Landkreis Mayen in der Eifel, bis er 1845 Bürgermeister von Weyerbusch wurde, das liegt ein Stück weiter in Richtung Altenkirchen. Das Christentum – namentlich die evangelische Konfession wie im übrigen Westerwald - prägte seine Grundeinstellung, so dass er ein offenes Ohr hatte für die Nöte und Sorgen seiner Bürger. Er half, wo er konnte, wobei er anfangs das Schulwesen aufbaute sowie das Straßennetz.

Dem Wirken des Friedrich Wilhelm Raiffeisen bin ich bereits in Mehren begegnet. Als Bürgermeister von Weyerbusch suchte er die Profitgier einzelner zu unterbinden, die sich an der Not der Armen bereicherten. Das Dach des Kirchturms wurde neu gedeckt, wobei das Blei der alten Dachdeckung verkauft wurde. Raiffeisen setzte durch, dass Getreide und Saatkartoffeln aus dem Verkaufserlös gekauft wurden anstatt dass dieses Geld in irgendwelchen Geldtöpfen der Kirche verschwand. Etliche Kilometer radele ich auf „Raiffeisens Weg“, der mich auf diesem Stück bis nach Flammersfeld führt. Ziegenhain ist die nächste Etappe auf den Spuren des Friedrich Wilhelm Raiffeisen. Auf der schmalen, kaum befahrenen Nebenstraße schlängele ich mich über die Höhen und atme die Ruhe des Westerwaldes ein. Tannen schieben sich über die Straße wie ein schützendes Dach, die Häuser zerstreuen sich hinter sorgsam gepflegten Vorgärten.

Raiffeisenhaus in Flammersfeld

In Ziegenhain ähnelten die Wohltaten des Friedrich Wilhelm Raiffeisen denjenigen in Mehren. Betriebswirtschaftlich würde man dies so formulieren: das Prinzip der Gewinnmaximierung wurde aufgehoben, anstatt dessen schuf er Verteilungsmechanismen, dass der Nutzen und der Gewinn einzelner der Gesellschaft zugute kamen. So wanderten in Ziegenhain Holzerträge aus der Forstwirtschaft in eine Gemeinschaftskasse, damit Wohlhabende wirklich Notleidenden Hilfe leisten sollten.

Anfangs waren es Hilfsvereine, Brotvereine, Wohltätigkeitsvereine, die dem Genossenschaftswesen vorgelagert waren. Die Vereine breiteten sich in der Altenkirchener Gegend aus, sie hatten keine Satzung, sie sahen ihre Basis in Treue und Glauben gegenüber der Gemeinschaft, das Prinzip der Verantwortung hatte Vorrang vor jeglichem Gewinnstreben.

Hinter Ziegenhain geht der Wechsel von Auf und Ab weiter. Mit einem mächtigen Schwung stürzt die Straße in das Tal des Ahlbachs hinunter. Im Tal folge ich links der Beschilderung nach Flammersfeld, wo die Straße in einem Hohlweg steil geradeaus weist. Alsbald erreiche ich auf der Höhe die Bundesstraße B256, die Bewaldung ist freiem Feld gewichen, rundum erstreckt sich wellenförmig eine geschwungene Hochfläche. Wen wundert es, dass auch bei der Bundesstraße B256 Friedrich Wilhelm Raiffeisen mitgemischt hatte. Dementsprechend nennt sich die Bundesstraße B256 auf diesem Abschnitt bis nach Neuwied „historische Raiffeisenstraße“.

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts setzte der Preußische Staat einerseits gesellschaftliche und wirtschaftliche Reformen um. Die Bauern wurden für frei erklärt, Frondienste und Leibeigenschaft wurden abgeschafft. Andererseits beanspruchten Adel und Feudalherren Besitzrechte. Steuern, Abgaben und die Pacht drückten wie eine Last auf die Ernteerträge. So waren die Bauern nicht wirklich frei, sondern finanziell abhängig vom Adel und den Feudalherren. So wurden Straßen in einer abgewandelten Form von Fronarbeit durch die Arbeitskraft der Einwohner gebaut und instandgehalten. Dies änderte Friedrich Wilhelm Raiffeisen. Als Sozialreformer setzte er durch, dass die Bevölkerung für ihre Straßenbauarbeiten bezahlt wurde.

Ortskern von Oberlahr

Sieben bis acht Kilometer geht es nun auf einem eigenen Radweg auf der linken Straßenseite nach Flammersfeld, einem weiteren zentralen Ort innerhalb der relativ kurzen Schaffensperiode von Friedrich Wilhelm Raiffeisen. 1848 wurde er hier in Flammersfeld Bürgermeister, 1852 wurde er nach Heddesdorf, das heute zu Neuwied gehört, versetzt. 1865 wurde er mit 47 Jahren schließlich Frührentner, weil er sich an einer Typhuserkrankung angesteckt hatte und dabei fast erblindete.

So richtig finde ich nichts, um in Flammersfeld eine Pause einzulegen. Einige Gaststätten entlang der Bundesstraße B256 sehen dunkel und verschlossen aus. Der Autoverkehr rauscht. Der Ortskern, aus dem der spitze Kirchturm herausragt, der romanischen Ursprungs ist, gleitet linkerhand in die Hanglage hinunter. Dicht an der Straße plaziert sich das Gemeindehaus, das mich auf einer Hinweistafel herzlich willkommen heißt und zu einer Pause einlädt, Stühle und Tische sind aber hoch geklappt. Ich schiebe mein Rennrad über den Rasen, ein Tor im Jägerzaun steht offen, und prompt bin ich an einem schmucken Fachwerkbau angelangt, vor dem stolz und überdimensional das Logo der Volksbanken und Raiffeisenbanken prangert. Es scheint so, als wäre ich in der Urzelle aller Bankgeschäfte angekommen, nur der Geldautomat fehlt noch zwischen den Gefachen des Fachwerkbaus.

Dieses Rathaus war die Wirkungsstätte des Friedrich Wilhelm Raiffeisen während seiner Zeit als Bürgermeister in Flammersfeld. Als Frührentner widmete er sich intensiv dem Genossenschaftswesen. Sein Buch „Die Darlehenskassen als Mittel zur Abhilfe der Noth der ländlichen sowie auch der städtischen Handwerker und Arbeiter“ erschien 1866. Es war eine Art von Blaupause für den Aufbau von Selbsthilfeorganisationen. Danach breitete sich das Genossenschaftswesen aus als Konsum-, Verkaufs-, Winzer-, Molkerei-, Viehgenossenschaften oder auch im Banken- und Versicherungswesen.

Alvenslebenstollen

Über die Bundesstraße B256 verlasse ich Flammersfeld wieder. In Kurven geht es mächtig bergab ins Tal der Wied, die die Bundesstraße zunächst überquert. Dann biege ich rechts ab auf die Landstraße, deren Verlauf ich vorbei an einem Fitness-Center und an einem Wellness-Hotel folge. Nach einer Rechtskurve überquere ich abermals die Wied, wo ich nach Oberlahr gelange und an der Hauptstraße nach rechts zum Ortskern abbiege. Obschon es bergauf geht, lohnt der Abstecher, denn der großzügige Dorfplatz mit der neugotischen Kirche und einigen heraus geputzten Fachwerkhäusern steckt voller Charme und Gemütlichkeit. Einzig fehlt es an einer Lokalität, damit ich mir endlich eine Ruhepause gönnen kann.

Eine Hinweistafel vor der Kirche klärt mich auf, dass bis zur Jahrhundertwende um 1900 Erzbergwerke das Wiedtal geprägt haben. Danach wurde die Erzförderung wegen zu geringer Fördermengen eingestellt, doch Kriege hielten den Erzabbau am Leben. Zuerst wurde 1917 in den Schächten wieder nach Erz gegraben, dann trieben die Nationalsozialisten mit Hochdruck den Erzabbau voran, bis sie 1941 erkennen mussten, dass nicht allzu viele verwertbare Erze zu holen waren und schlossen die Gruben wieder.

Also radele ich weiter, zurück auf die Landstraße an das Ortsende von Oberlahr. Dahinter biege ich nach links ab und folge der Fahrradbeschilderung auf den Wiedtalradweg. Mit Radwegen entlang von Flüssen und Flußtälern habe ich unterschiedliche Erfahrungen gemacht. Diesmal sollte sich die Fahrt entlang dieses Radweges als Fehler herausstellen, denn der schmale Fahrweg über die alte Eisenbahntrasse, die 1966 stillgelegt wurde, ist zwar gut befestigt, aber nicht geteert. Tage des Regens hatten den Schotter aufgeweicht, so dass sich meine Rennradbereifung durch eine glitschige Oberfläche von Matsch hindurch quälen muss. Es geht voran, aber mehr im Schneckentempo. Selbst die historische Hinterlassenschaft des Alvenslebensstollens kann meine Neugierde nicht erwecken. In Burglahr offenbart sich dann eine andere Hinterlist des Wiedtalradwegs. Endlich ein geteerter Weg auf festem Untergrund, so denke ich. Nachdem ich nach links abgebogen bin, gruppieren sich Häuser um die breite Fahrbahn, die zunächst ein kleines Stück bergaufwärts wandert, dann wird der Anstieg immer strammer. Ich bin genervt, als der Anstieg einfach nicht aufhören will. Mächtig komme ich ins Schwitzen, bis ich auf der Höhe all die Lahrer Herrlichkeit überblicke, so wie das Herrschaftsgebilde der Orte Oberlahr, Burglahr und Peterslahr zusammengefasst wird. Dabei gibt der Straßenname „Kur-Kölner-Straße“ den eindeutigen Hinweis, dass die Lahrer Herrlichkeit lange Zeit den Kölner Kurfürsten gehört hatte.

Heiliger Nepomuk in Peterslahr vor der Kirche St. Peter

Endlich geht es bergab nach Peterslahr, das sich in einer gewissen Logik der Lahrer Herrlichkeit Niederlahr nannte. Das war bis 1556, als Niederlahr wiedabwärts unterhalb von Oberlahr lag. 1556 gelangte dann eine Reliquie des Heiligen Petrus, angeblich der Knochen eines Kinns, nach Niederlahr, und fortan nannte sich der Ort „Peterslahr“. Der Kirche mit ihrem vielschichtigen Bruchsteinmauerwerk und dem sperrigen, verbauten Baukörper strömt in der Tat Ruhe, Besinnlichkeit, Bodenständigkeit, Entspannung aus. Ich bin ein wenig überrascht, dass ich nicht den Kirchenheiligen Petrus entdecke, sondern auf einer Steinmauer vor der Kirchenfassade den Brücken-Heiligen Nepomuk, dabei ist die Wied noch ein ganzes Stück entfernt. Eines der Fachwerkhäuser auf dem schönen, mit Bäumen bestandenen Dorfplatz ist noch vor der Franzosenzeit entstanden, das belegt die Jahreszahl 1742 über dem Eingang.

Ich drehe mich wieder aus Peterslahr zurück, wende zur Landstraße, muss aber sogleich wieder den Berg hinauf treten, da die Wied eine vom Dorf abgewandte Schleife zieht. Gefühlt muss ich bestimmt an die fünf bis sieben Prozent Steigung den Berg hinauf kraxeln, wo es dann rasch mit demselben Gefälle wieder bergabwärts geht.

Nun entwickelt sich die Tour gemütlich und allzu große Steigungen – abseits des Wiedtalradweges, den ich bewusst meide. Wiesen dehnen sich im Tal, Kurven winden sich um Felspartien, Überreste von Brückenpfeilern markieren die frühere Eisenbahntrasse. Selbst der Autoverkehr hält sich vorsichtig zurück.

Neustadt an der Wied soll dann der Ort sein, in dem die lang ersehnte Pause fällig sein soll. Doch die Suche gestaltet sich schwierig. Ich kann nicht einschätzen, ob das Hotel an der Straßenecke geöffnet hat, denn auf der Terrasse sitzt niemand. Das Eiscafé auf der Hauptstraße wirkt wenig einladend, da mir all die quadratischen Sitzgruppen in dem saalartigen Innenraum einfach nicht gefallen. Das Eiscafé scheint zudem eine der wenigen Lokalitäten zu sein, die geöffnet hat, denn dort ist es rappelvoll. Eine geschlossene Pizzeria, eine Bäckerei, das ist es ansonsten auf der Hauptstraße.

Steinlehrpfad in Neustadt a.d. Wied

Notgedrungen bewege ich mich zum Park an der Wied. Vor der Wiedbrücke biege ich nach links ab, ich hocke mich auf eine der Parkbänke und schütte ordentlich Mineralwasser in mich hinein. Als ich meine Beine in die Länge strecke, bemerke ich in dem ansonsten an Höhepunkten so armen Neustadt an der Wied dann doch etwas, was meine Aufmerksamkeit in Gang bringt. Auf einem Steinlehrpfad hat man Gesteinsbrocken aus der Westerwälder Umgebung zusammen getragen, man hat sie sorgfältig beschriftet, so dass ich Herkunft, Alter, Entstehung und Besonderheiten studieren kann. Ungefähr alle zehn Meter kommt ein neuer Steinkoloss, und bis zur Holzbrücke über die Wied bin ich an jede Menge Tonsteine, Sandsteine, Grauwacken, Basalte, Quarziten und vielen Erklärungstafeln vorbei geradelt, zu denen mir die Zeit fehlt, sie alle zu lesen.

Ab hier ist der Wiedtalradweg so schön, wie ich ihn vor einem Jahr kennen gelernt habe. Es geht über die alte Bahntrasse, wo 1912 einige Kilometer in der entgegengesetzten Richtung der Bahnhof in Neustadt an der Wied eröffnet wurde. Eichen und Buchen spannen in Hanglage ihr schützendes Dach über den Radweg. Nach zwei Kilometern endet der Bahntrassenradweg, ein Stück fahre ich über die Landstraße L255 durch Wiedmühle, wo die Brücken von Autobahn und ICE-Trasse in luftiger Höhe über mir zu schweben scheinen.

Kurz darauf gabelt sich die Landstraße. Schon etwas ermattet, weist mich an der Gabelung meine sportliche Ambition des Rennradfahrens in die richtige Richtung. Mit 10% Steigung geht es halbrechts bergauf. Serpentinen schwingen sich die Höhe hinauf, und genau in diesem Moment tröpfelt es leise. Der Himmel hatte sich während meiner gesamten Tour bedeckt, doch die zähe Wolkendecke hatte dichtgehalten. Ich ächze, krächze, quäle mich Kurve um Kurve hinauf. Die Steigung drückt mein Tempo, Tritt für Tritt krieche ich voran, während der Himmel von oben seine Schleusen öffnet. Der Regen fällt und hüllt mich ein in ein feines und dicht versponnenes Netz. In meinem Gesicht vermischt sich der Schweiß mit dem Regen zu feingliedrigen Rinnsalen.

Die Logik ist verquer. Ich stelle fest, dass Regen und 10% Steigung zusammen passen. Die Nässe von oben gleicht meine Anstrengung aus. Die Steigung ist hinterhältig. Wenn die Straße einen Punkt gefunden hat, dass es den Berg hinunter geht, steigt sie direkt anschließend in einer Art von Kopiervorgang mit derselben Unerbittlichkeit wieder den Berg hoch. So komme ich kaum zum Atemholen. Es scheint so, als würde alleine der Regen eine letzte Reserve von Abenteuerlust aus mir heraus holen. Allen Widrigkeiten trotze ich, indem ich auf die alte Radfahrerweisheit vertraue: der Mensch an sich ist wasserdicht !

Gleichgültig spannen sich Strommasten in das düstere Himmelsgrau hinein, gänzlich unbeeindruckt von dem wuchtigen Flachbau einer Maschinenbaufabrik, die sich zwischen Wiesen und freistehenden Einfamilienhäusern verirrt, einsam und alleine. Dem Anstieg und dem Regen, der kein Einsehen haben will, widerstehe ich in auch St. Katharinen. Teilnahmslos gleitet der gotische Chor des Kirchenbaus, dem ich ansonsten mehr Aufmerksamkeit geschenkt hätte, an mir vorbei.

Am Ortsende von St. Katharinen biege ich schließlich nach links ab, nach einem Kilometer wieder rechts in Richtung Linz. Dann ist es geschafft. Während sich schwere Regenwolken auf den Sendemast des SWR herab senken, reißt der Himmel vor mir auf. Ein heller Streifen spannt sich über dem Rheintal auf, Flecken mit dem Farbenspektrum der Eifellandschaft gewinnen auf der gegenüberliegenden Rheinseite an Leuchtkraft.

strömender Regen zwischen Neustadt a.d. Wied und Linz

Ich muss aufpassen. Die Regentropfen werden spärlicher. Mit 13% Gefälle schießt die Landstraße ins Tal hinunter. Die Fahrbahn ist regennass, das Gefälle beansprucht meine Bremsen aufs Äußerste, und ich muss aufpassen, dass sie greifen, dass ich nur soviel an Fahrt aufnehme, um zu reagieren. Als ich Linz erreiche, fühle ich mich erlöst von diesem Übermaß an Steigungen.

Gemütlich lasse ich mein Rennrad in der Fußgängerzone ausrollen, bis mir der Marktplatz einen gemütlichen Rahmen für eine Pause bietet. Zwei Pils löschen meinen Durst, all die Steigungen schüttele ich von meinen Beinen. Sogar die Sonne, die Wolken und Regen verscheucht hat, lacht wieder. Das Rathaus zeigt stolz seine markanten rot-weißen Fensterläden, vor mir bummeln die Passanten vor sich hin, schauen hier, schauen da, studieren Speise- und Getränkekarten, lassen sich in dem einen oder anderen Café nieder. Ich schaue hier, schaue da, lasse die Zeit vorbei streichen.

Nachdem die Pause mich wieder fit gemacht hat, geht es weiter. Aus der Fußgängerzone hinaus, halte ich mich in Richtung Erpel, Unkel und Bad Honnef. So wie auf der Tour quer durch das Siebengebirge. Auf demselben Weg den Rhein entlang geht es zurück zum Alten Zoll

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